KVIFF 2013: Schmeichelhaft


Zum 48. Karlovy Vary International Film Festival (KVIFF) / 48. Mezinárodní Filmový Festival Karlovy Vary

„Kaum einer der Filme zielt darauf ab, der Seele des Zuschauers zu schmeicheln.“ Mit diesen provokanten Worten fasste Moderator Marek Eben die Filmauswahl für den internationalen Wettbewerb bei dem 48. Filmfestival in Karlovy Vary (Tschechische Republik, 28.6.-6.7.2013) zusammen. Das lag auch daran, dass zahlreiche Beiträge unbequeme Psychodramen waren – oft mit innerlich getriebenen männlichen Hauptcharakteren. So zeigt zum Beispiel Philippe Godeau in seinem französisch-belgischen Drama „11.6“ die Geschichte des Geldtransportraubes durch den Fahrer Toni Musulin und richtet sein Augenmerk dabei weniger auf die äußeren Umstände, als auf die Motivation und die innere Zerrissenheit des Verbrechers, für den das erbeutete Geld nur eine untergeordnete Bedeutung hat.

BLUEBIRD
R: Lance Edmands, USA, Sweden 2012
© Film Servis Festival KarlovyVary
Doch es sind nicht nur Männer, die (innerlich) leiden: In dem einfühlsamen US-amerikanisch-schwedischen Drama „Bluebird“ von Lance Edmans leidet die Schulbusfahrerin Lesley (Amy Morton) unter den Folgen eines kurzen Momentes der Unachtsamkeit, welche drohen, sie, ihre Familie und weiterer Mitglieder der kleinen, isolierten Stadt in Maine innerlich zu zerstören. „Bluebird“ besticht vor allem durch seine Schauspielleistung, weswegen zurecht die vier weiblichen Hauptdarstellerinnen – Amy Morton, Louisa Krause, Emily Meade und Margo Martindale – gemeinsam mit dem „Best Actress Award“ in Karlovy Vary ausgezeichnet wurden.
THE VALUE OF TIME  / O OURO DO TEMPO
R: Xavier Bermúdez, Spanien 2013
© Film Servis Festival KarlovyVary

Dem Trend der „unhappy guys“ (Marek Eben) folgt auch Xavier Bermúdez in seinem – freilich humorunterlaufenen – spanischen Drama „O ouro do tempo“ („The Value of Time“), das in Karlovy Vary seine Weltpremiere hatte und als „story of true love“ beworben wird. „Time, Love and Loneliness are sometimes not only friends but become allies“ so Bermúdez, der seinen Film auf einer grotesken Idee aufbaut: Die innig geliebte Ehefrau ist bereits im jungen Alter gestorben und „existiert“ nur noch in der Erinnerung des mittlerweile im Ruhestand lebenden Arztes (Ernesto Chao) und  seines Sohnes – sowie als eingefrorene Leiche im Keller.

Mit bissigem Humor stellt der spanische Regisseur Roberto Andò in seiner politischen Satire „Viva la libertà“ die aktuellen Unsicherheiten in Europa dar. Was wäre, wenn ein übermüdeter, kraftloser Parteiführer auf Grund eines Burnouts vor seiner Verantwortung flieht und der leere Platz von allen unbemerkt von seinem intelligent-naiven, beinahe verboten lebensfrohen eineiigen Zwillingsbruder besetzt wird? „There is no hope. You have to invent it“, so Andòvor zur internationalen Premiere seines Werkes.

Und auch in Vinko Brešans „Svecenikova djeca“ („The Priest’s Children“) wird die herrschende Ordnung durch den eigenwilligen Erfindungsreichtum Einiger auf den Kopf gestellt. Da in einem kleinen dalmatinischen Küstendorf die Geburtenrate beunruhigend zurückgeht, entscheidet sich Priester Fabian (Krešimir Mikić) mit Hilfe von Kioskbesitzer Petar (Nikša Butijer) – der das Dorf mit Verhütungsmitteln versorgt – dem Kinderwunsch der Dorfbewohner auf die Sprünge zu helfen. Trotz guter Intentionen zieht ihre Aktion bald ungeahnte und vor allem unkontrollierbare Kreise.
LE GRAND CAHIER / A NAGY FÜZET
R: JánosSzász, Ungarn, Deutschland, Österreich, Frankreich 2013
© Film Servis Festival KarlovyVary

Der Gewinnerfilm des diesjährigen KVIFF ist mit „A nagy füzet“ („Le grand cahier“, Ungarn, Deutschland, Österreich, Frankreich) der Festivalbeitrag des ungarischen Film- und Theaterregisseurs János Szász.  Mutet der Film anfangs noch wie eine Märchengeschichte an – zwei Brüder werden während des Zweiten Weltkrieges von ihren Eltern zu ihrer als Hexe verschrieenen Großmutter auf dem Land gegeben – entwickelt er sich schnell zu einer pervertierten Coming-of-Age-Geschichte, in der es die beiden Dreizehnjährigen nur durch das selbstauferlegte Abtrainieren ihrer Menschlichkeit schaffen, in einer Welt voller Hass, Gewalt und Verzweiflung zu überleben. Düster, nahe und zugleich greifbar ästhetisch gestaltet der Regisseur die Darstellung des Lebens im Exil der beiden Kinder, das entlang ihrer Tagebucheinträge erzählt wird.

Für Prominenz und politische Dimensionen war darüber hinaus gesorgt: Neben dem tschechischen Kostümbildner Theodor Pištěk und John Travolta wurde Oliver Stone Crystal Globe ausgezeichnet. Stone selbst, der für seinen künstlerischen Beitrag zum Weltkino geehrt wurde, erhielt zudem noch den Lifetime Achievement Award und stellte seine 10-teilige Dokumentarfilmreihe „The Untold History of the United States“ vor. Dabei nutzte er die Gelegenheit, statt über Film doch lieber über politische Aufklärung und vor allem entsprechende Verantwortung zu sprechen.

Überhaupt hatte das internationale Festival in Karlovy Vary dieses Jahr auch wieder mehr zu bieten als Leinwandkunst und Kinogeschehen. Da war natürlich einerseits die Kurstadt selbst, die mit ihren Kolonnaden, den überdimensionalen Hotelbauten und Thermalbädern den Besucher in eine andere Zeit versetzt. Der Kontrast zwischen den Kur-Touristen, die mit ihren Schnabeltassen durch die Stadt flanieren, und Festivalbesuchern, die zwischen zwei Filmen auf den Rasenflächen die Sonne genossen, war überraschend klein. Karlovy Vary ist ein Stadt der Entschleunigung. Fast gänzlich fehlen sowohl die Hektik anderer A-Filmfestivals, wie auch deren hierarchische Struktur mit ihren unzähligen verschiedenen Festivalpasskategorien. Das KVIFF, so bekam man einmal mehr das Gefühl, ist für alle, ob der Geldbeutel zum Campingplatz oder fürs Grandhotel reicht. 

Festivalzentrum im Thermalgebäude
© Renate Kochenrath, Screenshot

Zudem ist Festival nicht nur eines für die Augen und Ohren: Auf dem Festivalgelände selbst – das in den 70ern entstandene und der Architektur dieser Zeit geschuldete Hotel Thermal – werden diverse Nebenbühnen und Schauplätze geboten: An zahlreichen Ständen bekam man Einblick in die böhmische Küche und konnte sich nach einem erfolgreichen Festivaltag durch die verschiedenen tschechischen Biersorten probieren. Die Stadt Plzeň, nach der das Pils(ner Bier) benannt wurde, ist schließlich keine 100 km entfernt. 

Nicht zuletzt ist es das Leichthändige, scheinbar Improvisierte und doch so Mitreißende, das den Charakter des KVIFF auszeichnet: Die ganze Stadt steht Kopf und alles wird zum Zwecke des Festivals umcodiert. Die Schule gerät zur Herberge für filmbegeisterte Backpacker, Theater und Ballsäle werden Vorführräume und sämtliche Rasenflächen bei sonnigem Wetter trotz Verbotsschilder zur Liegewiese für Festivalbesucher aus aller Welt. Wen wundert es da, wenn die Bewohner der sonst so ruhigen Kurstadt sich in zwei Lager spalten: Die einen nehmen möglichst viele Eindrücke und Filme mit, werden sozusagen zu Touristen in der eigenen Stadt, die anderen fliehen wie die Pariser zur Sommerzeit und manche Mainzer an Fastnacht aus der eigenen Stadt und kommen erst wieder, wenn der Wahnsinn vorbei ist.

Die sympathische Herzlichkeit beschränkte sich aber dann doch nicht nur auf das Festival und sein Drumherum. Letztlich schlug das Herz eines Großteils der mehr als 12.000 akkreditierten Besucher (davon 375 Filmemacher, 855 aus der Filmindustrie und 643 Journalisten) auch für den tschechischen Film, jedenfalls für den Gewinner des Zuschauerpreises: Alice Nellis „Revival“, einer Komödie mit tschechischem Staraufgebot wie Bolek Polívka, Miroslav Krobot, Karel Heřmánek und Marián Geišberg. Der Film erzählt von eine Gruppe Männer, die trotz fortgeschrittenen Alters ihrer Jugendrockband ein Comeback zu beschert. Vom Ton her könnte „Revival“ gegenüber „Le grandcahier“ – dem Gewinnerfilm des Crystal Awards – nicht unterschiedlicher sein. 


Renate Kochenrath