Hofer Filmtage 2015: Retrospektive Christopher Petit – "Flight to Berlin" (1984)

Eine Frau im Polizeiverhör; sie Britin, die Polizisten Deutsche, aufgegriffen wurde sie, weil sie einen Koffer in Berlin hatte – und zwar im falschen Zimmer, da, wo ein bekannter Verbrecher wohnt. Warum? Eine Frage, die nicht zu beantworten ist; nicht von dieser Frau.

Rückblende. Ankunft im Flugzeug. Eine getriebene Frau. Hinter ihr sitzt Eddie Constantine, der am
Flughafen von einer schmierigen Gestalt abgeholt wird, die wir später als Edouard kennenlernen sollen. "Berlin ist magisch, mysteriös", schwärmt Constantine, den wir dann für eine Weile aus dem Auge verlieren. Weil wir der Frau folgen. Einer Frau, die verfolgt wird. Die hier in Berlin Zuflucht sucht – Christopher Petit spielt mit dem Titel "Flight to Berlin" schön mit der Dreifachbedeutung von "flight", als Flug, als Flucht, als "flight of stairs", Treppenflucht – das nämlich ist die Ursache, dass Susannah ihre Heimat, ihren Ehemann verlassen hat. "Sie hat sich mir in die Arme geworfen, als würde sie mir die Schuld an ihrem ganzen Leben geben", ein Satz aus dem Voice Over, der lange rätselhaft bleibt – jedenfalls ist Susannah voll Schuldgefühl, gesucht von der britischen Polizei, hier in Berlin untergetaucht. "Ich hätte mich mehr gegen Veränderungen am Script wehren sollen  (z.B. Voiceover), denn mehr, als dass eine Frau wegläuft, braucht man nicht zu wissen", so Christopher Petit im Hofer Filmtage-Katalog. Dieses Weglaufen, diese reine Flucht ohne Ursprung und ohne Ziel, garniert Petit in diesem Film mit allerlei Intrigen, mit Beobachten, mit Wissen und Ahnen, aber das, wie auch sonst, ebenfalls ohne Ursprung und Ziel.

Susannah hat eine Schwester in Berlin, Julia – Lisa Kreuzer, die schon im Erstling "Radio On" zu sehen war –, sie sind nicht zusammen aufgewachsen und müssen nun zusammenfinden. Fotographie ist deren Beruf, eine bizarre Begegnung mit einer alternden Diva in ausladendem Pelz, die sich eitel fotographieren lässt, ist eine der Episoden des Films. Szenen (und Fotos) im Park erinnern an Antonionis "Blow Up", im Hintergrund dieser Mann in geschniegeltem Anzug und in weißen Schuhen… Er ist mit Julia, der Schwester, undurchsichtig verbunden, bandelt mit Susannah an, die sich freilich Marianne nennt, wird ihr Lover, ein alerter, eleganter Kerl mit einnehmendem und nicht unbedrohlichem Charme. Der auch was mit Edouard zu tun hat, diesem unangenehmen Zeitgenossen. Der sich in ein Hotelzimmer gegenüber von Susannah einquartiert, der seine Strangulation simuliert, um sie zu sich rüberzulocken – in Wirklichkeit hat er nur ganz unschuldig seine Wäsche an der Zimmerlampe aufgehängt –, der sich einen Knopf vom Anzug abschneidet, damit Susannah in sich annäht, und der ihr dann Angebote macht, sich aus der Schlinge der Verfolgung zu ziehen, sich auch in ihre Arme wirft – damit nämlich die Schwester Julia, die das mehr oder weniger zufällig mitansieht, ein falsches Bild von der Szene bekommt… Ein komplexes Geflecht von Beobachten, Vortäuschen, Missverständnis baut der Film auf, spielt auch mit dem Motiv des Sehens, durch die Fotos, durch die gespiegelte Sonnenbrille ("Siehst du mich an, oder bewunderst du nur dich selbst?"), durch das schwindende Augenlicht von Ehemann Nicholas, der irgendwann auch ankommt – gespielt von Paul Freeman, den wir aus "An Unsuitable Job for a Woman" kennen…

Doch durchsichtig, durchschaubar ist hier nichts. Wer in welcher Beziehung zu wem steht – das löst sich zwar am Ende auf, erklärt aber nichts und ist eigentlich auch wurscht. Eine Begegnung mit Eddie Constantine gibt es, vergleichbar mit dem Fuller-Auftritt bei Fritz Lang, in der Eddie als er selbst von seinen Filmabenteuern spricht, davon, wie er die Mädchen aus der Not rettet. Er gibt Tipps: "Roll with the punches" – dreh deinen Kopf mit den Schlägen mit, und "keep a moving target".

Petit erzählt sein Intrigenspiel, als spiele die Intrige keine Rolle, zumindest nicht ihre Auflösung: es reicht die Magie, das Mysteriöse. Dazwischen bizarre Szenen: Ein aufgebrachter Gang Susannahs durch die Stadt ist mit allerlei Zwischenfällen im Hintergrund begleitet, ein Autounfall mit schimpfenden Fahrern, eine Frau, die über den Bürgersteig einem Kind nachrennt, dann fällt noch ein Fahrrad um – eine schöne kleine Choreographie, ebenso wie die Szene, in der sich Susannah und Edouard begegnen, er hat sein Auto quer über den Bürgersteig gestellt, stellt sie nun und will sie mitnehmen, im Hintergrund ein Asiate mit riesigem Stadtplan, der den Weg zur Potsdamer Straße sucht…

Schließlich eine Party bei Julia, auf der sich alle Protagonisten begegnen. Begegnung – aber keine Beziehung; Geschehen, aber keine Handlung. Susannah flieht, wird von der Polizei aufgegriffen. Dann öffnet sich die Zellentür, "you're free to go." – "Einfach so?" Ja. Einfach so.



Harald Mühlbeyer