Hofer Filmtage: This is the End

 "Draußen ist Sommer", Friederike Jehn

"Die Tage dazwischen", Carsten Pütz

"Leg ihn um", Jan Georg Schütte


Ja, der Abschied - es ist natürlich nur die quasi postkoitale Wehmut nach einem Festival, die mich mit diesem Thema beschäftigen lässt. Das Beendigen jedenfalls ist im Film immer mindestens so interessant wie das Beginnen, "boy leaves girl" toppt "boy meets girl" - wobei in der Realität der Hof-Filme vor allem die Frauen die Männer verlassen.

So in "Draußen ist Sommer" von Friederike Jehn, einem feinfühligen Porträt einer Familie mit krassen Problemen. Frisch in die Schweiz gezogen, in ein Acht-Zimmer-Haus mit großem Garten, kann die neue Fassade die inneren Risse nicht kitten: das Misstrauen der Frau gegen den Mann, der schonmal untreu war; die Flucht des Mannes in die Arbeit, später in den Keller, wo er ein kleines Vogeljunges pflegt; die deplazierten Kinder in einem Land mit unverständlicher Sprache und mit gemeinen Mitschülern. Erzählt wird vom immer schneller werdenden Auseinanderdriften, von den immer stärkeren Fliehkräften in der Familie; und zwar immer wieder und immer wieder gern aus der Kinderperspektive, speziell aus der Sicht der pubertierenden Tochter, die völlig verloren ist. Der kleine Bruder hat Haarausfall, spricht und isst nicht. Nur die kleine Schwester findet eine Freundin, die sie aber auch kräftig unterbuttert. Und gemeinsam versuchen sie, Frieden und Harmonie herzustellen, mit den unzureichenden Mitteln, die sie bisher gelernt haben: kleine Lügen, Schwamm drüber, untern Tisch kehren und nach außen Fröhlichkeit markieren.

Wie in "Draußen ist Sommer" die Frau schließlich doch den Schritt weg vom Mann, in ein neues Leben mit neuen Möglichkeiten tut, das ist auch der Inhalt von Die Tage dazwischen, Langfilmdebüt von Carsten Pütz, offenkundig mit billigstem Consumer-Digital-Equipment gedreht, ohne großen Aufwand an Lichtsetzung oder Ausstattung; dafür mit vielen schönen, frechen, frischen Einfällen in der Inszenierung. Vor allem, weil die Darsteller zwischendurch sichtlich lustvoll improvisieren, und weil ohnehin die Ebene der Kommunikation - der fehlgeleiteten, der oberflächlichen, der unsensiblen - ein wichtiges Element im Film ist. Wie auf einer Party Plattitüden und Smalltalk-Quatsch verbreitet werden; wie in der Kneipe jeden Abend dasselbe gelabert wird, als wäre es das erste Mal; wie die Mutter ihrer Katrin die Beziehung zu Felix ausreden will; wie Katrin und Felix sich ohnehin nichts mehr zu sagen haben: Das ist wahnsinnig witzig, weil es viel zu wahr ist, um schön zu sein.

Ein Abschied der ganz anderen Art, aber auch ein Familienfilm, ist "Leg ihn um" von Jan Georg Schütte. Der Familienpatriarch, alt und schwer krank, fordert seine Kinder auf, ihn umzubringen. Wer die Entschlossenheit und den Mut zur Tat aufbringt, soll Alleinerbe von Vermögen und Firma werden. Eine Woche haben sie Zeit, und sie ersinnen die irrsinnigsten Pläne, von Gift über die Falle im Wald bis zu einer "Body of Evidence"-Nachahmungstat. Was Pütz mit frischem Frohsinn einfach so auf die Leinwand schleuderte, das Spontan-Improvisierte - darin ist Schütte Meister, seine vorherigen Filme "Swinger Club" und "Die Glücklichen" sind nur nach diesem Prinzip gebaut, gemeinsam mit den Darstellern die Figuren zu konzipieren, die Handlung nach einem knappen Leitfaden zu strukturieren, am Set zu improvisieren (und sich einen festen Stab an Mitstreitern zusammenzubasteln, die sich "die Glücklichen" nennen). Beim komplexer aufgebauten "Leg ihn um" wurde sicherlich mehr geplant, mehr vorab konstruiert; Lebendigkeit und Leichtigkeit tut dies kein Abbruch. Dem großen Spaß, den der Film bereitet, natürlich auch nicht.

So schließe ich die diesjährige Hofberichterstattung; nicht ohne dem Abschied einen Ausblick aufs Wiederlesen zu geben; denn über Schütte und seine Art zu filmen hat Kollege Zywietz einen sehr schönen Beitrag für den Reader "Ansichtssache" über den Zustand des aktuellen deutschen Films verfasst. Kommt im Februar im Schüren-Verlag raus, schon mal merken!


Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: "Après Mai / Something in the Air" - Echos aus der Zwischenwelt

Wir wollen mal, dazu sind wir ja eigentlich hier, von Kunst reden. Und damit von Olivier Assayas, einer der großen französischen Regisseure, nicht erst seit seinem opus magnum "Carlos".

"Après Mai", dem der deutsche Verleih den albernen Titel "Something in the Air" gegeben hat (vgl. "Mir ist so komisch zumute, ich ahne und vermute, heut liegt was in der Luft"), ist ein sehr guter Film. Denn kann ein Film schlecht sein, in dem ziemlich am Anfang Syd Barretts Platte "The Madcap Laughs" aufgelegt wird, wenn im Lauf des Films Captain Beefheart und die Incredible String Band zu hören sind - mit Songs in voller Länge -, wenn wir gegen Ende quasi live bei einem Psychedelic-Konzert dabei sein dürfen, inklusive Lightshow aus Diacollagen, mit Farben, Formen, Film, Bildern und Worten?

Die musikalische Ebene hat ihr ganz eigenes Gewicht in diesem Film, die weit über die Illustration des Zeitgeistes hinausgeht. Der Film spielt 1971, die französische Linke liegt in den Nachwehen des Revolutionsmonats Mai 1968, und Gilles, die Hauptfigur, ist mit dabei bei den protestierenden Studenten. Kunst studiert er, Filme will er machen, und natürlich ist er angelehnt an Assayas selbst, der hier sein eigenes Erleben fiktionalisiert, und es dabei schafft, den Film ganz unabhängig zu machen von jedem möglichen Bezug zu seiner Person. Weil man sich nicht die ganze Zeit vorstellt, was denn nun historisch-biographisch ist, was hingedichtet wurde. Nein: Assayas schafft es - ähnlich wie bei "Carlos" - ganz einfach, ganz ungezwungen mitten hineinzusteigen in diese Zeit, zu diesen Menschen, zu ihrem Denken und Handeln.

Dazu gehört natürlich seine dynamische Handkamera, die freilich keinen irgendwie dokumentaristischen Look gestalten will, die auch nicht mit ein paar Extrawacklern mehr "Bourne"-mäßige Nervosität verbreitet. Nein: Sie ist einfach dabei, fängt die Energie des Geschehens auf.

Gilles ist links, anarchistisch, und das bedeutet auch eine ständige Positionierung: Wie links? Mit welchen politischen Positionen, mit welchen persönlichen Konsequenzen? Trotzkis, Leninist, Maoist, Anarchist?  Inklusive all der absurd erscheinenden Diskussionen über Politik und Haltung und Polittheorie und Handlungspraxis, die von heute aus gesehen so seltsam erscheinen und doch wichtig und sehr ernst waren; man kennt sowas von Antonionis "Zabriskie Point", mit der unsterblichen Zeile "Ich bin bereit zu sterben, aber nicht aus Langeweile", und als Komödie durchexerziert aus dem "Leben des Brian".
Gilles treibt durch die Szene, wird zum Kämpfer, mit filmischen Agitatoren reist er nach Italien, kehrt zurück, sucht seinen Weg. Freunde und Weggefährten verstreuen sich, nach London, nach Afghanistan, und beim Wiedersehen sind sie verändert, und Gilles ist es auch. Doch hat er sich genug verändert, wie steht er zur Revolution, wie steht die Revolution zu seinem Leben? Mit perfekt inszenierter Vagheit stellt Assayas eine Welt vor, die vor 40 Jahren die Welt war, als der Glaube an eine Veränderung noch die Menschen bewegte.

Assayas folgt keinem filmisch-dramaturgischem Schema, zumindest nicht offen; es gibt nicht die eine große Liebe, den einen großen Schlusspunkt auf den alles zuläuft, wie es oft in Biopics ist, die ja genau daran scheitern, dass subtil und ungewollt die Dramaturgie ihren Fiktionsstatus preisgeben. Der Film treibt mit Gilles, am Ende ist Gilles plötzlich weg, wir erfahren, dass er schon seit einer Woche in London ist. Und dort gerät der Film mit Gilles vollends in die Welt des Surreal-Absurden, mit Steinzeitfrauen, Nazis und einem Urweltmonster auf einem Filmset in den Pinewood-Studios.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage - Genre? Gerne!

Eigentlich hatte ich's nicht vor; aber jetzt muss ich doch nochmal diese Sache mit dem Naserümpfen über "Cold Blood" aufgreifen, es lässt mich nicht los. Weil im Q&A mit Ruzowitzky so ein grundsätzliches Misstrauen gegen "Hollywood" aufgeschienen war, eine filmkunstbeflissene Attitüde, die weiß, was Kultur ist und zu sein hat. Überinterpretiere ich das was? Oder empfange ich hier doch die richtigen Vibes?

Interessant jedenfalls, dass dann Susanne Biers "Love is all you need" mit Jubelstürmen in vollem Haus aufgenommen wurde. Das ist eine formvollendete Romcom mit Italieneinschlag und Pierce Brosnan, und Bier tut im Grunde nichts anderes als Ruzowitzky, sie nutzt die Regeln des Genrespiels voll aus. Das fängt an mit der satten Farbgebung - wo hat man je schon so leuchtende Augenfarben gesehen, und die Zitronen in der grünen Plantage mit blauen Arbeiterinnen sind auch ein kräftiger Farbenrausch -, und natürlich schmalzt Dean Martin "That's Amore", und natürlich kommen allerlei Lebenslügen von Einsamkeit und Krankheit und Entfremdung ins Spiel bei diesem Hochzeitsfest in Sorrent, und am Ende wird alles schön aufgelöst und es bildet sich das neue Traumpaar, Brosnan eben und Trine Dyrholm, denen wir das von Herzen wünschen.

Ist das eine Genderfrage, haben hier die Frauen das Sagen beim Akzeptieren oder Ablehnen von filmischen Formen? (Die Naserümpfer bei Ruzowitzky waren männlich!). Oder wird einfach mit zweierlei Maß gemessen, wenn der eine das Genre bedient, ist es Mainstream, wenn's die andere tut, ist es wunderbar romantisch? Oder sind Männer - um mal bei der Genderthese zu bleiben - kritischer als Frauen, reicht es denen, wenn sie schön was fürs Herz bekommen? Oder ist es einfach besser, wenn Pierce Brosnan flirtet, als wenn Eric Bana killt?

Ein toller "männlicher" Film ist "Killing them softly" von Andrew Dominik, der ja als Erstling in Australien vor ca. zehn Jahren "Chopper" gedreht hat, mit dem Eric Bana - wieder er! - erstmals groß rauskam. Ein sehr witziger und sehr brutaler Blick in die Unterwelt ist das, zwei depperte Kleinkriminelle überfallen eine illegale Pokerrunde und werden vom Syndikat verfolgt, Brad Pitt spielt den Killer, der auf sie angesetzt wird. Die Story wird dabei angereichert mit ständigen kleinen Abschweifungen, mit Diskursen, die ein komplexes Geflecht an Charakteren präsentieren. James Gandolfini etwa spielt einen New Yorker Killer, der nach Kalifornien eingeflogen wird für einen Job, er ist ein versoffener Hurenbock, und Dominik versteht es, ganz ungezwungen ihn mit all seinen leutseligen Stories so genau zu charakterisieren, bis es dann Brad Pitt zuviel wird und er Gandolfini nonchalant aus dem Film befördert. Ray Liotta ist auch eines der unschuldigen Opfer des Films, der aus Gründen der Staatsraison in einer wunderschönen Zeitlupen-Tötungssequenz sein Leben lässt, das muss man gesehen haben.

Pitt hat sowieso die Fäden in der Hand - und muss doch immer auf Grünes Licht von Oben warten, vom "Aufsichtsrat" des Syndikats, da sind Gremien, da muss das Budget genehmigt und kontrolliert werden, da müssen Maßnahmen abgesegnet werden. Und Pitt, zart im Umgang und hart in der Sache, killt am liebsten sanft, ohne, dass ihm die Gefühle der Opfer im Angesicht des Todes auf die Nerven gehen. Während die Kleinkriminellen ganz eigene Typen sind, darüber brauchen wir gar nicht reden hier.

Die Dialoge sind brillant, auf den Punkt gebracht; und im Hintergrund, in den News, läuft der Wahlkampf Obama-McCain vor vier Jahren, im Zeichen der großen Finanzkrise, die längst auch die Unterwelt im Griff hat. Ein brillantes, pervertiertes Bild von Amerika ist das, so, wie es ein Gangsterfilm sein muss: America is business, das nehmen wir mit den letzten Worten des Films mit nach Hause, und wir werden es uns merken.

So, muss jetzt zum nächsten Film, bis morgen, liebe Freunde

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: "Cold Blood" - rot wie Blut, weiß wie Schnee

"Ich habe den Film aus denselben Gründen gedreht, aus denen Sie jetzt hier sind" - Stefan Ruzowitzky hat sich einen gewitzten Einstieg in seine Einführung zu "Cold Blood" einfallen lassen: "Nach all den Beziehungsdramen und Vergangenheitsbewältigungen hat man mal richtig Lust auf Action, Gewalt und Sex." Ja, hat man, und genau das bietet "Cold Blood", genau das wollen wir sehen!

Eric Bana als Gewaltkrimineller, Olivia Wilde als seine kleine Schwester, beide auf der Flucht durch den Winter Michigans, Bana zieht eine blutige Spur durch den Schnee, die Schwester lacht sich einen Ex-Sträfling an, der auf dem Weg ist zum Thanksgiving-Fest seiner Eltern, verfolgt werden sie von der Polizei, darunter die junge Tochter des Sheriffs, die von ihrem Vater immer untergebuttert wird... Die Jagd durch die verschneiten Berge, dann der Treffpunkt am gedeckten Thanksgiving-Tisch, Familienkonflikte, Liebe, psychopathische Gewalt, Überlebenskampf, Verfolgungsjagden, da ist alles, was einen guten Thriller ausmacht.

Zumal die Figur von Eric Bana alles andere als 08/15 ist, der nämlich zwar ein eiskalter Gangster, aber auch ein behütender Beschützer seiner Schwester ist, wie überhaupt ein Engel der Witwen und Waisen ist (nuja: die er zuvor zu solchen gemacht hat, aus Gerechtigkeitsgefühl). Und der im Finale dann doch der süffisante Sadist ist, der ein Festmahl pervertiert mit seiner abgesägten Schrotflinte, die ihm alle Macht der Welt verleiht. Widerspruch in der Charakterzeichnung? Nein, eher Komplexität, und das ist es, was die Figur - und auch den ganzen Film - interessant macht.

Der sich im übrigen nicht von Logik aus dem Tritt bringen lässt, sondern straightforward durch den Winterwald schreitet; und man fragt sich, was die Leute eigentlich mehr erwarten.
Es gab Naserümpfen im Publikum, nach der Vorstellung beim Q&A. Ja, das sei doch alles sehr Hollywood, sehr Mainstream, ob der Herr Ruzowitzky denn da überhaupt sich und seine europäische Perspektive habe einbringen können? Nein, wollte er nicht, es ist ja ein amerikanischer Film!
Oder: Jaaa, das sei ja nun ein Independent-Film, der sich aber doch so sehr nach den Regeln richtet, ob das denn nun tatsächlich die Schnittfassung des Regisseurs sei? Independent bezieht sich erstmal auf nix anderes als die Finanzierung, das ist keine ästhetische Kategorie; und ja, mit der Schnittfassung sei er zufrieden, sagte Ruzowitzky.

Man muss doch nicht auf einen Film herabsehen, der gut gemacht das Genre bedient? Man muss doch nicht herumkritteln, wenn einer im besten Sinne Unterhaltung bietet? Klar, die Leute auf einem Festival erwarten etwas "Anspruchsvolles", etwas "Sperriges", das sich dem Konventionellen kritisch gegenüber positioniert. Freilich: Man kann natürlich die Regeln brechen, oder neu erfinden, und kann sich ganz und gar auszudrücken versuchen. Man kann aber auch versuchen, das Publikum zu erreichen und dabei, in Handlung und Figurenzeichnung, eine gewissen Intelligenz des Erzählens und der Dramaturgie hineinbringen. Muss man das eine gegen das andere ausspielen?

Das ist ja das schöne an Festivals, dass man die Auswahl hat zwischen so ziemlich allem. Vor "Cold Blood" habe ich Peter Kerns "Diamantenfieber - Kauf dir lieber einen bunten Luftballon" gesehen, dessen Untertitel gar nichts mit dem Film zu tun hat, außer dass am Ende an einem Rollstuhl Luftballone befestigt sind.
Tatsächlich ist Kerns Film einer seiner zugänglichsten, der natürlich Trash ist und das auch gar nicht leugnet, aber immerhin keiner der filmischen Amok-Rundumschläge, die Kern so gerne gegen all seine Feinde austeilt. Diesmal gehts "nur" gegen die Behörden, speziell gegen das Jugendamt, das die kriminellen Brüder einer armen, elternlosen Familie in Heime und Pflegefamilien stecken will, und die Oma soll in die Klinik; und andererseits um reiche Etepeteteschnepfen, die sich ihr Leben mit Diamanten bereichern; die wiederum kaufen sie von Onkel Fritz, den Josef Hader spielt - mal ein richtiger Profi in einem Kern-Team! -, der sich wiederum der kriminellen Brüder als Boten bedieht, ohne sie anständig zu bezahlen... Etc.pp.

Schlussendlich kann man manchmal wirklich lachen; und, ganz wichtig bei Kern: Der Rest quält nicht. Das ist dann die andere Richtung des Filmemachens, dass einer sich, seine Gesellschaftssicht, seinen Ärger und seine Wut und sein ganzes Geld (so wenig es auch ist) aus Leidenschaft in seine Filme steckt, und froh sein muss, wenn sie irgendwer sieht. Und vielleicht auch irgendeinem auf irgendeine Weise aus der Seele spricht.


Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage: "FREIgestellt" - Arbeit hat keine Balken

Mein erster Film hier: "FREIgestellt" von Claus Strigel, ein Dokumentarfilm, der das Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Freiheit untersucht und dabei geschickt Positionen aufeinanderknallen lässt. Wo hat man tatsächlich schonmal Aristoteles ("Arbeit ist der Feind der Tugend") mit Westerwelle ("Es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit") miteinander kickboxen sehen? In der Talkshow, Teil von Strigels Film, treffen sie aufeinander, all die, die schonmal irgendwas über Arbeit gedacht oder gesagt haben, auch Marx und Hannah Arendt, von der Leyen und Lafargue (der das Recht auf Faulheit fordert), und wie es halt so ist in der allabendlichen Gesprächsrunde, irgendwann schlagen sie sich die Köppe ein.

Herrlich karikaturesk digital animiert sind diese Protagonisten, deren Äußerungen tatsächliche historische Zitate sind und die sich benehmen wie im Kungfu-Film der 70er: Strigel geht durchaus mit Spaß und Satire an sein Thema heran. Aber natürlich ist es ihm ernst damit, weil es ja auch ernst wird. Noch haben wir niedrige Arbeitslosenzahlen - in Deutschland, nicht im Rest von Europa wohlgemerkt -, doch muss man nicht über Alternativen nachdenken? Denn es kann ja nicht weitergehen, einerseits die Entfremdung des Menschen von sich selbst duch seine Arbeit, andererseits seine zwangsweise Freistellung, wenn einfach keine Arbeit mehr da ist, drittens auch der Wunsch nach mehr Freizeit und gleichzeitig nach mehr Geld. Sinnbild gleich zu Anfang: Wie eine Industrieruine zum Freizeitpark umfunktioniert wurde, mit Klettern, Kettenkarussell und Unterwasserkartenspiel.

Götz Werner, Chef der dm-Drogeriemarktkette, argumentiert schlüssig für das bedingungslose Grundeinkommen, Volkswirt Niko Paech für die Entkopplung der Wirtschaft vom Wachstumsdogmatismus. Und im Netzwerk arbeitssuchender Akademiker berichtet einer von den Erniedrigungen, denen er sich in der Arbeitsagentur aussetzen muss, die nicht auf ihn eingehen, sondern ihn hineinpressen wollen in ihr Raster von Maßnahmen und Leistungskürzungen.

Es ist, wie Götz Werner sagt, ein Aufeinanderprallen von Weltsichten: die westerwelleske, dass nämlich der, der nicht durch Druck, durch Androhung von Armut, zur Arbeit gezwungen wird, sowieso lieber faul im Bett liegt, gegen die wernersche, nach der bei einer Entkopplung von Einkommen und Arbeit jeder in sich den Drang verspürt, zu tun, wonach ihm ist; weil der Wille zur Arbeit in einem festgeschrieben ist, diese aber der Selbstverwirklichung und dem Einbringen des Individuums in die Gemeinschaft dienen sollte, ohne von außen aufgezwungen zu werden.

Das Pendeln zwischen diesen Weltsichten, zwischen den Argumenten und Auswüchsen und ihren Auswirkungen auf den Menschen montiert der Film geschickt zu einem dynamischen Flow, der nie seine Stringenz verliert. Erst am Ende verlandet der Filmfluss ein wenig, wenn Strigel allzugenau ein Projekt in Angermünde in der armen Uckermarck porträtiert, wo von einer Stiftung 100 Projekte gefördert werden, in denen tatsächlich jeder mal "sein Ding" verwirklichen kann. Das war wohl überhaupt der Ausgangspunkt der ganzen filmischen Recherche, und einzelne Protagonisten - der schwäbische Schrotthändler im tiefsten Osten der Republik, der hier tut und macht, ohne viel zu verdienen - sind direkt strukturierende Elemente des ganzen Films geworden.

Da ist auch der promovierte Wissenschaftler ohne Arbeit, da ist eine Supermarktsimulation in Hamburg, in der Langzeitarbeitslose an Arbeit gewöhnt werden sollen - eine Arbeit freilich, die inzwischen genausogut Lagerroboter übernehmen würden, die also völlig sinnlos ist und die Leute schlicht von der Straße und aus der Statistik raushält. Und da sind die Kinder mit ihren Wunschberufen, vom Sprengmeister über den Dinosaurierforscher bis zum Motorradpolizist und dem Chef einer Geldfabrik.

Werden sie je ihren Traum erreichen? Dafür müsste man über Alternativen zum Status quo nachdenken. Dass es welche gibt, zeigt Strigel in diesem Film, der irgendwann im Fernsehen laufen wird, nachts nach 23 Uhr. "Aber das ist OK", sagte Strigel nach der Vorführung, "denn an dem Sendeplatz muss man nicht vorformatierter Dramaturgie folgen, muss nicht erklären, was man da sieht." Denn dies ist eben ein Film zum Selberdenken.

Harald Mühlbeyer

Offener Brief der deutschen Filmkritik

Hier der offene Brief des Verbands der deutschen Filmkritik (VdFK) zum deutschen Filmpreis, den wir Ihnen natürlich auch gerne zur Kenntnis bringen möchten. Zu
mal sich unser für Sie gerade in Hof umtuender Redakteur Harald Mühlbeyer Mitglied des VdFK-Beirats ist.

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Offener Brief
Filmpreise / Deutsche Filmakademie 

Der Verband der Deutschen Filmkritik fordert den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, auf, die 2004 beschlossene Übertragung der Ausrichtung der Gala und der Ermittlung der Gewinner des Deutschen Filmpreises an die Deutsche Filmakademie zu widerrufen, deren Mitglieder selbst von den Preisgeldern profitieren.

Wir glauben, dass das beschädigte Ansehen des finanziell höchst dotierten Kulturpreises der Bundesrepublik - der aber die „Filmkunst“ weitestgehend ignoriert - nur durch eine, vom Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung berufene, unabhängige Fach-Jury wieder hergestellt werden kann. Dieses Verfahren würde garantieren, dass neben dem Mainstream auch künstlerisch anspruchsvolle Filme eine Chance bekommen. 

Bisher schließen die selbst gewählten Regeln der Filmakademie einen Teil der deutschen Produzenten von der Ehrung mit der „Lola“ und vom Genuss der damit verknüpften Fördergelder aus. Bei der Interpretation der Abstimmungs-Regeln durch die Filmakademie kam es zudem zu Auslegungs-Differenzen, die Zweifel an der juristischen Gültigkeit der Preisermittlung weckten.  

Nur ein separater, vom Verdacht der Selbstbedienung befreiter Preis der Filmakademie, kann als Ehrenbezeugung gegenüber Filmschaffenden innerhalb ihrer Branche wirklich glaubwürdig sein. Diese undotierten Auszeichnungen wären den amerikanischen Oscars und vergleichbaren europäischen Filmpreisen gleichgestellt, vor äußerer Kritik geschützt und ständen nicht unter dem Druck, Fördergelder für kommende Projekte zu generieren. Deshalb rechtfertigt ausschließlich die Rückkehr zum über Jahrzehnte bewährten Wahlmodus die finanzielle Preis-Dotierung mit öffentlichen Geldern. Diese sollte künftig als Prämie bedingungslos an die Produktionsfirmen ausgezahlt werden. Der Verband vertraut dabei darauf, dass die Produzenten das Geld ausschließlich zum Wohl des deutschen Films einsetzen.

Vorstand und Beirat des VDFK

46. Hofer Filmtage - vom 23. bis 28. Oktober

Ab morgen wird für ein paar Tage wieder Hof im Mittelpunkt des Filminteresses der Nation liegen. Die Hofer Filmtage, in ihrer 46. Ausgabe, finden wieder statt, in zwei Kinos inklusive Wüstelbude. Das deutsche Provinzeck, bei Tschechien gleich links, rückt in den Mittel- und Blickpunkt, denn Hof: Das ist ein Schwerpunkt in der deutschen Festivallandschaft.

Hier findet die Herbstschau des deutschen Kinos statt, traditionell steht der Nachwuchs an deutschen (und deutschsprachigen) Produktionen im Mittelpunkt des Programms. Das geht von Fernsehfilmen über Kinodebüts bis in die bizarren Welten eines Peter Kern, hier kann man die neuen Werke bewährter Filmemacher ebenso finden, wie man Neulinge entdecken kann.

Dazu kommen ausgewählte internationale Werke - alle in deutscher Erstaufführung. Die ganz großen Namen fehlen in diesem Jahr - Darren Aronofsky, Wes Anderson, Mike Leigh etwa waren in den letzten Jahren mit ihren jeweils neuesten Filmen vertreten. In diesem Jahr immerhin beispielsweise Olivier Assayas, ein Hof-Veteran, mit "Après Mai - Something in the Air", Abbas Kiarostami mit seinem Ausflug nach Japan in "Like Someone in Love", oder Susanne Bier mit "Love is All You Need" - immer wieder kommen hier die Nachfolgefilme eines Oscarerfolgs. Sehr gespannt bin ich etwa auch auf Stefan Ruzowitzkys "Cold Blood", der nach den "Fälschern" ein Action-Roadmovie im Schnee und in Amerika inszenieren durfte (das hoffentlich mitreißender sein wird als von und zu Donnersmarcks "Tourist").

Redakteur Mühlbeyer jedenfalls wird wieder in Hof sein, wird von Kino zu Kino rennen, Döner oder Bratwurst in der Hand; und er wird wieder exklusiv für Screenshot das Beste vom Guten trennen, hart mit dem Miesen ins Gericht gehen und das Gefällige in den Himmel loben, kleine Appercus verfassen oder große Abhandlungen; wie's ihm halt grad in die Finger kommt. Bleiben Sie also dran!

(müh)


24 x Wahrheit in der Sekunde? – Das 27. Mannheimer Filmsymposium

12. bis 14. Oktober 2012, Cinema Quadrat, Mannheim

 
Gegen Ende des Symposiums, am Sonntag, liefen Vorträge und Diskussionen etwas aus dem Ruder. Ivo Ritzer, Filmwissenschaftler aus Mainz, referierte über den Kriegsfilm, über Schockwirkungen, über die Affekte, die die Leinwandbilder auf das Publikum im Zuschauerraum ausüben, und wie dadurch der Körper des Rezipienten das Geschehen im Film beglaubigt. Und Gerhard Bliersbach, film- wie psychoanalytisch gebildet, betrachtete die Imagines, die sich der Film von Hitler macht. In der anschließenden Diskussion ging es um Fragen der Genrekonventionen des Kriegsfilms und um „richtige“ und „falsche“ Holocaustbilder – und Vorträge wie Debatte waren ein ganzes Stück weg vom eigentlichen Thema dieses Wochenendes. Das Filmemachen zwischen Dokumentation und Fiktion sollte verhandelt werden, die Frage nach 24x Wahrheit in der Sekunde wurde gestellt, wie immer beim Mannheimer Symposium in fruchtbarem Miteinander von Praxis und Theorie, im Wechsel von Werkstattberichten Filmschaffender und Referaten von Filmwissenschaftlern, unter reger Beteiligung des Symposium-Publikums.

Dass dieses – im Gegensatz zum letzten Jahr – nicht überwältigend groß war, ist wohl dem Thema geschuldet: Fakt und Fiktion, Spiel- und Dokumentarfilm und all die Schattierungen und Implikationen des Wahrheitsbegriffs – das ist vielleicht nicht griffig genug, um mehr als 40 Interessierte anzulocken. Und gerade weil das Thema so ein großes Fass anzapfte, gingen vielleicht die letzten Vorträge weg von der Frage fiktionalisierender Dokus und dokumentarischer Spielfilme, und es eröffnete sich ein ganz neuer Schwerpunkt: Die Frage, wie Spielfilm mit Zeitgeschichte umgeht.

Das ist eigentlich etwas Wunderbares: Wie in einem Symposium sich das Thema wandelt, wie es mäandernd hinfließt, und wie dann neue, unvorhergesehene Aspekte auftauchen. Aus dem fruchtbaren Miteinander von Referenten und Publikum, von Vorträgen, Filmbeispielen und Berichten aus der Praxis entsteht so ein gewinnbringendes, gemeinsames Nachdenken über Film und über Wirklichkeit. Zumal ein abschließend-endgültiges Fazit natürlich von vornherein nicht vorgesehen sein kann (sonst könnte man die Filmwissenschaft einpacken); und ein strengerer Ablauf würde allzustark in eine Lenkung der Diskurse münden, die nicht zielführend sein kann.

Die dokumentarische Haltung und die Fiktion, die Darstellung von Tatsachen und das Filmen von Wirklichkeit standen im Mittelpunkt. Beispielsweise „Die Schlacht um Algier“ (1965, Gillo Pontecorvo): Die Anfänge der algerischen Unabhängigkeit durch terroristische Akte gegen Franzosen in Algier ab Mitte der 1950er, in einer Inszenierungsweise, die durch „dokumentaristische“ Strategien wie Handkamera, natürliches Licht, Laiendarsteller unmittelbare Echtheit behauptet – Mittel also, die heute inflationär gebraucht werden, vor fast 50 Jahren aber, als der Gegenstand des Films noch aktuelles Nachrichtengeschehen war, auf den Zuschauer direkt und buchstäblich fesselnd gewirkt haben. „Parteiische Neutralität“ attestiert Midding dem Film, der zwar von der algerischen Revolutionspartei produziert wurde, also direktes Propagandamittel war, der aber andererseits algerische Gräueltaten nicht ausschließt, und die Franzosen durchaus differenziert darstellt. Und der sowohl von terroristischen Untergrundakteuren wie auch vom Post-9/11-Pentagon als Anschauungsmaterial und Lehrfilm benutzt wurde.
Wie Fiktion durch Manipulationen des Filmmaterials „authentisch“ wirkt, stellte Marcus Stiglegger vor: Von der nachträglichen künstlichen Alterung von (digital!) gedrehtem Material in Robert Rodriguez’ „Planet Terror“, die dem Film spielerisch den Look abgenudelten Zelluloids verleihen sollte, bis zu den typischen Ikonographien des Holocaust mit Farbentsättigung und Streicherklängen, mit Wolken und Schlamm: Das wirkt „echt“ und ist es natürlich ganz und gar nicht.

Auf der anderen Seite der Dokumentarfilm: Etwa das unkonventionelle Firmenporträt „Ora et labora – Das Unternehmen Pöppelmann“ von Anna Ditges, die einen mittelständischen Betrieb zeigt, der Blumentöpfe und Pustefix herstellt und durch und durch katholisch geprägt ist. Die Firmenleitung, die Mitarbeiter: Alle sind fromm, und langsam, unmerklich fast, tastet sich Ditges an ein großes Geheimnis heran, an ein Tabu, an Das-worüber-man-nicht-spricht, an den Tod des Firmengründers, der eigentlich eine große geistliche Krise hervorrufen würde, würde er nicht verdrängt. Wirkt das einstündige Werk zunächst so, als wüsste es nicht, was es erzählen wolle, erschließt sich im Nachhinein das Kreisen um diesen einen wunden Punkt. Im anschließenden Werkstattgespräch berichtete Ditges bedauernd, dass es tatsächlich zum Konflikt mit dem Familienunternehmen kam – und auch innerhalb der Familie des Unternehmens –, und dass deshalb der Film auch in seinem „Stammland“, im Firmensitz in Lohne, Niedersachsen, eigentlich nicht richtig veröffentlicht ist.
Das stellt die Frage nach der Integrität des Filmemachers – zeigt er das, was er will, oder das, was der Auftraggeber/Filmpartner von ihm erwartet? Und es stellt die Frage nach der Ethik des Filmemachers: Wieweit darf/kann/soll man einen Protagonisten bloßstellen?

Zu letzterem hatte Thomas Frickel einiges zu sagen: Er macht Dokumentarfilme, die Satiren sind, zuletzt etwa „Die Mondverschwörung“, in dem all die absurden Esoteriker und abstrusen Paranoiker vorgestellt werden, die von normalen Spinnern bis zu rechtsradikalen Wirrköpfen reichen. Er lässt dabei seinen (inszenierten) Reporter Dennis R. D. Mascarenas, einen Amerikaner, auf die Deutschen los, um zu sehen, wie die so ticken – ist das noch dokumentarisch? Macht er sich über seine Protagonisten lustig? Ist das nicht alles übertrieben? Frickel erklärte dazu ein Beispiel aus dem schulischen Physikunterricht: Wenn man in eine gesättigte Flüssigkeit einen Faden hängt, bilden sich an diesem Kristalle. Was unsichtbar war, kristallisiert sich an einem Fremdkörper heraus – so auch latente Tendenzen der Wirklichkeit, wenn ein Stück Fiktion sich hineindrängt.

Schade, dass keine Frickel-Produktion als Filmbeispiel das Symposium begleitete. Nach seinem Vortrag, garniert mit einigen Ausschnitten aus seinem Werk, ergab sich aber eine ganz eigene Wahrheit, im Zusammenspiel mit der anschließenden Doku über die Pöppelmann-Firma. Eine Wahrheit, die ein Film alleine gar nicht erreichen könnte, die sich aus dem Crossover, aus der Stimmungsmischung der geballten Film- und Diskursdichte auf einem Symposium ergibt, wenn die Stimmung und das Nachdenken über den einen Vortrag auf den nächsten Film überschwappt. Wie in „Ora et labora“ eine betuliche Dame ehrfuchtsvoll das Büro der kurz zuvor verstorbenen Chefin vorzeigt, den Schreibtischstuhl, das Fenster, durch das sie immer geblickt hat, die Heilmittelchen aus „Gottes Hausapotheke“ oder der Nagel an der Wand, an dem ihr Lieblingskruzifix hing - - - oder wie die Tochter der Firmengründer am Esstisch sitzt, unter einem Sinnspruch: „Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nicht’s gesagt“ (sic!; denn Gott schuf die Schrift, von Orthographie hat er nichts gesagt) und dann die Zeit aufschlägt: Dann überfällt einen von der Leinwand her die Absurdität, die Frickel in seinen Filmen herauskitzelt, ein ganz Fremdes da oben auf der Leinwand, das doch ganz normal ist.



Harald Mühlbeyer