Filmkritik: "Spectre" (2015)

Big (Step-)Brother is watching you


Was für ein Anfang, was für eine Entwicklung von Bond: In der eleganten, ungeschnittenen Brian-De-Palma-artigen Eröffnungssequenz von "Spectre" gleitet Daniel Craig alias 007 behände wie eine Katze über Straßen, Flure, Dächer von Mexico City – als wären scheinbar zufällig in die Baulandschaft gesetzte Mauern, Winkel, Stüfchen nur für ihn gemacht. Dieser Bond ist elegant, nonchalant, smart, ein perfektes Chamäleon in seiner Umgebung, die er sich anverwandelt, unterordnet. Das totale Gegenteil zu Craigs Einstand als ungeschlachter Killer in "Casino Royale", wo er immer eine Spur ungelenker und berserkerhafter als ein "Parkour"-Artist selbigem hinterherhetzte und lieber alles brutal kaputtmachte, statt wie der Verfolgte die Umgebung als natürliche Hindernisse zu betrachten, die es geschickt zu überwinden galt. Von ähnlicher fließender Eleganz ist eine spätere Auto-Verfolgungsjagd in Rom, bei der fast nichts kaputtgeht und Bonds neuer Aston Martin wie ein Spielzeug für das Kind im Manne durch die engen Gässchen und am Tiber entlang – gleitet statt brettert. Dazu Gadgets, die nicht immer so wollen wie Bond und für eine komisch-verspielte Note sorgen (der Anti-Film ist insoweit "Goldeneye", in dem Bonds BMW keine Tricks aufbietet und reines Product Placement ist und in dem Pierce Brosnan stattdessen mit einem geklauten Panzer halb Sankt Petersburg in Schutt und Asche legt).

Man merkt, Bond hat was gelernt – aber Regisseur Sam Mendes nutzt dies in 
seinem zweiten Bond in Folge nicht etwa, um zu einem allzu verspielten Roger-Moore-Stil zurückzukehren, sondern um diesen Bond ausgerechnet da zu erwischen, wo er noch nicht so smart geworden ist: in seinem Kopf. Insoweit eine konsequente Entwicklung und ein stimmiges Aufeinandertreffen von Gegensätzen, die den Helden darum umso härter treffen. Dieser Mann, der scheinbar gelernt hat, alles mühelos zu bewältigen, der hat dennoch ein verbleibendes Riesenproblem. Und es gibt einen Superschurken, der sich dies zunutze macht: Ernst Stavro Blofeld, der jedoch zunächst nicht so heißt (Christoph Waltz). Nebenbei möchte dieser bewirken, dass sich die Geheimdienste von neun Nationen vernetzen, natürlich unter seiner Kontrolle. Bond-Filme waren schon immer gut darin, aktuelle Themen aufzugreifen (woraus sie dann gelegentlich herrlichen Blödsinn entwickelten, wie etwa bei "Der Mann mit dem goldenen Colt", der lose an die 1974er Ölkrise anknüpfte). Jetzt also die Gefahren von Big Data. Dass man zu einer stärkeren Geheimdienstvernetzung bereit ist, wenn in einem Land ein Anschlag passiert – da war dieser Film sogar aktueller, als er wissen konnte und als ihm lieb war. Aber keine Sorge: Weil Fiese und Gute, die wie bekloppt auf Computertastaturen um die Wette herumtippen, filmisch ziemlich unsexy sind, gibt es noch genug nichtvirtuelle, spektakuläre, teils herrlich bond-typisch hanebüchen-absurde und nicht immer ganz logische Action (nur ein Beispiel: Warum fliegt der Hubschrauber, den Bond am Ende mit einem Motorboot verfolgt, nicht einfach höher?). Mendes verknüpft dies geschickt mit seiner Geschichte einerseits und mit den Erwartungen an einen Bond andererseits, die es zu erfüllen, aber auch zu variieren und zu erweitern gilt. Dies ist ihm gelungen.
Blofeld möchte zum Big Brother werden, der den Menschen in ihr Innerstes schaut, und er malträtiert grad Bond eher psychisch als physisch, von dem er viel weiß, dessen Schwächen er kennt und nicht nur ausnutzt, sondern ganz gezielt einsetzt, um ihn seelisch zu quälen. Er möchte Big Brother sein und ist auch Big Stepbrother von Bond, in echt jetzt! Er hat ein Foltergerät. Das ist hübsch verspielt, hochfein und hochtechnologisch und nicht mehr so archaisch roh wie in der Folterszene aus "Casino Royale". Und es wird Bond nicht (wie in "Casino Royale", aber auch der Laserstrahl in "Goldfinger") in seiner Libido bedrohen, sondern sich im wahren und im übertragenen Sinne in seinen Kopf, sein Hirn, seine Erinnerungen, seine Vergangenheit, seine Seele bohren. Obwohl die Szene äußerlich viel weniger brutal als die Folterung in "Casino Royale" ist, schmerzt sie intensiv, ist aber auch von der kreativen Technikverliebtheit, die Bond-Schurken ureigen ist. Hier gelingt Mendes eine Verbindung aus Kult und Emotion auf höchstem Niveau.

Dies ist auch ansonsten der Fall, in einem durchstilisierten Film des stilbewusst inszenierenden Sam Mendes. Ich habe bei diesem längsten Bond, den es je gab, keine Minute Langeweile empfunden, zumal es auch in den ruhigeren Szenen viel Interessantes zu erzählen gibt (und wir froh sein können, dass das Dauerfeuer zu irrer Schnittgeschwindigkeit eines "Ein Quantum Trost" nicht wiederaufgegriffen wurde). Und Skurriles! Das kam bei Bond schon öfter vor, aber noch nie so gewagt und so souverän, wie hier die Zwiesprache Bonds mit einer Maus (!) die Lösung voranbringt (ganz nebenbei mag dies eine Hommage an eine zum Ärger von Billy Wilder nie gedrehte Zwiesprache mit einer Kakerlake aus "Das Goldene Tor", 1940, sein). Bond scheint schon etwas gaga, wenn er das Tier bedroht, als wäre es der Feind. Aber dies scheint mir nicht nur ein weiteres Zeichen für Bonds Verwundbarkeit, sondern auch ein Hinweis, dass nur leicht Verrückte in einer mehr als nur leicht verrückten Welt bestehen können.

Abgesehen von derartigen Extravaganzen löst sich Mendes nicht zu weit vom Gesetz der Serie. Da dürfen ein paar Anspielungen auf frühere Bonds gern vorkommen: Der mexikanische dia de las muertes erinnert an Rituale in New Orleans und auf San Monique ("Leben und sterben lassen"). Dass ein Hüne von Gegner seine schrecklichen Fähigkeiten zunächst vor Bond demonstriert, kennen wir aus "Goldfinger" (mit dem Kreissägenhut geköpfte Statue), "Leben und sterben lassen" (von der Stahlklaue zerquetschte Walther PPK) und "Octopussy" (mit der bloßen Hand zu Staub zerquetschte Backgammon-Würfel). Und natürlich vom "Beißer", der sich z.B. in "Der Spion, der mich liebte" mit Bond in einem Zug prügelte, was nun wieder aufgegriffen wurde (die Ur-Zug-Prügelszene findet sich aber in "Liebesgrüße aus Moskau"). Nach einem gefährlichen Abenteuer kommt Bond in einem Niemandsland an, in dem er schon vom Schurken erwartet wird – geradezu märchenhaft geschah dies in "Moonraker"; nun wird er märchenhaft elegant mit einem 1948er Rolls Royce mitten in der Wüste abgeholt. Mendes hat ein Gespür für "unmögliche Orte", die vielen Bonds eigen waren und oft aus Elementen bestehen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen. Blofeld bringt Bond dann zu einem kartographisch unauffindbaren Domizil, das z.T. als Krater getarnt ist – siehe "Man lebt nur zweimal".

Zu diesem Film wird es übrigens noch eine direkte inhaltliche Verbindung geben – erinnern Sie sich an die schreckliche Narbe, die die Maske damals Donald Pleasance alias Blofeld verpasst hatte? Hier erfahren wir, wie sie entstanden ist. Den zeitlichen Anachronismus seit "Casino Royale" führt Mendes konsequent fort: Alle Craig-Bonds spielen in der Jetzt-Zeit und bedienen sich modernster Accessoires und Technik – aber sie spielen auch in der Vergangenheit und erklären, wie Bond zu dem wurde, was er ist. Sie dringen weiter zu Bonds Wurzeln vor, so wie Blofeld mit und ohne Foltergerät in seinen Kopf eindringt.

Diesmal dringt man auch zu Blofelds Wurzeln vor, der bereits in mehreren Bonds der Superschurke war, bevor er in dem netten, aber auch etwas albernen "Diamantenfieber" eher unspektakulär ums Leben kam. Doch immerhin leitet er das weltweite Verbrecher- und Terrornetzwerk "Spectre", welches in nicht weniger als sechs alten Bond-Filmen immer gewaltigere Masterpläne schmiedete, bis Blofeld in "Diamantenfieber" die Welt zur totalen Abrüstung erpressen und selbst beherrschen wollte. Schon damals keine kleinen Brötchen – und wie monströs groß sie schon immer waren, können wir nun erfahren. Von äußerlichen Zitaten einmal abgesehen, baut Mendes auch die Geschichte auf früheren Bonds auf, vor allem auf denjenigen mit Daniel Craig. Auch dies ist stringent, weil diese Filme eine konsequente Entwicklung des ungeschliffenen Rohdiamanten Bond zeigen und teils inhaltlich stärker zusammenhängen als frühere Filme (vor allem die ersten beiden, "Casino Royale" und "Ein Quantum Trost", der erstmals in der Serie eine direkte Fortsetzung war). Es wird sich zeigen, dass Blofeld die heimlich lenkende Hand hinter allen Geschehnissen der drei Craig-Bonds war. Und da passierte Bond und mit Bond so einiges, was unter die Oberfläche ging. Beispielsweise war es in "Casino Royale" das erste Mal seit "Im Geheimdienst ihrer Majestät", dass ihm eine Frau wieder etwas bedeutete, nämlich Vesper Lynd. Und hinter dem für Bond-Puristen ungehörigen Satz "Die Schlampe ist tot" verbarg sich in Wirklichkeit ein tiefer Schmerz. Wir werden wieder von Vesper hören. Und Bond auch. Tiefen Schmerz zuzufügen, das versteht Blofeld, der zu einer wahrhaft unheimlichen und ungeheuer peinigenden Nemesis unseres Helden wird. Einer, die gerade wegen der ruhig-überlegt-überlegenen Art des optisch eher unscheinbaren Christoph Waltz umso beängstigender ist.

Was wird daraus werden? Ein Bruderzwist Shakespeare'schen Ausmaßes? Man darf gespannt sein: Weil Blofeld als späterer Blofeld in früheren Bonds auftaucht, ist klar, dass der Schurke diesmal nicht sterben wird. Nette Idee, ihn in Beamtenkorrektheit "gemäß des Gesetzes XY" verhaften zu lassen (liebe deutsche Synchronautoren: Es heißt "gemäß DEM Gesetz", nur mal nebenbei). So einem kommt man mit Beamtenkorrektheit natürlich nicht bei. Aber das wird der nächste Film erzählen.

Bei aller stilsicheren Brillanz zwischen Seriengesetz und Arthouse, bei allem Geschick in der Auswahl "unmöglicher" Orte und Settings, bei allen gewohnt spektakulären Actionszenen fallen jedoch zwei Dinge auf: Sam Mendes mag offensichtlich einen geringen Grad an Tiefenschärfe, und er tut sich immer noch etwas schwer mit der obligatorischen Erotik.
Ersteres führt dazu, dass oft auch Personen, die nur in geringer Entfernung zu einer anderen Person stehen und z.B. von hinten einen großen Teil des Bildes füllen, nicht scharf zu sehen sind. Kann man machen und entspricht auch dem Unvermögen des menschlichen Auges, alles gleichzeitig scharf zu sehen. Aber die Leinwand ist nun mal zweidimensional und verschafft dem Auge einen Gesamtüberblick, wie es ihn in der Realität nicht gibt. Anders gesagt: Man sieht dasjenige, worauf man sich in der Realität nicht konzentriert, nicht unscharf, sondern man sieht es gar nicht. Anders beim Blick auf die Kinoleinwand, weswegen ich Tiefenschärfe als Mittel zum besten Gesamtüberblick und zur Möglichkeit, sich selbst auszusuchen, was man fokussiert, lieber mag (nach André Bazin ist Tiefenschärfe daher der objektivste Filmblick, was Meister der Mise-en-scène wie William Wyler und Orson Welles gern genutzt, aber mit nicht neutralen Bild(kom)positionen kombiniert haben).
Letztlich lässt sich aber auch hiermit gut leben, außer in einer Szene: Da trifft Bond auf die schöne Lucia Sciarra (Monica Belluci), die er zur Witwe gemacht hat. Er geht auf sie zu. Aus seiner Sicht ist alles scharf. Aus der Gegensicht ist nur Lucia scharf, alles andere verschwimmt, und selbst als Bond schon genau hinter ihr steht, ist er noch leicht unscharf. Das Ganze ein paarmal im Schuss-Gegenschuss-Verfahren hin und her. Ein Mendes überlässt eigentlich nichts dem Zufall, aber hier ist mir schlicht nicht klar, was das soll. Mangelnde Tiefenschärfe ist gelegentlich ein Stilmittel, um das gestörte Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung darzustellen, die vor ihren Augen verschwimmt – sie wirken isoliert. Und das könnte auf die Frau durchaus zutreffen. Aber warum dann nur "von einer Seite"? Vielleicht, weil Bond (der ja auch sonst mit seiner Umgebung verschmilzt, s.o.) sie klar sieht, aber Lucia noch derangiert ist, sodass Bond sich ihr zunächst kaum annähern kann? Rätsel bleiben, denn natürlich wird Bond schnell mehr als nur sich annähern: Er geht mit der guten Dame ins Bett, nachdem er seine Beschützersprüche geklopft hat.
Hier hatte ich den Eindruck, die Produzentin hätte Mendes irgendwann mal gesteckt, dass Bond pro Film nicht nur eine einzige Frau flachlegen darf, und der Mann hat das dann pflichtschuldig statt leidenschaftlich abgedreht. Die geheimnisvolle Frau "mit Vergangenheit" (zum Glück sieht Belluci sehr schön, aber kein bisschen jünger aus, als sie ist), die Verbindung mit dem Bösen und der Flirt mit dem Guten – eigentlich Standardzutaten. Aber Mendes interessiert mehr das "Davor" als das "Währenddessen" – und das "Danach" schon gar nicht: Lucia verschwindet einfach aus der Geschichte. Sie hat ein kurzes Gastspiel, und der Film interessiert sich nicht sonderlich für sie. Schade! Ein unmotivierter Einschub, fast ein Fremdkörper im Film. Léa Seydoux alias Madeleine Swann hat es da schon besser, und man merkt, dass Bond sie nicht nur anziehend findet, sondern dass so etwas wie Liebe zwischen den beiden entsteht. Bemerkenswerterweise lässt sie ihn – zunächst – nicht an sich heran, jetzt wo er wirklich will und nicht mal eben, wie in der Eröffnungssequenz, eine Frau, die er sofort haben kann, stehen lässt, "Ich muss nur mal kurz die Welt retten". Hier zahlt sich die Erotikverweigerung einmal aus. Zumal es nicht bei ihr bleiben wird…


Fazit: Bis auf sehr kleine Ausnahmen stimmt alles. Stringente Handlung und Entwicklung, wobei Bonds neue und konsequent weiter geführte Ernsthaftigkeit nicht allzu bleischwer auf dem ganzen Film lastet. Das ist ein echter Bond mit Neuem, aber auch mit allem Alten, was dazugehört, inklusive der obligatorischen humorvollen Einzeiler, aber ohne Klamauk. Und mit einer interessanten Weiterentwicklung von Moneypenny und Q sowie einem neuen M, in dessen Rolle Ralph Fiennes uns lange erhalten bleiben möge. Bond hat seit 1962 viele Gesichter gehabt und viele Erwartungshaltungen geweckt. "Spectre" hat das Potenzial, sie alle zu erfüllen.

Tonio Klein


"Spectre", Großbritannien/USA 2015
Regie: Sam Mendes
Drehbuch: John Logan, Neal Purvis, Robert Wade, Jez Butterworth
Kamera: Hoyte van Hoytema
Musik: Thomas Newman
Produktion: Barbara Broccoli, Michael G. Wilson
Darsteller: Daniel Craig (James Bond), Christoph Waltz (Blofeld), Léa Seydoux (Madeleine Swann), Andrew Scott (Max Debigh, "C") Ralph Fiennes (M), Ben Wishaw (Q), Naomie Harris (Eve Moneypenny), Monica Bellucci (Lucia Sciarra)
Länge: 148 Minuten
Verleih: Sony
Kinostart: 5. November 2015

Alle Abbildungen (c) Sony Pictures