MOP 2014: BLUTGLETSCHER (Ö 2013)


Der Berg flucht

Zugegeben, der Titel dieses Beitrags ist ein arger Kalauer. Aber eine der Taglines zu Marvin Krens BLUTGLETSCHER (neben dem ebenfalls so ungelenken wie – weil; gleichwohl – gelungenen „Die Gletscher schmelzen – die Mutanten kommen“) lautet ja auch: „Am Berg hört dich niemand schreien“. Das ist haarsträubend, jedoch natürlich ebenfalls Reminiszenz an Ridley Scotts Sci-Fi-Horror-Meilenstein ALIEN von 1979, dereinst beworben mit „Im Weltraum hört dich niemand schreien“.

Und darum geht es Kren, der mit BLUTGLETSCHER nicht nur dem „Unheimlichen Wesen aus einer fremden Welt“ Tribut zollt, sondern auch anderen Creature-Feature-, Öko-Tierhorror- und sonstige Monster-Klassikern vor allem der 1970er und -80er wie John Carpenters THE THING, John Frankenheimers PROPHECY oder, wie Kren in Saarbrücken verriet, Ron Underwoods dann etwas späterer, aber nicht minder gelungener B-Film-Spaß TREMORS (deutscher Titel-Zusatz: IM LAND DER RAKETENWÜRMER). Wobei diese Filme selbst wiederum als Neuauflagen u.a. des Atomic-Horror- und Sci-Fi-Subgenres der 1950er (etwa: Gordon Douglas‘ THEM! von 1954) zu betrachten sind, und Carpenters THE THING ist ja auch Remake des DINGS AUS EINER ANDEREN WELT von 1951 (Regie: Christian Nyby u. Howard Hawks). Eines, dass wiederum 2011 nicht ganz überzeugend von Matthijs van Heijningen Jr. neu verfilmt wurde.

Kren also stellt sich mit seinem Film in eine große Traditionlinie, ist dabei auch eingedenk der Remake-Welle von 70er- und 80er-Genreerfolgen in Hollywood aktuell. Allerdings besteht er, so wie so besehen, ganz Fabelhaft vor den Vorbildern und den Wiederauflagen, einfach weil er etwas vielleicht nicht unbedingt Neues, in jedem Fall aber etwas Eigenes schafft und dabei einmal mehr nicht nur Händchen, sondern auch Köpfchen beweist.

Schon mit dem (im besten Sinne) M. Night Shyamalan’esken SCHAUTAG hat der 1980 in Wien geborene Regisseur zusammen mit seinem Drehbuchautor Benjamin Hessler 2009 eine verwickelte, eindringliche und clevere, dazu stilistisch gelungene „Gruselgeschichte“ vorgelegt, die prompt als bester Kurzfilm auf dem ansonsten nicht als übermäßig genre-affin verschrienen Max Ophüls Preis ausgezeichnet wurde. Der nächste Kren/Hessler-Knaller, der international für Aufsehen (und Vertrieb) sorgte, war 2010 der mittellange Zombie-Horror RAMMBOCK. Darin reist Unglücksrabe (Michael Fuith selbst Nachwuchsdarstellerpreisträger des MOP und bei BLUTGLETSCHER in einer Nebenrolle zu sehen) nach Berlin, um dort seiner Exfreundin den Wohnungsschlüssel zu bringen – und unversehens in die Untotenapokalypse zu geraten. Nicht nur handwerklich, von der Inszenierung bis zu Maske und den Effekten, ist dieser 60-Minüter erstklassig, sondern darüber hinaus witzig und originell: Die Handlung beschränkt sich auf (und nutzt erzählerisch mustergültig) ein Hinterhofmietshaus und dessen Örtlich- bzw. engen Räumlichkeiten. NIGHT OF THE LIVING DEAD meets REAR WINDOW quasi.

Dass Hollywood bei Kren daraufhin anklopfte, war nur folgerichtig. Ebenso, dass nun ein Langspielfilm gefolgt ist, der beim MOP in Saarbrücken im Wettbewerb lief, dort zwar nichts gewann, dafür aber die Herzen der Fans der guten (und manchmal gern auch nicht so guten) Horrorstreifen aus einer goldenen New-Hollywood-Ära und des postklassischen Kinos.

Entsprechend ist die Story von BLUTGLETSCHER (erneut nach dem Buch von Hessler) ebenso schnell erzählt wie sie für die Einschätzung des Films in Gänze an sich relativ nachrangig bleibt: Die Messstation einer Klimaforschungsstation in den Alpen fällt aus, und so macht sich die Hauptfigur, der grummelige Schrat Janek (Gerhard Liebmann) zusammen mit einem der Wissenschaftler auf, um erstaunt den zu beobachtenden schmelzenden Gletscher in ekligem Rot vorzufinden. Die Verfärbung rührt freilich nicht von Blut her, sondern von durchs schwindende Eis freigesetzten Mirkoorganismen, kleinen „Genlaboren“, die im Magen der Wirtstiere die DNS der von diesen gefressenen Lebewesen zu bizarren Mischwesen (stets mit gehörigem Insektenanteil) kombinieren, auf dass diese sich ihren Weg bahnen. Was natürlich die Forscher fasziniert, für diese aber ebenso zur Gefahr wird. Ebenso wie für den Besuchstrupp um die resolute Ministerin (großartig: Marvins Mama, die Theaterdarstellerin Brigitte Kren), der sich von unten im Tal anschickt, der Station einen Besuch abzustatten. Mit dabei: Janeks Ex Tanja (Edita Malovcic), die ihm dereinst das Herz brach.    

Den Fluch der Bergwelt an seinen Umweltpeinigern, dem Menschen, muss man als Öko-Botschaften nicht gar zu ernst nehmen (auch wenn hier und da tatsächlich nachdenkend machende Momente gibt, so wenn der gemütlich-bärtige Bergführer aufs kahle Felsenmeer verweist und sich traurig erinnert, wie er hier noch als Kind gerodelt ist). BLUTGLETSCHER ergeht sich, gottlob, nicht in AN INCONVENIENT TRUTH, bietet dafür eine nachgerade perfekte Spannungsdramaturgie. Ohne Langatmigkeit, insbesondere in Sachen Exposition, eskaliert die Situation zünftig vor sich hin und verliert sich doch nicht in blindwütigem Terror-Aktionismus, weiß sehr elegant auch das Menschelnde einzuflechten – und das sogar in einen gelungenen Schluss zu überführen bzw. mit dem Horrorstoff zu verbinden. Ein Schluss, der an den von RAMMBOCK einem: einem – je nach Auffassung – schwarzhumorigen oder tragisch-beklemmenden „Happy-End“, das den Film unversehens über den bloßen Monster-Fun hinaushebt, dorthin, wo etwa thematisch Larry Cohen mit seiner IT’S ALIVE-Trilogie (1974, 1978, 1987) uremotional grimmig anrührte.  

Bei aller effizienter Kameraführung, der Montage, dem einfallsreichen Soundtrack (-einsatz) und der Choreografie der Darsteller insbesondere in der Enge der Station, da diese als Box von außen attackiert wird, sind in BLUTGLETSCHER auf der einen Seite die Schauspielerleistung und -präsenz von Gerhard Liebmann (von seinem geliebten Hund hier mal zu Schweigen), auf der andere das Mischungsverhältnis von Ernst und Humor hervorzuhebe. Liebmann in Parka und Strickmütze gibt zwar einen Genre-Prototypen, stellt in seiner waidwunden Muffigkeit einen Kurt Russel jedoch leicht in den Schatten. Naturgemäß bleibt in solch einer Story, die auf äußere Aktion und Reaktion in einer Extremsituation hin angelegt ist, wenig Raum und Muße, die Figuren sich hin zu handfesten Charakteren entwickeln zu lassen. Kleine Skizzierungen müssen genügen und tun es hier auch, zumindest und vor allem bei Liebmann (und auch: bei Brigitte Kren): Blicke, Gesten, vor allem aber eine enorme Körperlichkeit, jeweils auch vom Kamerablick mitgeformt. In und über sie ist Liebmanns Janeck nicht aus Versatzstücken der Lässigkeit, der Misanthropie etc. grob zusammengesetzt wie aus einem Baukasten, sondern ergibt eine glaubwürdige, „organische“ Gestalt, von der verlotterten Trunksucht bis hin zum Verantwortungsbewusstsein. Auch B. Krens kalkuliert-freundliche bis herrisch wirsche Ministerin ist nicht nur ambivalent in ihrer Führungsrolle, die sie, als es hart auf hart kommt, beansprucht, dabei für den Zuschauer nicht eindeutig sympathisch oder unsympathisch gerät: Sie lässt diverse Facetten durchschimmern, so dass man sich sowohl ihre wie Liebmanns Figur durchaus – keine Selbstverständlichkeit, eher noch eine Ausnahme im reinrassigen Horrorfilm – in anders gelagerten Filmen (vom Familien- bis Politdrama) denken könnte und gerne anschauen würde. Nicht umsonst wurde Liebmann für die Rolle in der BLUTGLETSCHER mit dem Österreichischen Filmpreis 2014 ausgezeichnet, ebenso wie Krens Film dazu für den besten Ton und die beste Maske.

Was den Humor anbelangt: Da rennt jäh ein hübsches Mädel (Coco Huemer) von einer bestachelten Flugbestie verfolgt durchs Geröll. Wer sie ist (also die junge Frau!), woher sie kommt, was sie da will, dass ist sozusagen Kren und seinem Film aufreizend und augenzwinkernd egal; erklärt wird’s nicht – so ein sexy Girl in Shorts gehört halt dazu. Und ein Highlight überhaupt ist, wie Mama Kren wutschreiend einem mutierten Steinbock per Gesteinsbohrer zu Leibe rückt, auf dass das Blut nur so spritzt. Damit ist es allerdings schon genug, denn BLUTGLETSCHER ist zu keiner Zeit eine simple Parodie oder gag-versessene Aneinanderreihung von Zitaten und -dekonstruktionen, noch erschöpft er sich im bloßen Nachäffen der US-Genrevorbilder, wie das leider allzu oft bei europäischen und insbesondere deutschen Werken der Fall, Projekte, für die am liebsten gleich US-(B-)Gesichter gecastet und auf Englisch gedreht wird. Wie RAMMBOCK mit seinem Hinterhofhaus funktioniert BLUTGLETSCHER für Fans und Nicht-Fans auf aller Welt und hätte doch nicht (so) einfach irgendwo anders (selbst nicht in Amerika) entstehen können. Soll heißen, es ist nicht nur eine eigene Handschrift, die Krens Film auszeichnet, sondern auch eine Regionalspezifik, die BLUTGLETSCHER als Horror-Beitrag interessant macht. In diesem Sinne ist Hilde Beselers Erklär-Bär-Wissenschaftsvortrag über das, was da wie so mutantenmonstermäßig vor sich geht (eine Dialogpassage, die leider im Trailer den Eindruck vom Film ein bißerl zu versauen vermag), arg theatral-gestelzt und mithin der most cringeworthiest moment von BLUTGLETSCHER, dabei aber eben auch als lustvoll überzogenen genre-obligatorischer Standard betrachtbar und darüber hinaus: So deppert, sicherlich auch weil schlicht: hochdeutsch. Es ist das Österreichische, das den Film adelt, von der Sprache bis zum Gemüt und der lakonischen Konsequenz, die das Alpenrepublikskino gegenüber dem hiesigen so voraus hat. Wenn es also etwas an BLUTGLETSCHER zu beweinen gibt, dann dass er nicht taugt als leuchtendes Beispiel eine gelungenen individualistischen deutschen Genrekinos der blutigen Art. Bei RAMMBOCK hatte immerhin noch die Sigrid Hoerners Moneypenny Filmproduktion in Berlin und das Das kleine Fernsehspiel (Redakteurin: Katharina Dufner) die Finger im Spiel (außerdem ist Hessler Deutscher, so!).

Viel gekostet hat BLUTGLETSCHER nicht, gerade mal 2 Millionen Euro plus, lächerlich wenig oder erstaunlich, betrachtet man, was Kren damit auf die Beine gestellt hat. Zur Erinnerung: jeder Wald- und Wiesen-TV-Film hierzulande bringt es – ohne Alpenstation, Killerviehzeug und Metzeleffekten – auf rund 1,4 Mio. Möglicherweise wäre BLUTGLETSCHER, hätte man Kren das Zehnfache, das die Umsetzung des Ursprungsbuchs gekostet hätte, zur Verfügung gestellt, gar nicht so wunderbar geworden wäre. Sicher ist aber, dass man etwas Ordentliches für sein Geld bekommt, ob Filmfinanzierung oder Kinokarte. Auch das dürfte Kren so interessant für Hollywood und Co. machen.

Ob Tugend aus der Not, ob bewusste Entscheidung, was BLUTGLETSCHER nicht zuletzt und gerade als Schauerfilm außerdem positiv auffällt, ist, dass bei allem Monster- und Körperhorror Kren dezent in dem bleibt, was er zeigt. Es geht blutig und eklig zu, aber diese Schauwerte werden nicht ausgereizt, geschweige denn überzogen – in ein oder zwei Momenten wünscht man sich bei aller Mageninstabilität gar eine paar Sekunden längere (oder deutlichere) Betrachtung der Scheußlichkeiten. Aber es geht BLUTGLETSCHER eben nicht um derart unmittelbare, visuelle Viszeralitäten. Auf den Slasher-Film übertragen ist BLUTGLETSCHER eher HALLOWEEN als FRIDAY THE 13TH, sind Verwundung und Mutation im Zweifel eher Mittel zum (statt Selbst-) Zweck, schockhafte Auflösung der Spannung, Buh!-Überraschung oder ambivalentes Mitleid angesichts von Deformationen. Alles in (richtigen, ggf. Unter- als Über-) Maßen, denn was Kren versteht und herzustellen weiß, ist, was letztendlich die wahren Meisterwerke von beliebiger Schmuddelduzendware abhebt: dichte Atmosphäre.    

Dazu gehört auch, dass die Kreaturen weitgehend nicht aus dem Computer stammen, sondern in guter alter Manier richtig gebaut sind, physisch anwesend vor der Kamera statt nachträgliche Pixelmonster, mithin nicht von ihnen zu viel preisgegeben wird, auf dass man sich daran nicht übersatt sehen könnte. Das unterstützt die saftige Taktile des Films –  wunderbar realistisch mutet die übergroße Kellerassel an –, hat aber auch in klitzekleinen, je passenden Momenten den Charme mal Ray Harryhausen’scher Monsteranimation, mal der Augsburger Puppenkiste, was Kren und Monteur Daniel Prochaska per Schnitt in sichtbarer Hingabe gut im Griff haben, um die Ungeheuer und ihre Erscheinung ebenso wie alles andere der Geschichte, der Szenendramaturgie und ihrer Gesamtwirkung unterzuordnen, statt einfach nur auszustellen.

Kurzum: BLUTGLETSCHER ist ein großes, wiewohl ein ernstes Vergnügen, mehr als nur solide, stimmungsvoll und ohne Kokolores. Ein Film, den dankenswerterweise die noch junge Filmverleihgenossenschaft Drop-Out-Cinema als solchen erkannt hat und hierzulande ab 6. Februar in die Kinos bringt. Anschauen!

Die Webseite zu BLUTGLETSCHER mit Trailer, Regiestatements etc. finden Sie HIER.

Bernd Zywietz
         
     

MOP 2014: Überrascht


Zum Filmfest Max Ophüls Preis 2014 (I)

Eigentlich fast schade: Erst die Schelte verleiht dem Lob seinen Wert. Und wer insbesondere als Kritiker und/oder Festivalberichterstatter immerzu nur positiv gestimmt daherkommt, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Sei es, weil er in den Ruch gerät, euphorischer Selbstblendung zu unterliegen, sei es, weil er als bewusster Claqueur verdächtigt wird. Beim 35. Filmfestival Max Ophüls Preis (MOP; 20.-26. Jan.) waren nun mal aber unter den Wettbewerbslangfilmen verblüffend viele gute Beiträge. Und selbst die, die nicht so geglückt waren (etwa DER BLINDE FLECKT, Daniel Harrichs Politthriller über das Oktoberfestattentat 1980 und die fragwürdigen Ermittlungshintergründe; mehr dazu demnächst hier) sind doch (zu was) gut.

Von den sechszehn Beiträge überzeugte also schon eine deutliche Überzahl; mehr als in einem der Vorjahre. Die neue Qualitätswelle des deutschen (bzw. deutschsprachigen) Kinos setzt sich damit 2014 fort. Woran das liegt oder besser: wie genau sich das ausdrückt, versinnbildlichte das diesjährige Festivalplakat: Kein Küken, sondern ein ausgewachsener Greifvogel schlüpft da, die Klauen schon ausgestreckt, aus einem Ei mit MOP-Logo.

Das ist nun vielleicht insofern passend, als mancher der Filmemacherinnen und Filmemacher schon mit großen und kleinen Projekten in Saarbrücken war, sich dort entwickeln konnten. Mehr aber gilt: Die präsentierten Werke – MOP hin oder her – zeichnen sich durch eine bemerkenswerte kreative und handwerkliche Reife aus. Selbst wenn Thema und Ansatz (auf den ersten Blick) wenig Innovatives verheißen: diese wurden originell aufgegriffen, erzählerisch gekonnt verpackt und/oder ästhetisch umgesetzt. Von den vielen SchauspielerInnen-Entdeckungen ganz zu schweigen...

So kann man 2014 (wie sonst) natürlich streiten, ob dieser oder jener Film einem gefallen hat. Dass die meisten der Nachwuchsregisseure mit ihren Teams aber wissen was sie wollen und sich souverän darin zeigen, es auch (hin-) zu bekommen, dass dieses zusammen besehen erfreulich bunte Angebot so frisch und relativ unverbraucht ausfällt, das untergräbt gehörig das Bild von den selbstzentrierten, verkünstelt-irrlichternder Kinofeingeistern und unreifen Praxis-Dilettanten mit unfertigen Ideen, die die Filmhochschulen angeblich alljährlich auf den Markt spucken, auf dass sie deutsche Kinos verstopfen. Es mag auch als ein Zeichen für eine frische Brise nicht zuletzt in den Fernsehredaktionen sein, die ja viele der Projekte mitbetreuen bzw. (co-)finanzieren. Möglich allerdings auch, so die gegenläufige Lesart, dass ein neuer, rauer Wind bläst, dass es doch mit dem deutschen Nachwuchs en gros überhandnimmt, so dass gerade die Festivals ihre strikten Erstaufführungsregeln lockern (vor allen in Konkurrenz zu München und Berlin) und gerne auch (bzw. notgedrungen) jene Filme präsentieren, die es in sich haben, was sie woanders schon beweisen konnten. Schon das letzte FILMZ – Festival des deutschen Kinos (November 2013 in Mainz) und nun eben Saarbrücken präsentierte mit einigen ihrer Wettbewerbsbeiträgen keine Premieren. Beim MOP darunter der Hauptpreisträger LOVE STEAKS von Jakob Lass, der zuvor in München bereits alle Nachwuchsauszeichnungen erhielt.

Man kann es aber interpretieren, wie man will (sogar als Beleg für die Mut-, Saft- und Visionslosigkeit der allzu vielen deutschen Hochschulfilme, auf die langsam sogar die Festivals nicht mehr unbedingt Lust haben). Ein Gewinn fürs Publikum ist und war das Programm (in Mainz wie Saarbrücken) jedoch auf jeden Fall. Und was in Sachen „Chance“ und „Vielheit“ verloren gehen mag, das tut vielleicht – aber nur vielleicht – dem deutschen Film auch in dieser Ecke der Kinolandschaft ganz gut. Ein bisschen aufmerksamkeitsdarwinistischer Konkurrenz- und Selektionskampf. Weil es nicht nur dem Renommee des und der Geschmacksbildung hin zum hiesigen Films zuträglich sein mag (so wenn die wirklich sehenswerten Produktionen noch mehr aus dem Meer des Mittelmaßes hervorgehoben werden), sondern auch, weil es Filmemacher und Förderer auf richtige Weise anspornen könnte. Sprich: Wenn ein Preisregen für LOVE STEAKS geeignet ist, ihn in Sachen Zuschauerneugier und Besucherzahlen an FACK JU GÖTHE und KOKOWÄÄH heranwachsen zu lassen, dann ist nichts Schlechtes daran. In diesem Sinne war auch jedes Klagen über den „Hype“ um OH BOY verquer als Plädoyer fürs interessante deutschen Kino...    

Zurück nach Saarbrücken. Für die Beobachtung dieser (vieleicht doch nicht so neuen) Qualität im aktuellsten hiesigen Film hilft, dass nicht unbedingt das aufgegeben wurde, was man als „deutsche Filmfest-Genres“ zu bezeichnen wäre. Natürlich gab es auch 2014 die unvermeidlichen Comic-of-Age-Tragikomödie, die Boy-meets-Girl-Turbulenz, das enigmatische Drama in gepflegter Aufmachung, bei dem man auf den ersten Blick nie so recht weiß, um was es (ihm) denn so geht, der Historienfilm, oftmals um der deutschen liebste Katastrophe, die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg. Der Emigranten-Problemfilm, die Ausländer- (oder Culture-Clash-)Komödie, der Lebenlustige-junge-Frau-in-existenziellen-Nöten-Film usw. Derlei gab es beim MOP erneut zu besichtigen, in diversen Variationen und Kombinationen – und nicht trotz, sondern gerade weil man von derlei Geschichten und ihren Verpackungen und Einfassungen schon so viel gesehen hat, war der 35. Max Ophüls Preis ein Genuss, hat man doch all die Jahre viel zu oft Beispiele serviert bekommen, die einen allzu oft die Achsel zucken ließen. Anders nun als dieses Jahr.


Was etwa die Wirren und Gräuel des Zweiten Weltkriegs als beliebtes (Filmförder-) Historiensujet betrifft, hat sich jenseits des Guido-Knoppismus sowieso schon viel getan. Der TV-Zweiteiler UNSERE VÄTER, UNSERE MÜTTER machte vergangenes Jahr schon viel richtig (wenn auch u.a. nicht unbedingt den Titel …). In Saarbücken kam nun Rick Ostermann (Buch u. Regie) und geht mit WOLFSKINDER (lief bereits in Venedig) noch ein gehöriges Stück weiter. Ohne Degeto-Seidenmattheit, ausgestellter Melodramatik und wohlfeiler Schreckenszelebrierung befasst er sich mit Thema, das angetan wäre, skeptisch zu werden: deutsche Kinder, die auf sich allein gestellt, von russischen Soldaten gesucht auf dem Balkan, durchschlagen müssen. Der Krieg ist zwar offiziell schon vorbei, aber weder sind für die Protagonisten derlei historische Großrahmungen von irgendwelcher Bedeutung, noch, so zeigt der Film, ist das große Wüten hier, das unbarmherzigen Ausputzen da, zumindest abseits der großen Schlachtfelder, sinnig zu trennen. Und zumindest, wenn für die kleinen Menschen die simple wie fürchterliche Formel gilt: Leben = Überleben.

Darum geht es nämlich in WOLFSKINDER, und darum geht der Film einem an die Nieren. Denn gezeigt werden weniger große Jungen- und Mädchenaugen, die leidend das Geschehen betrachten, seine Opfer werden. Sondern wie eben diese Jungen und Mädchen selbst mitspielen in diesem Fressen-vor-Moral-Spiel – eine unbehagliche Form der Adaption, einem funktionalen Erwachsenwerden. Bis hin, dass sich ein Mädchen, nachdem sich einer der Schutz bietenden Partisanen an ihr vergehen wollte, die braven Zöpfe mit dem Taschenmesser abschneidet.

Von zwei Brüdern handelt WOLFSKINDER (zunächst). Aber Ostermann kehrt die übliche Konstellation um, freilich, ohne sich dabei in einem lediglich spiegelverkehrten Schematismus zu ergehen: Nicht der Ältere, Hans (Levin Liam), muss als Vaterersatz dem Kleinen die Härte des Daseins anerziehen, es ist der jüngere Fritz (Patrick Lorenczat), der kühl und unter größter Gefahr ein Pferd stielt, um sich hernach anzuschicken, es zu erschießen, derweil der große Bruder das noch versonnen streichelt. Mit blutigen Fleischklumpen, herausgeschnitten aus dem toten Tier, laufen sie zur Mutter, die im Versteck auf dem Krankenlager liegt. Von dort aus trägt sie den Jungen auf: sich zu einem Bauernhof durchzuschlagen, wo sie schon mal Unterschlupf fanden, dabei ja nicht ihre Namen zu vergessen, nicht, wer sie sind. Am nächsten Morgen rüttelt Fritzchen den Hans wach und meint, knapp, sachlich-beiläufig, während er sich schon abwendet: „Die Mutter ist tot“. Es ist nicht der letzte Moment in diesem lakonischen Film, der einem einen Schauer über den Rücken jagt. Hans und Fritz machen sich auf den Weg, Hans verliert den kleinen Bruder, findet andere Gefährten, zwei Mädchen, ein Bub ohne Schuhe... WOLFSKINDER ist ein Film über eine Odyssee oder verheißendes Ziel. Bewegung heißt fliehen und zugleich: am Leben bleiben.

Wie Fritzchen gerade kein kleines Monstrum ist, wie Härme und Pragmatismus das Kindliche gerade nicht ausgelöscht haben, das zeigt Ostermann übertragen auf das wahrliche Grauen, jedoch tut er es mit einem neugierigen, bisweilen gar faszinierten Blick. Einer, der die Auflösung von Ordnung und Menschlichkeit weder hehr anklagt, noch allzu cool ausstellt, sondern der notiert, dazu den der Kinder ohne Naivität auffängt. Es ist keine Zeit (mithin kein Film) ausschließlich der guten und, auf der anderen Seite, der unbarmherzigen Herzen, der Geschäftsmäßigkeit oder der Güte, des Kalküls oder des barbarischen Wütens, der Verrohung oder der gesitteten Zivilisation – einer Zivilisation, deren Spuren die Kindern in Form von verdreckten Strickpullundern und Kleidchen noch fadenscheinig am Leib tragen. Es ist eine unheimliche Ambivalenz, die WOLFSKINDER auszeichnet, denn sie kommt ohne überdeutliche Brutalitätsdarstellungen aus, findet dafür oder stattdessen andere, eindringlichere Bilder und Situationen: Wie ein Bauer die kleinen Flüchtlinge aufnimmt – und stumm dreinschauend den Suppenteller nicht rüber reicht, ehe Hans versteht und die Puppe eines der Mädchen an die Tochter des Hausherren als „Bezahlung“ geht, die sich glücklich daran erfreut. Und nur einmal sieht man die geworfenen Kinder sich wirklich wie Kinder unterwegs freuen, lächeln, lachen: wenn sie sich die rohen, blutigen Fleischstückchen hungrig in den Mund stecken, die Hans ihnen von einem gefangenen und getöteten Huhn abschnippelt.

Weniger geht es Ostermann in diesem Sinne um den großen Handlungsbogen, sondern um Stationen, um das Episodische (und zugleich: nachgerade Märchenhafte), das hier ein realistisches ist, eines der existenziellen Krisendaseins. Ein Bauer kommt auf einen Karren vorbei. Deutet auf einen der Knaben. Der ihm prompt übergeben wird, gereicht in welche Zukunft auch immer, als Arbeitsknecht oder Ersatzsohn unter neuer Identität. Wie andere Figuren verschwindet der Bub damit aus der Handlung. Haben sie Glück gehabt, sind davon gekommen? Und auch die Fotografie des Films (Kamera: Leah Striker) fügen sich in diese Gesamtwahrnehmung, in dieses Weltbild. Sicher, Soldaten sehen wir, die auf Kinder schießen, knapp eine ermordete Bauernfamilie vor ihrem Haus, die Frau offenbar vergewaltigt. Aber auch wunderschöne Bilder, die der Balktikumlandschaft, idyllische Birkenwälder, Schilfufer in einem spätem Sommerlicht. Wie jene Natur in Terrence Malicks THE THIN RED LINE ist diese poetische Herrlichkeit, Kontrast zur und zugleich Ergänzung von menschlichen Verheerung, tröstlich in ihrer Pracht und schrecklich in ihrer Ungerührtheit. WOLFSKINDER ist ein prächtiger und zugleich karger, vor allem ein unheimlicher Film, macht er doch bisweilen eindringlich erfahrbar, was Krieg und Chaos innerlich anrichten; gerade: wie und wenn man sich damit arrangiert. Und insbesondere, wenn es (und weil es) innerhalb dieser (Post-)Kriegswelt nichts mehr zu beklagen gibt, sondern höchstens nur eine stumpfe Ahnung von Trauer. Allerdings: WOLFSKINDER ist kein grimmiger Film, einer der Hoffnung macht und das Humane nicht verloren gibt. Selbst wenn Hans seinen Fritz am Ende wieder findet und ihn doch schon verloren hat.

Der „Augenpippi“-Film des MOP 2014, bei dem auch gestandene Männer „was im Auge“ hatten, war Frederik Steiners (bereits in Hof gezeigter) Film mit dem etwas harschen Titel UND MORGEN MITTAG BIN ICH TOD sowie mit einer glänzenden, ans Herz gehenden – nein, nicht Jasna Fitzi Bauer, sondern – Liv Lisa Fries, die in Saarbrücken prompt den Nachwuchsdarstellerinnenpreis gewann. Fries spielt die 22-jährige Lea, die an unheilbarer Mukosviszidose leidet, stets schnaufend und keuchend ihre Sauerstoffflasche dabei hat. Nach Zürich fährt sie, um dort ihrem Leben ein selbstbestimmtes und würdevolles Ende zu setzen. Ihre Familie, Mama, Schwester, Oma lässt sie per SMS nachkommen für den gemeinsamen Abschied, und dass ihre Mutter wenig freudig auf die Entscheidung der lebenslustigen, aber totgeweihten Tochter reagiert, ist ebenso verständlich wie dramaturgisch konfliktreich.

Dem Traurigen von Leahs Geschichte setzt der Film ihren Galgenhumor entgegen, wie überhaupt einen manchmal grimmigen, immer aber feinfühlige Witz. Dazu bieten Steiner und seine Autorin Barbara de Kock nicht nur glaubwürdige Einblicke in die Verfahrensweise der Sterbehilfe, sondern spielen auch mit den Handlungsstandards: Im kleinen Hotel lernt Leah den sarkastischen Moritz kennen, der psychologische Probleme hat; der Arzt, der sie entjungfert und ihr das Herz gebrochen hat, reist nach. Doch das sind nur dramaturgische Spielereien mit den Erwartungen, sogar Hoffnungen der Zuschauer auf eine wundersames Happy End. Für ein solches ist UND MORGEN MITTAG BIN ICH TOT, bei allen „manipulativen“ Griffen (wie der Musik, die manches Mal vielleicht ein bisschen zu sehr weiß, was sie emotional anrühren will), freilich zu ehrlich und konsequent. Nicht nur in seiner Form, sondern auch in seiner (offenen) Haltung.

So bleibt man tatsächlich bis zum Ende und darüber hinaus zwiegespalten, weiß man doch nicht, was man (sich) dieser liebgewonnenen Leah (er)wünschen würde, was das Beste für sie und ihre Familie (und: für sich als Zuschauer) wäre. Einwenden ließe sich, dass das Traurige in seiner Melodramatik den ambivalenten Blick aufs extreme Thema „Entscheidung für den Tod“ ein wenig verstellt. Aber wie Steiner und seine Darsteller im klugen „Mitternachtstalk“ zum Film verdeutlichten, ist die Auseinandersetzung damit ohnehin je eine des Augenblicks, jeweils ein Einzel- und deshalb UND MORGEN MITTAG BIN ICH TOT eben ein Glücksfall. Weil er sich selbst nicht nur einer eindeutigen Position verweigert, sich selbst seiner Antwortlosigkeit bewusst ist, sondern so warmherzig wie überzeugend in seinem dramaturgischen Changieren für beide Optionen „spricht“ und darin unaufdringlich und mit leichter Hand Respekt für Todgeweihte und ihren Entschluss, bei dem es per se kein richtig und falsch gibt, fordert.  


SITTING NEXT TO ZOE: Zwei pubertierende Mädchen, 15-jährige beste Freundinnen. Die türkischstämmige Asal ist die ruhige, etwas schüchterne, gut in der Schule, darf dafür aufs Gymnasium. Die andere, Zoe, ist pummelig, fährt ganz auf schrille Klamotten und ausgefallenes Make-up ab, wird von Mama genervt und mag deren neuen Freund nicht und sieht einer freudlosen Zukunft als Supermarktkassiererin entgegen. Dann entdeckt Zoe einen Fashion-Wettbewerb, dessen Gewinner eine Ausbildung in einer tollen Pariser Schminkschule winkt, und Asal verliebt sich in einen feschen Schweden-Boy, mit dem sie und Zoe zu einem Wanderwochenende aufbrechen.
Kennt man alles, die Probleme und Gefühlswirren, ob Junge oder Mädchen, vom eigenen Erwachsenwerden, mehr aber noch: von anderen Coming-of-Age-Filmen vor allen auf Festivals. Aber: Pustekuchen! Na ja, nicht ganz, denn tatsächlich, natürlich erzählt Regisseurin Ivana Lalović zusammen mit ihrer Co-Autorin Stefanie Veith im schweizerischen SITTING NEXT TO ZOE vom Immergleichen jener Reifungszeit, in der Eltern sowieso nie irgendwas kapieren. Aber wie beschwingt und zugleich zwingend, auf den Punkt hin, sie das tut, das nimmt ein. Hinreißend die hübsche Leah Bloch, für die Rolle der Asla ohne Kameraerfahrung von der Straße weg engagiert; wie sie im Spiel zurückgenommen und zugleich herzzerreißend leidet, wenn ihr nach der ersten (und einzigen) Nacht der schmucke Kai die kalte Schulter zeigt, und sie, notgedrungen, daran verzweifel und hernach wachsen muss, ohne dass die Seelenschrammen ganz verschwinden. Passgenau stimmungsvoll dazu die Songs (wie der herzschmerzwehmütige „Love is a Film“ von The Playgrounds), die Kamera, das Licht. In kleinen Szenen und Konflikten wie in den großen Entwürfen der Orientierungslosigkeit bleiben Veith und Lalović geerdet, humorvoll und ernst und doch auch immer – ganz passend – ein bisschen träumerisch, ein bisschen stürmisch. Die richtige Atmosphäre und Perspektive, den nicht neutralen, aber dafür umso glaubhafteren Blick für die Hormon- und Sehnsuchtswallungen, die einen in einer solchen Zeit um- und antreiben, solche, die rückschauend stets etwas albern und überzogen erscheinen, all der Kummer, all das Schmachten, all der Krach, die aber dafür umso klarer und reiner waren (was natürlich manch abgeklärten Erwachsenen heimlich neidisch macht oder traurig ob des Verlusts).

Dass SITTING NEXT TO ZOE, der viele Lebenssorgen und Glücksmomente einfängt, ohne konstruiert zu wirken, denn auch am Ende ein wenig melodramatischen Überschwang hat und sich ein kleinbisschen Zauber-Schluss nicht verkneifen kann (oder will), zeigt nur, wie hingebungsvoll sich die beiden erwachsenen Frauen selbst trauen, in der Welt ihrer zwei jungen Protagonistinnen ein- und aufzugehen. Und wie wissend-witzig dahingehend SITTING NEXT TO ZOE in seinem Sprachengemisch (Deutsch, Schwizerdütsch, Englisch, Türkisch, Schwedisch) gerät, belegt die – zunächst, und vor allem von Frauen im Kinopublikum belachte – „Rache“ Asals und Zoes an den zickigen hochnäsigen Klassenkameradinnenschönheiten, die auf die coole Party der Heldinnen wollen – indem diese dafür ihre hochhackigen Schuhe draußen lassen müssen. Wie sich das auf/für Jungs „übersetzen“ ließe, ist freilich, aller geschlechterübergreifender Kollektiverfahrung der Pubertät, eine andere Frage ...  

(Zum MOP 2014 hier demnächst mehr)

Bernd Zywietz

Illusion in Mannheim

"Illusion", der neueste Film aus der Roland-Reber-Factory, ist eine trashig-philosophische Mischung aus Traum und Erotik. Am 24.1. wird der Film im Mannheimer Cineplex gezeigt inklusive anschließender Diskussion mit der Darstellerin Carolina Hoffmann und Darstellerin und Produzentin Marina Anna Eich.

Eine Kritik zum Film von unserem Redakteur Harald Mühlbeyer HIER.

Festival-Nominierungen für NACHTSCHWÄRMER


Alexander Griesser und Michael Schwarz sind als Nachtschwärmer wieder auf Festivaltour; dies nominiert und obendrein mit gleich zwei Werken. 

Auf dem Landshuter Kurzfilmfestival wird im März PETER RIST, IDEALIST ins Rennen um den besten Dokumentarfilm gehen, während der zweieinhalbminütige Experimentalfilm COLOR VICTIM für den Kurzfilmwettbewerb ausgewählt ist.

Zuvor allerdings hat COLOR VICTIM noch seine Festivalpremiere: am 18. Januar auf den 15. Dresdner Schmalfilmtagen im internationalen Contest. Wenig verwunderlich, scheint COLOR VICTIM wie gemacht für das 8- und 16mm-Festival „für experimentelle Filmkunst, Heimkino, Trash und klassischen Independent-Film“. In allen diesen Bereichen dürfte sich COLOR VICTIM jedenfalls wohlfühlen mit seinen schön-schaurig nostalgischen Kodak-Heimimpressionen einer lang vergangenen Weihnachtsfeier, die mit modernen Heimschmuckbasteltipps auf der Tonspur sowohl unterlegt und wohlig ergänzt wie zugleich kontrastiert, irritiert und konterkariert werden.  

Darauf ein Prösterchen!
  
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Februar im CinéMayence

Das CinéMayence (Schillerstr. 11, 55116 Mainz) präsentiert im Februar ein spannendes Programm. Inklusive dem formidablen DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN, der im November auf dem FILMZ - Festival des deutschen Kinos zu sehen war. Wer Ramon Zürchers überraschendes Werk dort verpasst hat, halt also vom 13. bis 19.2. noch mal die Chance...

Das Februar-Programm des CinéMayence:

Do, 30.01. – Di, 04.02., 20:30 h
Bosnien / Roma
»Aus dem Leben eines Schrottsammlers«
Spielfilm von Danis Tanović, Bosnien & Herzegowina 2012, OmU
Am Do, 30. Januar anschließend Diskussion in Kooperation mit Medinetz Mainz und Save Me

Mi, 05.02., 20:30 h
Die Welten des ersten Weltkriegs im Film (Teil 7)
»Çanakkale 1915«
Spielfilm von Yesim Sezgin, Türkei 2012, OmU
Referent: Prof. Dr. Johannes Paulmann

Do, 06.02., 18:00 h
Gedenktag
»Der Jude mit dem Hakenkreuz«
Dokumentation von Mathias Haentjes, D 2007
Anschließend Zeitzeugengespräch mit einem der Protagonisten

Do, 6. – Mi, 12.02. , 20:30 h
Film français
»Les Salauds (Dreckskerle)«
Spielfilm von Claire Denis, F/D 2013, OmU

Do, 13. – Mi, 19.02., 20:30 h (Fr, 14. 18:00 h)
Neues deutsches Kino
»Das merkwürdige Kätzchen«
Spielfilm von Ramon Zürcher, D 2013

Fr, 14.02. , 20:30 h
Psychoanalytiker stellen Filme vor
»Le Havre«
Spielfilm von Aki Kaurismäki, FIN/F/D 2011, DF
 
Do, 20. – Mi, 26.02., 20:30 h
Cinema Latino
»Tiempos menos Modernos (Nicht so moderne Zeiten)«
Simon Franco, ARG/Chile 2012, OmU


zyw

SHERLOCK 3.0

Achtung: moderate Spoiler!

SHERLOCK mag vielleicht nicht DIE beste Serie in der aktuellen Schwergewichtsarena des anglo-amerikanischen „Quality-TV“ sein, sicher aber eine der souveränsten. Zumindest, was die Selbstreflexivität anbelangt. Und es ist zu bemerken, dass es sich bei der von Mark Gatiss und Steven Moffat kreierten Serie eigentlich um eine Fernsehfilmreihe handelt. "Quality-TV", eher ein Genre-Begriff als eine Wertung, zeigt sich mithin ländertypisch in seinen Sendungsformaten (wie Deutschland setzt das britische Fernsehen, v.a. die BBC stärker als die USA auf Mini-Serien, Mehrteiler und Einzelfilme, auch wenn es hier wie da Gegenbeispiele gibt). 


Während sich Martin Freeman alias Watson und Benedict Cumberbatch aktuell noch im Blockbusterkino als Bildbo und Schmaug gegenüberstehen (Cumberbatch liefert im Original seine Stimme für den Drachen im zweiten HOBBIT-Teil), ist am Neujahrstag in der BBC der erste Part der dritten Staffel von SHERLOCK über die Leinwände geflimmert. Mit phänomenalen Einschaltquoten. Die zweijährige Wartezeit der Kultreihe, die Arthur Conan Doyles Meisterdetektiven grandios – und mit viel Selbstironie - in die Neuzeit verlegt hat sich gelohnt, insbesondere wegen des Endes der letzten Season.

Sherlock, man erinnere sich, stürzt sich, von Erzfeind Moriarty (im wahrsten Sinne ausgezeichnet: Andrew Scott) bedrängt und um seine Freund zu schützen vom Dach des St. Bartholomew Hospitals in den Tod, schlägt auf dem Bordstein auf, alles vor den Augen des entsetzten Watson. Doch, natürlich, Holmes lebt. Nur wie? 

Die lange Pause zwischen Staffel 2 und 3 vertrieb sich die glühende Fangemeinschaft mit Spekulationen, wie Sherlock wohl seinen „Reichenbach“-Fall überlebt hat. Wildes Spekulationen machten die Runde, und kurzzeitiges Aufsehen erregte Jonathan Creek-Darsteller Alan Davies, der eine Falltür im Boden als Idee anführte – entsprechend einem Plot-Einfalls aus seiner Serie. Doch von SHERLOCK-Produzentenseite her wurde der Einfall freundlich ins Abseits verwiesen. 

Gatiss, nicht nur Autor der ersten Folge der dritten Staffel, sondern auch Darsteller von Sherlocks Bruder Mycroft, wartetet nicht etwa mit einer besseren Auflösung auf, sondern mehr noch: mit praktisch gar keiner definitiven. Die ersten Minuten von THE EMPTY HEARSE liefern sofort eine Erklärung, eine freilich, die so haarsträubend in ihrer Mission-Impossible-Manier ist, dass man am liebsten abschalten möchte. Aber natürlich sind die SHERLOCK-Macher auf der Höhe der Zeit ... und so entpuppen sich die Version von Sherlocks vorgetäuschten Tod hanebüchene Spekulation innerhalb der Diegese, die, wie so oft bei derlei Spekulationen, am meisten eben etwas über den Spekulierenden aussagen.

Sogar homoerotische (Meta-)Varianten bekommen wir im Verlauf der Folge dargeboten (heißt: filmisch präsentiert): eine „Zusammenarbeit“ von Holmes und Moriarty inklusive Shlash-Fanfiktion-Liebeserkenntnis. Was sich freilich ebenso als Hirngespinste oder Erzählung innerhalb der Erzählung entpuppt, mithin: als unzuverlässig. So unzuverlässig, wie letztlich auch Sherlocks eigener Bericht. 


Hierin liegt freilich der Reiz von SHERLOCK – THE EMPTY HEARSE: Der Einbezug des Denkens über Sherlock in und als Fiktion selbst. Und gar die letzte, die plausibelste Version, bezieht das Medium Film/Fernsehen mit seiner Zweidimensionalität ein: Sherlocks Aufschlag auf dem Zement wurde schließlich von einem Gebäude verdeckt. Ein Gebäude, freilich, das als solches nicht auf der 2-D-Fläche des TV-Schirms wahrnehmbar wäre.

Letztlich sind aber all die Spekulationen ohnehin müßig, denn was die Theoretiker weithin übersehen ist, dass ja handlungslogisch Sherlocks Sturz nicht Watson galt, sondern Moriartys Scherken in die Irre zu führen, die ja von Gott weiß wo aus hätten zuschauen können... 

Aber SHERLOCK hantierte schon in der letzten Staffel mit Unwahrscheinlichkeiten und Plot-Löchern, die man angesichts der Screwball-Geschwindigkeit der Handlung und der geschliffenen Gewitztheit der Dialoge gerne und leicht übersah. Auch zum Auftakt von Season 3 sollte man nicht alles allzu viel auf den Plausibilitätsprüfstand stellen. Und am überzeugendsten sind ohnehin die Soap-Effekte. Holmes Wiederkehr und sein Arrangieren mit Watson, der immer noch um ihn trauert und anschließend gehörige Wut auf den Meisterdetektiv und Sozial-Autisten. Dabei gehen die Macher auch hier clever vor. Watsons Schnurrbart wird – wenn auch etwas zu Tode geritten – als Referenz an all die anderen Holmes/Watson-Verkörperungen thematisiert. Derweil in einem charmanten wie psychologischen interessanten Zug Watsons Verlobte Mary (Amanda Abington) gerade in dem Gegensatz und in Abgrenzung zur weiteren erfolgreichen S.H.-Neuauflage, den zwei Filmen mit Robert Downey jr. und Jude Law, Sherlock als Person durchaus mag. Man darf also gespannt sein, wie es in der Ersatzfamilientragikomödie weitergeht ...

Hier wie bezüglich der anderen Punkte SHERLOCK nicht nur auf das, was über die Figur auf Meta-Ebene diskursiv verhandelt wurde und wird, sondern eignet sich auch Kinoszenarien bis auf hin zu den Bildern an: Der – freilich dürftig daher erfundene Terrorplot – bedient sich lässig bei V FOR VENDETTA, und wenn Holmes bei seiner Rückkehr dramaturgisch unmotiviert und symbolstark den Blick über die Dächer von London streifen lässt, steht er an exakt derselben Stelle und tut dies genau wie Daniel Craigs James Bond in dem halbgaren SKYFALL, der 007 auch zwischen Reminiszenz und Neuausrichtung neu und zugleich alt-traditionell im direktesten Sinne verortete. So fragt man sich gar, ob nicht ein Cross-Over zwischen den James-Bond-Filmen und dieser SHERLOCK-Serie als den Exportschlager-Helden des Empires geboten wäre.

SHERLOCK, unter der Regie von Jeremy Lovering (IN FEAR), inszeniert denn auch nicht nur Sherlocks Ermittlungsgedanken visuell in erstaunlichem Retro-Look jenseits hipper visueller Griffe (sondern u.a. mit altmodischer Direktprojektionen auf den Darsteller): THE EMPTY HEARSE selbst inkorporiert die kooperative Tüftel-Welt des Web 2.0 und des „forensic fandoms“ gleich selbst, insofern hier die Interpretations-Fangemeinschaft selbst vorkommt wird, wie sie in und mit ihren „Verschwörungstheorien“ Realität in der Beschäftigung mit modernstem Fernsehen, mithin -serien, ist. 

SHERLOCK erweist sich in der ersten Folg der dritten Staffel denn auch zum einen in seinem Austarieren zwischen Krimi und Soap (letzteres mit größerer Überzeugungs- und Unterhaltungskraft), sowie in seinem Einbezug auf bzw. Positionierung im web- und popkulturellen Drumherum (um den eigenen „Markenkern“) als ein phänomenales Produkt eines Web 3.0, das nicht zuletzt in seiner amüsanten Lässigkeit gegenüber den postklassischen „Quality-Serien“ aus den USA einen enormen Vorsprung hat, ohne sich in transmedialen Erzähl-Mätzchen zu verlieren.

Cumberbatch ließ verlauten, nach dieser dritten Staffel sei für ihn Schluss. Eine Schande wäre es. Vielleicht kann ihn die Queen persönlich umstimmen? Sein SHERLOCK jedenfalls ist mehr als nur auf der Höhe der Zeit.  

zyw

Grindhouse-Nachlese November und Dezember 2013 – Fragmente an Sinn und Material

30. November 2013, Cinema Quadrat, Mannheim:

„Five Dolls for an August Moon“, Italien 1970, Regie. Mario Bava.

„Long de ying zi“ / „Bruce Lee - Der Unbesiegte“, Taiwan 1981, Regie: Bruce Li.


28. Dezember 2013, Cinema Quadrat, Mannheim:

„I crudeli“ / „Die Grausamen“, Italien/Spanien 1967, Regie: Sergio Corbucci (abgebrochen)

„Emmanuelle“ / „Emanuela“, Frankreich 1974, Regie: Just Jaeckin (nicht gezeigt)



Man hört so mancherlei über die neue digitale Kinotechnik. Hinter vorgehaltener Hand beklagt sich der Vorführer bei den Hofer Filmtagen heftig über die Schwierigkeiten mit dem Material, über das langwierige Überspielen auf Festplatte, über zu beschaffende Freischaltungsschlüssel, über den ganzen logistischen, organisatorischen, technischen Krams, der in der Hektik eines Festivals kaum zu schaffen sei. Und bei FILMZ in Mainz, so heißt es, sei ungefähr jeder Film verpixelt, verzerrt, flackernd gelaufen, weil die digitalen Daten sich nicht an das hielten, was die Filmemacher vorhatten.

Andererseits: Der Kurzfilmwettbewerb des diesjährigen Exground-Festivals verzögerte sich um gut zwei Stunden, weil – jawohl: Weil der einzige 35mm-Film im Reigen nicht laufen wollte. Den hatte man sinnigerweise mitten rein programmiert, um mit sportlichem Ehrgeiz möglichst viele Medienwechsel zu schaffen, von digital auf analog und wieder zurück… Allein: Der Ton wollte nicht, deshalb, haha, wurde der Film „Der Passagier“ von Marcus Reichardt schlussendlich profan von DVD durch den Saal auf die Leinwand gepfeffert.
Und beim Dezember-Grindhouse-Abend, auf den ich mich richtig gefreut hatte, da passierte was… ihr werdet’s kaum glauben: Da sollten 16mm-Filme abgespielt werden, als kommunales Kino ist es Ehrensache, einen passenden Projektor in petto zu haben; und weil es eines der ältesten kommunalen Kinoprojekte ist, und weil schon mehrere Generationen von Cineasten mitgearbeitet haben, finden sich im Keller, unter unwürdigen Lagerbedingungen, ein paar Dosen mit ein paar Rollen alten 16mm-Films, diverse Genres, diverse Level von Nieder- bis Hochkultur… vorzeigbar sind beispielsweise Corbuccis halbvergessener Western „Die Grausamen“ und der notorische „Emmanuelle“-Streifen.
Allein: Der Projektor ging kaputt, nach einem halben Western. Und wir wurden nach Hause geschickt.

Nun hätte dies hier eigentlich ein Text werden können mit tiefsinnigen Reflexionen über filmische Qualität und Vorführqualität, die oft genug in reziprokem Verhältnis zueinander stehen. Denn Ende November – rechtzeitig zur Grindhouse-Zeit – war im Cinema Quadrat ein überhypermäßiger4K-Projektor eingebaut worden, auf den das Kino zurecht stolz sein kann: Die Bildqualität ist absolut bestechend, insbesondere in dem kleinen Raum des 100-Sitzplätze-Saals.
Der Megabeamer freilich ist so riesig, dass das Projektionsfenster vergrößert und ein Holzverschlag-Vorbau gebastelt werden musste, weil das Sony-Gerät nicht in den Vorführraum passte. Und ach, könnte man hier metaphorisch werden, wie die neue Technik in die alten Säle eindringt, Raum und Zuschauer verdrängt, wie es den Mini-Kommunalen überstülpt wird. Wie die Technik immer mehr Platz einnimmt vor den Inhalten, wie der Gerätepark die Bedingungen vor Ort diktiert und sich das Kino als Raum anpassen muss etc.

Aber, Mann – hatte ich es schon erwähnt? Die Filme des November-Grindhouse-Abends, wiewohl von DVD abgespielt, sahen echt super aus, man glaubt es kaum: Trash in Hifi-Qualität!

Inhaltlich freilich mag es da knattern, rattern, flackern und reißen – vielleicht liegt es ja auch an mir, aber die Novemberfilme hab ich nicht geblickt. Der eine: Exemplar des Bruceploitation-Subsubgenres; der andere ein Giallo, die sich ja ohnehin mehr durch Style denn durch Content auszeichnen.

 
Da hat also einer namens Bruce Li beschlossen, einen auf Bruce Lee zu machen; und zudem eine Art selbstreflexives Kompendium des Kungfu-Eastern-Films zu kreieren. Nach dem Tod des echten Bruce Lee gab es ja eine Menge Avatare, Epigonen, Karnevalskämpfer – das Kriterium der Ähnlichkeit wurde um eines erhöhten Filmoutputs schnell vernachlässigt; Schlitzaugen und ein paar Moves reichen im Allgemeinen. Bruce Li aber, der hier einen Kungfuer namens Change Wei spielt, macht seine Sache recht gut, was Kämpfeactionstunts angeht. Freilich, die Story…

Da läuft also ein John – weiß, mit enormem Schnauzer und großer Klappe – in Asien rum und geht erstmal in einen Kungfu-Klub, um zu zeigen, wie man so richtig austeilt. Er führt sich auf wie ein Arsch, bis ihm Li/Wei zeigt, wo der Hammer hängt. Gleich darauf sind sie beste Freunde und wohnen beieinander. Wei freilich hat Geldsorgen und heuert, wie es halt so ist im Kungfugewerbe, bei einem Versicherungskonzern als Makler an. Hat da aber erwartungsgemäß wenig Erfolg, wird dafür immer wieder in Kämpfe verwickelt, einfach so, weil grad einer rumsteht und sich hauen will. Abends dann Handentspannung mit John – sprich: Man trainiert. Manchmal kloppt man sich auch gegenseitig freundschaftlich oben auf’m Hausdach, um dann postkoital ermattet aneinanderzusinken. Voll schwul, interessanterweise: Wie die kämpfende Männlichkeit sich (ungewollt?) in die homoerotischsten Zonen ergießt…

Im Versicherungskonzern ist natürlich Korruption und Betrug gang und gäbe. Weis Chef macht krumme Geschäfte mit einem Filmproduzenten, der sich sanieren will, indem er seinen größten Kungfustar auf zwei Millionen Dollar versichern und dann absichtsvoll ins Messer laufen lassen will. Irgendwie gerät Wei da rein mit dem Ergebnis, dass er sich erstmal mit dem Film-Kampfmeister prügeln muss. Um dann dessen Freund und Stuntman zu werden. Ab hier wird es konfus.

Der Versicherungsjob spielt fortan keine Rolle mehr. Stuntman bedeutet in dieser filmischen Logik, dass man auch mit Wei die Versicherung betrügen kann; mehrere Mordanschläge von unterschiedlichen Typen aus unterschiedlichen Gründen folgen und münden in, na was wohl, Prügeleien. Wobei auch Nunchakus zur Anwendung kommen, diese Stöcke, die durch Ketten miteinander verbunden sind und mit denen man so schön posen und rumwedeln kann. Das erfreut die Jugend der 1980er Jahre!

Lustig sind natürlich die Film-im-Film-Szenen, in denen die Tricks des kunstvollen Vorbeihauens und spektakulären DurchdieLufthüpfens ausgiebig vorgeführt werden – ein Blick in den Zauberkasten der Kampfeffekte. Doof nur, dass die Filmemacher zu doof waren, die Szenenreihenfolge korrekt zu schneiden, so dass Wei seinem Intimus John zuerst mal erklärt, wie Stuntmans zuhauen müssen – indem er rohe Eier auf der Dachterrasse aufhängt und knapp dran vorbeikickt –; aber dies bevor ihm von den Filmleuten erklärt wird, worauf man als Stuntman so alles zu achten hat…

Jetzt ist dies natürlich kein Enthüllungsfilm über die Tricks der Filmleute, wo ja am Set alles gar nicht echt ist und alles nur gefaked zum Vergnügen der Zuschauer, denen die Leinwand als Brett vorm Kopf eine erlogene Wirklichkeit vorgaukelt. Nein: Vielmehr wird hier das Handwerk des kunstvollen Kunstgriffs gefeiert, zuzuschlagen ohne zuzuschlagen, sprich: Der ist ein Superstar, der den Kämpfer so richtig gut mimen kann. Im Übrigen wird der Produzent von Thomas Reiner – sprich: Prof. Farnsworth aus Futurama – gesprochen, was einen noch surrealeren Touch verleiht. Denn der Film baut immer mehr Quatsch aufeinander, jeder hat jetzt immer irgendeinen Plan, um die Dreharbeiten zu sabotieren und Stuntmen und/oder Star und/oder Versicherung zubetrügen. Ein geheimnisvoller Superkungfuspezialist spielt auch eine Rolle, er wurde – vom Kungfufilmproduktionsveteranen – als Berater unter lauter Kungfufilmspezialisten engagiert und ist eigentlich ein Killer. Die Frau vom Star hat auch eine eigene Agenda. Es ist verwirrend. Am Ende eine Auflösung, die so gar nicht zum Rest des Films passt, weil plötzlich der Freund von Wei es auf ihn abgesehen hat; Anlass, sich in einem Haus zu prügeln und dabei die Wände einzureißen.

Mario Bavas „Five Dolls for an August Moon” hat einen seltsamen Titel (wie ja auch der vorherige „Bruce Lee – Der Unbesiegte“ eigentlich „Bruce Li“ heißen müsste) – was soll das heißen, Puppen, August, Mond? Aber, klar: Bei Bava sieht alles immerhin gut aus, mit großem Gespür fürs stimmige Design in Primärfarben, und das hypermoderne Haus aus Stahl und Glas, wo sich alles abspielt, ist halt auch ein dolles Filmset…
Wir sind auf einer Insel, ein paar reiche Schnösel verbringen hier ihre Ferien, die schönen Frauen sind auch dabei, drei Geschäftsleute wollen einen vierten dazu bringen, eine wichtige Geheimformel rauszurücken, und nach und nach werden sie gekillt von einem geheimnisvollen Mörder. Das ist an sich gut und schön, und wer Agatha Christies „Zehn kleine Negerlein“ kennt, wird hier nochmal an der Nase rumgeführt (was denn auch zum Zuviel des Films führt). Zumal der Anfang ist effektvoll, eine schöne Frau streift durch die Dünen, während im Supermoderndesignhaus die Reichen und Schönen eine dekadente Party feiern, mit all der Ennui, die den oberen Zehntausenden so gut zu Gesicht steht. Leben in die Bude soll ein Mörderspiel bringen, eine der Frauen wird als Opfer ausgesucht, gebunden und ins Dunkle getrieben – zack, geht nämlich das Licht aus, grade als der Gastgeber ein anscheinend satanisches Ritual zelebrieren will, wir sind in höchster Spannung, wer ist der Mörder! Denn die Frau liegt da in ihrem Blut, ein Messer in der Brust – haha, es ist nur ein Scherz, sie zieht das Theatermesser weg, wischt das Ketchup ab, Erleichterung.
Bis am nächsten Tag der Diener tot auf der Yacht aufgefunden wird, eine der Damen hatte ein Verhältnis mit ihm, ist aber nicht schlimm, alle leben in offenen Beziehungen; und die junge Schöne streift noch immer durch die Dünen, und die Geschäftsmänner wollen noch immer hinter die Formel kommen. Und wieder wird einer umgebracht, und wieder wird – weil man nicht wegkann von der Insel – eine Leiche in die Kühlkammer verbracht. Dort werden sie an Fleischerhaken baumeln, mehr und mehr, es wird eng, weil immer mehr fallen. Warum? Das ist wurscht. Durch wen? Auch das interessiert nicht. Und die junge Frau in den Dünen, die sich immer absondert, die immer nur guckt? Die ist dem Film auch völlig wurscht, er zieht sie nie als Täterin oder Opfer in Betracht, und der Zuschauer ist irritiert.

Toll freilich eine Sequenz im Mittelteil, so gegen Ende des zweiten Drittels: Es sind noch zwei Männer und eine Frau übrig (plus die Junge in den Dünen, die aber aus unerfindlichen Gründen nicht zählt), und die Frau spricht auf ein Tonband: Sie ist auf der Insel gefangen, einer der beiden anderen ist der Mörder; dann trinken sie einen Cocktail; dann schlafen alle ein. Das Tonband läuft weiter.
Und dann sind alle weg. Just in dem Moment, als eine Schiffsmannschaft als Rettung eintrifft, das Haus durchsucht, aber niemanden findet. Alles ausgestorben. Der Zuschauer ist baff. Der Boden ist ihm unter den Füßen weggezogen. Zeitsprung? Parallelwelt? Traumebene? Plötzlich ist alles möglich, plötzlich schein alles erlaubt. Als Kapitän und Matrosen wieder abziehen, unverrichteter Dinge, sind die drei wieder da. Und schwupps: Wissen wir, wer der Mörder ist, weil er alles verrät. Er hat raffinierterweise die anderen in Schlaf versetzt, weggeschleppt, versteckt, damit die Retter nichts mehr zu retten haben – das wird alles ein bisschen zäh aufgefächert, und dabei vergisst Bava, was uns Zuschauern die ganze Zeit bewusst ist: Dass das Tonband mitgelaufen ist, dass man es einfach hätte abhören können, bevor der Herr Mörder die Oberhand gewinnt, bevor noch ein paar Leichen ins Kühlhaus verfrachtet werden… Exemplarisch zeigt sich, wie gute Ideen durch halbgare Logik innerlich wurmstichig und äußerlich faulig erscheinen können.

Zumal es sich Bava nicht nehmen lässt, einen blödsinnigen Epilog anzukleistern, in dem die naive Schöne plötzlich einigermaßen durchtrieben wirkt (ähnlich wie Carmen Sternwood in Chandlers „Tiefem Schlaf) und wundersamerweise einer der Toten wiederaufersteht – als Mörder in einem ganz anderen Fall, der gar nix mit diesem Film zu tun hat. Man kann halt alles übertreiben und überziehen!

Was Sergio Corbucci zweifellos auch macht, aber auf eine raffinierte Weise, und innerlich stringent. Da nimmt er in „Die Grausamen“ Joseph Cotten – den Joseph Cotten – und macht ihn zu einem obsessiven, rasenden Südstaatenfanatiker, der auch nach dem Bürgerkriegsfrieden „seine“ Staaten befreien will. Beten und massakrieren, zum Wohle seiner Nation – einem Hinterhalt mit Dynamit und gezielten Schüssen fällt ein 30 Mann starker Nordstaaten-Konvoi zum Opfer, ein böses Erschießen in schnellen, brutalen Schnitten, dann sind alle tot. Und fortan steht ein Sarg im Mittelpunkt des Films, in dem nicht wie im Vorjahres-„Django“ ein Maschinengewehr versteckt ist, sondern zunächst Patronengurt, Schnapsflasche und Galauniform von Oberst Jonas Morrison, und dann eine Menge Geld, das dieser im Namen der Südstaaten von den Nord-Soldaten geklaut hat. Geld, das nun auf einen langen Weg gehen muss, im Sarg, mit Passierschein für einen gefallen Soldaten, der angeblich überführt wird. Die Witwe hat Morrison auch parat, eine dumme blonde Säuferin, die konsequent bald das Zeitliche segnet, weil sie nur stört. Eine Neue muss her, der Passierschein verlangt eine Witwe, der Herr Sohn macht sich auf in den nächsten Saloon, da gabelt er Claire auf, durchtriebene Falschspielerin und mutmaßliche Hure, die in diesen Bund von vier selbstzerstörerischen Radikalkonföderierten aufgenommen wird, ein Bund, der vom Menschenhass zusammengehalten und zugleich innerlich zerfressen wird – das ist herauszulesen aus der ersten Hälfte von „Die Grausamen“, bevor ein popeliger Antriebsriemen im 16mm-Projektor riss und die Vorführung abgebrochen werden musste.
Weil alte Technik auch bei alten Filmen versagt, weil die „Grausamen“ zwar inhaltlich großartig sind, mit bösem Blick auf böse Männer – weil aber anscheinend der Projektionsapparat dies nicht aushält. Schade.

Vielleicht kann sich das Cinema Quadrat einen neuen Riemen leisten. Und einen Ersatzriemen dazu. Damit es nicht monopolisch angewiesen ist auf digitale Filmdaten, damit auch die Schätze aus dem Keller gezeigt werden können. Damit „Die Grausamen“, ausgebleicht und rotstichig, wie sie sind, noch eine Chance bekommen können,  in einer anderen Doppelnacht, in einem anderen Monat – und vielleicht mit einem anderen Filmpartner, weil „Emmanuelle“ halt wirklich total doof ist, 16mm hin oder her.


Harald Mühlbeyer