Berlinale 2009, 5. bis 15. Februar
von Harald Mühlbeyer
Über 270.000 verkaufte Kinokarten auf der diesjährigen Berlinale, das ist neuer Rekord. In 1238 Vorführungen wurden 383 Filme gezeigt – das macht pro Film ca. 218 verkaufte Tickets; dazu kommen 20.000 Akkreditierte, die ebenfalls in die Säle strömen. Und da es hier um Durchschnittszahlen geht, kann man sich vorstellen, welch ein Gedränge es manchmal im Einlassbereich gab.
Lag es an dieser Überforderung, dass sich manche der Berlinale-Mitarbeiter unfreundlich, nein unwirsch, nein aggressiv, nein feindselig verhielten? Der Name von Frau Binder sei hier gar nicht erwähnt, doch diese Dame, Panorama-Mitarbeiterin im Cinestar 7, ist symptomatisch für die Gereiztheit, die einem immer mal wieder entgegenschlug. Dabei war die Frage nach dem seltsamen Einlassmodus ganz freundlich gestellt, und sie zielte ja auch nur auf den organisatorisch-technischen Vorgang: warum in einem Kino mit zwei Eingangstüren nur eine geöffnet wird, für die Kaufkartenbesitzer; die Akkreditierten vor der anderen Tür aber warten mussten; wo doch ein gleichzeitiger Einlass logischerweise viel schneller vonstatten gegangen wäre, und sich also die Menschentraube im Cinestar viel schneller aufgelöst hätte. Aber nicht mit Frau B.! Fragen, gar eine, die ihre Kompetenz im Einlassbereich anzuzweifeln geeignet wäre – da geht sie wie eine Furie dazwischen! Und hätte mich fast wieder rausgeschmissen.
Dann hätte ich nicht WHEN YOU’RE STRANGE sehen können, Tom DiCillos Dokumentarfilm über die Doors, der ganz aus zeitgenössischem Film-, Foto- und Audiomaterial zusammengestellt ist – plus des ordnenden Voice-Over-Kommentars von DiCillo selbst (der freilich demnächst durch eine von Johnny Depp gesprochene Version ersetzt werden soll). In seltenen, bisweilen obskuren, meist ganz fantastischen und ungesehenen Filmclips von Privat-, Konzert- und Backstageaufnahmen verfolgt er die Geschichte einer der einflussreichsten, populärsten und besten Bands überhaupt. Bis zum Tod von Jim Morrison 1971. Gerahmt wird sein Film durch Ausschnitte aus Morrisons 50minütigem Film HWY – AN AMERICAN PASTORAL von 1969.
Tom DiCillo erklärte vor der Vorführung, sein Film werde die Doors-Fans im Publikum vielleicht etwas vor den Kopf stoßen, weil er den Mythos um die Band und ihren charismatischen und im genau richtigen Alter von 27 Jahren verstorbenen Frontman aufbreche. Was WHEN YOU’RE STRANGE freilich nicht leistet. Das meiste, was darin vorkommt, war schon zuvor in fiktionalisierter Form in Oliver Stones DOORS-Film zu sehen, der mit den Mitteln der Hyperstilisierung, der semiotischen Hypertrophie ziemlich genau hineinstößt in die Aura, die die Doors um sich selbst herum gebildet haben. Tote Tiere auf dem Highway: ein Motiv, das mitten in der Schnittmenge von Morrison-Mythos und Stone-Stil liegt.
Vom Stone-Film allerdings will DiCillo nur drei Minuten gesehen haben, länger habe er es nicht ausgehalten. Und irgendwie hielt er auch im Q&A nach der Filmvorführung einige Fragen nicht aus – hat ihn die Gereiztheit von Frau B. angesteckt? Auf die Frage aus dem Publikum, wie der Film nun weiter vertrieben werde, antwortete er sehr schnippisch, gar höhnisch, dass dies ja wohl kaum die einzige Vorführung sein werde. Empfindlich reagierte er auch auf den Hinweis, dass die offizielle Bandgeschichte ja eigentlich nicht mit dem Tod Morrisons geendet habe; die verbliebenen Bandmitglieder Manzarek, Krieger und Densmore haben schließlich als The Doors noch zwei weitere Alben herausgebracht: „Other Voices“ (1971) und „Full Circle“ (1972). Was ja, wenn es um die Demythologisierung der Doors geht, auch eine Erwähnung wert gewesen wäre.
DiCillo jedenfalls findet es eine ausreichende Aushöhlung der von ihm behaupteten allfälligen Doors-Vergötterung, wenn in seiner Doku deutlich gesagt wird, dass „Light My Fire“ aus der Feder von Robby Krieger stammt und nicht von Morrison (was halt inzwischen doch ein weithin bekannter Fakt ist; hätte er doch Oliver Stone etwas länger zugesehen!), und wenn er das Audiomaterial des legendären Miami-Konzerts von 1969 (bei dem sich Morrison angeblich entblößt haben soll) benutzt. Da hat einer inmitten des Chaos’ auf der Bühne dem offenbar betrunkenen Morrison ein Lamm in die Arme gelegt, was der sogleich kommentierte: „I’d fuck her, but she’s to young.“ Was allerdings eigentlich nur beweist, dass Morrison exzessiv war und einem verdrehten Sinn für Humor hatte (siehe auch das „Hitler Poem“, das offiziell veröffentlicht wurde). Und damit eben gerade wiederum den Morrison-Mythos zwischen Heiligem und Hurenbock zementiert.
Das alles freilich ist eher die Fehlinterpretation des Regisseurs über seinen eigenen Film, vielleicht auch eine PR-Masche. Abgesehen davon – denn zum Glück wird ja Tom DiCillo nicht bei allen künftigen Filmvorführungen anwesend sein – hat WHEN YOU’RE STRANGE seinen ganz eigenen Wert, der ihm nicht genommen werden kann.
Sehr seltsam drauf war auch Catherine Breillat. Die hat mit BARBE BLEUE eine Version des Blaubart-Märchens ins Panorama gebracht. Ein eher dröger Film, in dem zwei Mädchen, Schwestern, auf dem Dachboden sich das Märchen erzählen, das dann in der zweiten Filmebene zu sehen ist – mit anderen, älteren Schwestern. Wobei der Dilettantismus der Inszenierung (dass bei einer Flucht den Burgturm hinauf immer, immer, immer dasselbe Stück Treppe zu sehen ist, zum Beispiel) kaum damit erklärt werden kann, dass alles ja nur die kindliche Vorstellung märchenbegeisterter Achtjähriger sei.
Bei Breillat geht es immer wieder um das Verhältnis von Schwestern zueinander ebenso wie um die Entdeckung der Sexualität. Doch letzteres geht in diesem Film nie über das hinaus, was eh subtil schon im Märchen vorhanden ist – die Begierde des alten Grafen für junge Mädchen, die Symbolik des blutverschmierten Schlüssels, die Leichen der geschändeten vorherigen Ehefrauen etc. Und was die schwesterliche Hassliebe angeht: am Ende fällt in BARBE BLEUE plötzlich das eine Mädchen eine Falltüre runter und ist tot. Einfach so.
Breillat hatte eine Fußverletzung, musste gestützt werden, als sie die Bühne vor der Leinwand betrat. Auf die Fragen antwortete sie einsilbig. Warum denn die Schwester sterben müsse? Och, ich finde es immer gut, wenn am Ende jemand stirbt. Der enthauptete Blaubart und seine siegreiche Witwe, das ist doch die biblische Judit, die König Holofernes enthauptet? Ach, das Bild finde ich ganz gut.
Und zu jeder ihre Antworten kicherte sie unbändig, als wäre sie die Königin der Witzigkeit. Als wäre sie high. Hat sie zu viele (oder die falschen) Schmerzmittel für ihr Bein genommen?
Ansonsten war die diesjährige Berlinale ziemlich stressfrei. Kein Film war dermaßen schlecht, dass man an Kosslick und der Welt hätte verzweifeln müssen. Im Gegenteil: es gab etliche sehr gute und damit auch im Kinomarathonlauf entspannende und erholsame Filme. Denn: Nicht nur im Panorama, auch in der Berlinale-Special-Reihe und sogar im Wettbewerb waren einige (und das kann nicht genug gewürdigt werden) Komödien!
Womit nicht nur der diesjährige Hollywoodstar-Blockbuster-PR-Marketing-Außer Konkurrenz-Wettbewerbsbeitrag PINK PANTHER 2 gemeint ist; mit dessen Titelnummerierung im übrigen natürlich nicht der zweite Pink Panther-Film, sondern der zweite Pink Panther Film mit Steve Martin gemeint ist; und der tatsächlich lustig ist, so wie auch der erste lustig war – weil Martin nicht versucht, Sellers zu imitieren, sondern seine eigenen Slapstick-Routinen (er selbst nennt es lieber „visual comedy“) abliefert, und das sehr gut und sehr professionell und damit überaus stimmig für einen albernen Klamaukfilm der oberen Preisklasse. Na sicher: Regisseur Harald Zwart hätte das alles noch viel weiter pushen können, hätte noch mehr mit den Erwartungen des Publikums spielen können, was wohl als nächstes schief geht – wobei in dieser Hinsicht die Szene im spanischen Restaurant „Plata de Nada“ in Rom durchaus meisterhaft inszeniert ist –, hätte auch noch viel mehr mit dem (aus MURDER BY DEATH a.k.a. EINE LEICHE ZUM DESSERT geklauten) Motiv internationaler Spitzendetektive machen können, die zusammen mit Clouseau allerlei Weltkulturerbstücke wiederbeschaffen müssen. Aber andererseits muss man ja für einen eventuellen dritten Teil noch steigerungsfähig sein.
Wie allergisch manche Kritiker reagieren, wenn’s plötzlich komisch (= lustig und seltsam) wird, zeigten die Pressevorführungen von François Ozons RICKY. Ein Film freilich, der seine volle Wirkung nur im jungfräulichen Zustand erreichen kann, wenn noch niemand irgendetwas über ihn weiß, ein Zustand, der nach der Berlinale-Vorführung nicht mehr erreicht werden kann, weil zuviel schon über den Film geschrieben wurde und über den unglaublichen Twist, den Ozon inmitten seiner Erzählung vornimmt.
Ozon beginnt als Sozialdrama einer Frau, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommt, die gar ihr Jüngstes, ein Baby noch, zu Pflegeeltern geben kann: ihr Liebhaber ist auf und davon, nun wachsen ihr Arbeit und die Kinder (neben dem Baby noch die Siebenjährige) über den Kopf. Rückblende. Katie, alleinerziehende Mutter, wird von Tochter Lisa geweckt, die auch das Frühstück macht und die Mutter dann zur Arbeit schickt. Dort begegnet Katie Paco, ein Quickie auf der Toilette, und dann geht alles recht schnell: Paco zieht bei ihr ein, Katie wird wieder schwanger, Ricky wird geboren. Lisa fühlt sich zur Seite gedrängt, Paco ist überfordert, die Mutter ganz babyfixiert. Immer wieder gibt es Streit in der viel zu kleinen Wohnung im Plattenbau; und dann entdeckt Katie blaue Flecken auf Rickys Rücken. Ihr Verdacht, der Vater habe ihr Baby geschlagen, treibt Paco in die Flucht. Und hier nun wird es – ja, was? Absurd? Spirituell? Metaphorisch? Märchenhaft? Oder schlicht komisch?
Ozon hat sich, das stellt sich jetzt heraus, höchst effektiv bemüht, die ganze erste Dreiviertelstunde zu einem riesigen Roten Hering aufzubauen, zu einer falschen Fährte, die die Zuschauererwartungen in ganz bestimmte Richtungen lenken soll. Dabei arbeitet Ozon geschickt mit allen Zutaten des sozialen Prekariatsdramas, inklusive gelegentlichen Perspektivwechseln zu Lisa, der Tochter, aus deren Sicht dann immer wieder das Abstrampeln der Mutter in ihrem Alltagsleben, die Neuordnung der Familie nach dem Einzug von Paco, vor allem nach der Ankunft von Ricky erzählt werden. Und dann - - - und dann - - - dann fängt der Spoiler in diesem Text an, der Teil des Films, den keiner im Voraus wissen sollte, der aber sicherlich nicht nur nach der Berlinalevorführung, sondern auch wieder vor dem Kinostart allüberall genannt werden wird. Weil es eigentlich auch gar nicht anders geht, wenn man über diesen Film berichten will, denn was folgt, ist der eigentliche, der wahre Kern von RICKY, eine ganz außergewöhnliche und außergewöhnlich originelle Wendung, denn Ricky, das Baby, wurde, wie sich herausstellt, nicht geschlagen, sondern die blauen Flecken auf seinen Schulterblättern sind die ersten Anzeichen dafür, dass dem Kleinen nun – Flügel wachsen. Wie beim Zahnen stoßen kleine Buckel aus seinem Rücken hervor, aus denen sich kleine Schwingen entfalten, die aussehen wie gerupfte Hühnerflügel, mit denen Ricky auch erstmal gar nicht zurechtkommt, so wie es auch ist, wenn kleine Kinder laufen lernen; an die sich auch erst Katie und Lisa gewöhnen müssen (wie groß ist ihr Erschrecken, als Ricky plötzlich oben auf dem Schrank sitzt!). Doch die Familie kann sich anpassen. Nachts bekommt Ricky eine Decke über sein Gitterbettchen gespannt, damit er nicht wegfliegen kann, und ansonsten wird nach außen geschwiegen. Dass Ricky anders ist, heißt nicht, dass er nicht geliebt würde und beschützt vor sensationslüsternen Massen, die sich auf diesen Freak (denn die Flügel sehen beileibe nicht engelsgleich aus) stürzen würden.
Ozon spielt mit dem Zuschauer, und er spielt mit dem Kitsch, und er spielt mit dem Witz, den seine Idee heraufbeschwört. Wird auch gerne ganz albern, bei einem Ausflug der Familie in den Supermarkt etwa („Ich will auch ein ferngesteuertes Baby!“).
Am Ende lässt der Film alles offen. Ob er einfach ein Märchen erzählt. Ob es sich vielleicht um eine Imagination, einen Wunsch, eine Traumerzählung handelt – vielleicht von Lisa, oder von Katie? Oder ob nicht doch alles allegorisch gemeint ist, als Glücks- oder Todes- oder Irgendwassymbolik. Wenn einige der Damen und Herren Kritiker, die nicht mit der nötigen geistigen Flexibilität ausgestattet sind, um einer zuvor nie gesehenen Wendung zu folgen, um sich auch einmal willig vom Regisseur verarschen zu lassen, wenn diese Kritiker nicht den Saal vorzeitig verlassen hätten, dann hätten sie immerhin etwas zu interpretieren gehabt; was ja ihre Lieblingsbeschäftigung ist.
Dabei beherzigt Ozon nur, was ohnehin jeder Filmemacher beherzigen sollte. Ein Film, ein anspruchsvoller Film, der nicht nur für den Moment geschaffen ist, sollte nämlich nicht direkt auf eine Aussage zielen. Er sollte kein Pamphlet sein, das eine soziale oder politische oder sonstige Botschaft vor sich herträgt. Man kann – wenn man es kann und will – etwas Ernstes komisch erzählen; oder etwas Großes im Kleinen; oder etwas Banales ganz außergewöhnlich (und jeweils andersrum). Ozon hält ja, auch wenn er dann einen U-Turn ins Fantastische schlägt, stets im Hintergrund seinen sozialen Realismus aufrecht. Nicht unähnlich geht Costa-Gavras in EDEN À L’OUEST vor.
Ein Flüchtlingsschiff auf dem Mittelmeer, vollgestopft mit Nordafrikanern, wird von der Küstenpolizei entdeckt. Elias springt ins Wasser, schwimmt an Land – und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Er landet beim Ferienclub Eden, direkt am FKK-Strand, mit vielen nackten Frauen; aus seinem Gesicht kann man lesen, wie unerhört – und vor allem ungesehen das für ihn ist.
Elias hat keine Vergangenheit, die im Film ausgebreitet würde, ja, er ist ein Mann ohne Eigenschaften, ein Naivling, ein reiner Tor, der in eine ungekannte Kultur hineinplatzt und sich darin zurechtzufinden hat. Wird für einen Hotelangestellten gehalten, wechselweise auch für einen Gast, reinigt eine verstopfte, vollgeschissene Toilette und nimmt sogar an der nächtlichen Jagd auf die illegalen Flüchtlinge teil; verfolgt sich also selbst. Eine Menschenjagd, die nicht nur als Hilfe für die Polizei, sondern auch als Teil des Animations-Entertainments im Touristenclub veranstaltet wird. Einer Deutschen (Juliane Köhler) verschafft er die erhoffte Urlaubsaffäre, und erst, als er einem Zauberer (Ulrich Tukur) bei seiner Show hilft (die im übrigen sehr geschmacklos ist mit Klopapier und Toilettenrunterspülen, aber so ist es halt, wenn man’s im Urlaub lustig haben will): da hat er dann ein Ziel: „Wenn du mal nach Paris kommst, besuch mich!“. Also macht sich Elias auf, und begegnet fast im Minutentakt seinen europäischen Mitmenschen, die immer ganz verschieden auf ihn reagieren. Mal ablehnend, mal feindselig, einer klaut ihm sein Geld, jemand anderes schenkt ihm einen Mantel. Ein Ehemann nimmt ihn im Auto mit, will damit aber nur seiner Frau einen reindrücken; wirft ihn dann mitten in den Alpen wieder raus, wieder aus Trotz gegenüber der Gattin. Elias erlebt Truckerromantik und die Ausbeutung in einer Recyclingfabrik, Güte, Gleichgültigkeit, Aggression – und dann, irgendwann, immer auf der Flucht vor der Polizei, ist er in Paris, wo sich sein Ziel in Luft auflöst. Freilich nicht als tragischer Sturz, sondern als leichtgewichtige Erhebung ins Zauberland.
Costa-Gavras erzählt ganz locker, ganz souverän, ohne direkte Anklage etwa bezüglich der europäischen Flüchtlingspolitik von den Einstellungen der Westeuropäer zum Fremden; und letztlich von unserem generellen Verhalten unseren Mitmenschen gegenüber. Was sich so allgemein anhört, ist nie banal, sondern immer auf den Punkt genau aufs wahre Leben treffend. Wobei, und das ist der Clou: der Film sich nie realistisch gibt, sondern sich stets eine poetische Künstlichkeit erhält, stets ins leicht Absurde, Surreale, ja Mythologische stilisiert ist. Wie RICKY kann auch EDEN À L’OUEST als Märchen gesehen werden; auf authentischem Untergrund.
Im Wettbewerb dieses Jahres waren drei amerikanische sogenannte Independent-Komödien vertreten, in denen schräge Charaktere sich um Wahrhaftiges bemühen. Wobei zweimal die Falle zuschnappt: sowohl Rebecca Miller (Tochter von Arthur Miller) als auch Mitchell Lichtenstein (Sohn von Roy Lichtenstein) erzählen eine ganz ähnliche Familiengeschichte, die freilich keinem wehtut, mit ein paar Stars garniert, die unkonventionelle Figuren spielen (inklusive ein paar eingestreuten Imaginationssequenzen), wobei freilich die bemühte Abkehr von jedem Hollywoodklischee schon wieder zum „Independent“-Klischee wird.
In Millers THE PRIVATE LIVES OF PIPPA LEE ist Robin Wright Penn als Titelfigur eine Ehefrau, die im Schatten lebt. Im Schatten ihres viel älteren Ehemannes, einem anerkannten Buchverleger; und im Schatten ihrer selbst, ihrer eigenen Möglichkeiten. In ein paar Rückblenden wird ihr Werdegang dargestellt, ihre hyperaktiv-neurotische Mutter (Maria Bello), die jeden Tag eine Menge Speed-Tabletten nimmt, ihre Flucht in eine Lesben-WG (u.a. Julianne Moore), ihr Absturz in Sex- und Drogenkreise und dann ihre rettende Ehe mit Herb (Alan Arkin). Oh, ganz kurz ist auch Monica Belucci dabei.
Dazu kommen in der Gegenwart die Ereignisse, die ihr Alltags- und Eheleben erschüttern: wie sie unbewusst schlafwandelnd die Küche verwüstet oder im Supermarkt einkauft. Dort arbeitet der Sohn der Nachbarin, ein schwarzes Schaf namens Chris – Keanu Reeves spielt wieder mal eine Erlöserfigur, mit riesiger Christus-Tätowierung auf dem Oberkörper. Außerdem betrügt Herb sie mit ihrer besten Freundin (Winona Ryder).
Es fehlt in dem Film nicht an temporärem Witz; und manches ist auch ganz originell. Aber in der Masse (der Handlungselemente wie der Starauftritte) hebt sich alles wieder auf: kleine Ideen verlieren jede Subtilität, nachhaltige Gedanken werden vom nächsten Wendepunkt im Drehbuch erstickt, und das Celebrity-Casting verhindert ohnehin jeden intendierten Independent-Spirit.
Ähnlich, aber noch geballter und damit noch schlimmer in Mitchell Lichtensteins HAPPY TEARS mit Parker Posey und Demi Moore als ungleiche Schwestern, die sich um ihren demenzkranken Daddy (Rip Torn) kümmern müssen. Posey spielt die oberflächliche Shopping-Schnepfe Jayne, die sich nicht viel Mühe gibt zu denken, während Moore mit ihrer Laura eine bodenständige, praktische Mutterfigur abgeben will, die weiß, was wann wie anzupacken ist – wobei sie dermaßen übergestylt ist mit ihren Zöpfchen und den adretten Blusen, dass schon das Filmkostüm der stringenten Charakterisierung im Weg steht. Auch in der Inszenierung sind sich die beiden Schwestern zum Verwechseln ähnlich; schließlich ist die doofe Jayne mit einem allzu intelligenten Maler verheiratet, der noch dazu – ein kokettes Spiel des Regisseurs mit seiner eigenen Biografie – Sohn eines noch viel berühmteren Malers ist. Und Laura kifft und kichert genauso wie Jayne.
So kann halt keine wirkliche Kontrastierung und damit auch keine Fallhöhe entstehen, auch nicht, als sich für Jayne die ganzen selbstgebastelten Legenden um ihre heile Familie zusammenbröseln. Lebenslügen, die sich in Luft auflösen: da müsste doch eigentlich was draus zu machen sein. Doch kann man wirklich so naiv sein und jahrzehntelang an einen vergrabenen Schatz im Garten glauben? Da liegt doch der Hund begraben! Und, hier wird sich der Film selbst untreu – später gibt es nämlich tatsächlich einen märchenhaften Geldregen.
Auch hier will der Film zuviel – hab ich erwähnt, dass Ellen Barkin eine obdachlose Hure auf Crack spielt, die sich als Krankenschwester ausgibt? –, und er bietet viel zu wenig. Weil er sich in den falschen Momenten selbst zu ernst nimmt; wenns um familiy values geht, zum Beispiel.
Richard Loncraine spielt in MY ONE AND ONLY dagegen durchweg auf ironischer Ebene. Und Kategorien wie „Hollywood“ oder „Independent“ (die ja eh inzwischen ihre Bedeutungen verloren haben) interessieren ihn auch nicht: die Drehbuchentwicklung war vor zehn Jahren als Studioprojekt begonnen worden, die Produktion wurde dann ins Independent-Level (spricht: mit geringerem Budget) verlegt.
Er schickt Renée Zellweger als Ann Devereaux auf eine Reise quer durch die USA. Zusammen mit ihren Teenagersöhnen George und Robbie sucht sie sich einen neuen Ehemann, der sie aushalten soll – wir schreiben das Jahr 1954, und Ann geht auf im patriarchalischen System. Sie will ja nicht etwa arbeiten gehen! Dan (Kevin Bacon), Vater ihrer Söhne, ist ein untreuer Ehemann; sie dagegen, was soll man machen, ist eine schlechte Mutter. Die sich nicht um die Bedürfnisse anderer kümmert, die vor allem weg will und hin zu einem neuen Mann, egal welchem. Wobei Loncraine ein Panoptikum an verschiedenen Männlichkeiten präsentiert, immer nah an der Karikatur, aber doch immer als genaues Porträt bestimmter Prinzipien. Da ist der Schwächling ohne Geld, der jähzornige Oberst, der verrückte Polygame; und die Typenbeschreibungen gehen bis in die Nebenrollen, da ist ein jugendlicher Schwärmer, bei dem Ann vielleicht ihr Glück finden könnte, und George redet einer Freundin mal aus, einem Fremden für zwei Dollar ihre Brüste zu zeigen – nachdem sie sie ihm zur Überprüfung vorgehalten hat. Robbie schließlich, der Bruder, ist offensichtlich schwul, was ein paar sehr schöne En-Passent-Gags ergibt: wie er im Auto stickt zum Beispiel.
All dies wird sehr eloquent, mit frischem Charme, von George, dem jüngeren Sohn, erzählt, weil er nun mal das männliche Oberhaupt der Familie ist („Robbie will never be the man in any family“, heißt es einmal). In ihm mischen sich jugendlicher Trotz mit reifer Weltklugheit und klarer Sicht auf die Eigenheiten seiner Mitmenschen, vor allem seiner Mutter. Die mit unerschütterlichem Optimismus sich von Stadt zu Stadt, von Episode zu Episode treiben lässt, immer im Wissen, dass am Ende doch alles gut ausgehen wird, wie im Film.
Das ist auch das Ende der Reise: Hollywood, wo Robbie sich als Schauspieler versuchen will. Wo jeder ein Recht hat auf ein Pursuit of Happy End, auch nach einem durchgeknallten und urkomischen Trip entlang der Route 66. Am Ende, als Sahnetüpfelchen auf dem i, wird die ganze überstilisierte 50er-Jahre Welt, die lange, unglaubliche Reise ins Glück zurückgeführt auf ein ganz authentisches Bio-Pic, auf belegte, (film)historische Wahrheit.
Der wahrscheinlich lustigste und am intelligentesten geschriebene Film lief freilich nicht im Wettbewerb, sondern im Panorama: DER KNOCHENMANN von Wolfgang Murnberger, die dritte Filmadaption eines Brenner-Romans von Wolf Haas. Murnberger, Haas und Hauptdarsteller Josef Hader schrieben wieder das Drehbuch in der aus „Komm, süßer Tod“ und „Silentium“ bekannten Manier der verwickelten Handlungsfäden, die erst am Ende zusammengeführt werden, um dann, letztendlich, Sinn zu produzieren; irgendeinen Sinn, auch den Sinn des Sinnlosen. Des sinnlosen Mordens zum Beispiel.
Denn darum geht es in dem Film, um die Sinnlosigkeit. Und so wird dem Kriminalplot ganz langsam der Boden entzogen, immer mehr. Indem der Ermittler Simon Brenner sich selbst kalt stellt, in diesem verschneiten Winter in der steiermarkschen Provinz, wo er sich heiß verliebt. Und deshalb gar nicht merkt, was um ihn her alles passiert. Eine Leerstelle also inmitten einer Serienmord-Handlung – wobei Brenners Antagonist im selben Modus des Gegenstandslosen operiert. Denn all die Leichen, die im Keller der Hendl-Station vom Löschenkohl in der großen Knochenmehlmaschine verschwinden, hätt’s gar nicht gebraucht; weil der Mörder schlicht von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist, die ihm fälschlicherweise als alternativlose Option die Beseitigung bestimmter Widersacher vorgaukelten.
Am Anfang sieht man den Brenner in einer schönen Vorortsiedlung mit adretten Einfamilienhäusern inklusive hübsch angelegter Gärten; ja, Brenner hantiert gar an einem Mittelklassewagen mit allerlei Kleinkindutensilien herum – und natürlich weiß man, dass er da auf keinen Fall hingehört, man wundert sich, bis man feststellt, dass er für ein Inkassounternehmen das Auto akquirieren muss, weil die Leasingraten nicht bezahlt wurden. Doch der Brenner wäre auch nicht der Brenner, wenn er die alleinerziehende Mutter mit ihrem kleinen Kind nicht anschließend in die Schule gefahren hätte. Er hat halt ein zu weiches Herz, und deshalb bleibt er dann auch beim Löschenkohl. Dort soll er den knallgelben Beetle eines gewissen Alexander Horvath einziehen; der Besitzer ist freilich nicht zu finden, das Auto auch verschwunden, der Auftrag damit undurchführbar, doch der Brenner bleibt, weil’s ihm die Wirtin angetan hat. Und bleibt, und bleibt, und bleibt. Nimmt nach einigem hin und her den Auftrag des Wirtssohns an, dem Vater auf die Finger zu schauen, weil eine Menge Geld aus der Betriebskasse verschwunden ist. Und geht diesen Auftrag gar nicht erst an. Sondern bleibt einfach, bleibt und bleibt und wünscht sich, in der Nähe der Wirtin zu bleiben. Während um ihn herum immer mehr Menschen getötet und zu Knochenmehl verarbeitet werden; vielleicht auch zu Gulasch, denn der ist in der Nacht besonders lecker.
Erstaunlich ist hier nicht nur die kunstvoll ausgeführte Desavouierung der Kriminalstruktur oder das großartige Casting von Schauspielern, die präzise und ganz locker ihre Rollen ausfüllen (was bei Namen wie Sepp Bierbichler, Birgit Minichmair oder Stipe Erceg kein Wunder ist), auch nicht der subtile, makabre, böse Witz, den auch schon die anderen Brenner-Verfilmungen enthielten (und der nicht selten den der Coen-Brüder in den Schatten stellt) und die Vermischung der Genres von Krimi, Schwarzer Komödie und Horror. Sondern auch, wie die drei Drehbuchautoren geschickt aus der Buchvorlage etwas völlig Neues, eine frische, originelle Neufassung geschaffen haben. Der Roman war zum Beispiel ein Whodunit; der Film gibt dieses einfache Mittel der Spannungserzeugung auf, um das berührungslose Nebeneinanderher von Mörder und (verhindertem) Ermittler zu zeigen. Im Roman ging es nebenbei um Fußball und um eine Künstlerkommune, was der Film ebenfalls streicht – zugunsten einer ganz präzisen Konzentration auf die Familienverhältnisse in der Löschenkohl-Hendl-Massenverspeisung. Vater, Sohn und Schwiegertochter: das allein ist schon ein dynamisches Ensemble voller Reibungen und Spannungen, die sich jederzeit entladen können. Geheimnisse, Lügen, Misstrauen und souveräne Machtausübung des Stärkeren gegen den Schwächeren: da hinein ist der Brenner geraten als weiteres destabilisierendes Element. Ohne auch nur das Geringste zu ahnen. Bis ihm irgendwann ein abgeschnittener Finger im Keller auffällt. Den er aber dann im Handschuhfach seines Wagens vergisst.
Der beste Filmdialog der diesjährigen Berlinale stammt ebenfalls aus dem KNOCHENMANN. Der Brenner beschwert sich beim Löschenkohl-Wirt, dass bei ihm der Gast wohl nicht König sei. Darauf Löschenkohl in unnachahmliche Bierbichler-Diktion: „Des is a Wirtshaus und kaa Gasthaus.“ Ein Satz, der beweist, dass Maria B., die Harpyie vom Cinestar 7, das Panorama-Filmprogramm gesehen und – indem sie den Oneliner offenbar als berufliches Motto übernommen hat – leider falsch verstanden hat.