FddF LU: Antwort von Herrn Dr. M. Kötz

Unser Redakteur Harald Mühlbeyer berichtet seit Jahren vom Festival des deutschen Films in Ludwigshafen. Sein letzter Bericht zur 8. Auflage der diesjährigen Veranstaltung sorgte beim Direktor Dr. Michael Kötz für Unmut, den dieser in einer Mail kundtat, die wir als Leserbrief werteten, HIER veröffentlichten, verbreiteten und kommentierten. Das sahen wir nicht zuletzt deshalb als geboten an, weil Herr Dr. Kötz in seiner Funktion als Festivalleiter mit der künftigen Verweigerung einer Presseakkreditierung (wie ernst zu nehmend auch immer) drohte bzw. eine solches Vorgehen ankündigte.

Da wohl dieser kleine Disput mittlerweile ein bisschen um sich gegriffen hat, hat Herr Dr. Kötz nun wiederum geantwortet. Diese Replik veröffentlichen wir, wie es sein Wunsch ist, natürlich hier gerne:


"Verehrter Herr Mühlbeyer, lieber Herr Zywietz, verehrte Gemeinde,

da Mühlberger meine Antwort sogleich so weit wie möglich verbreitet hat, will ich mir doch die Mühe machen und ernsthaft antworten.
Und ich erwarte, dass Sie diese zweite Antwort ebenfalls so schön verbreiten wie die erste.

Filmkritiker - das kann ein ehrenwerter Beruf sein, muss es aber nicht. Denn manchmal ist die Eitelkeit stärker als das Bemühen um Wahrheit.
Man kann als Filmkritiker (und dann auch als Festivaldirektor) ernsthaft darum bemüht sein, so vielen Menschen wie möglich auch anspruchsvolle Filmwerke nahe zu bringen, und dafür ist das FESTIVAL DES DEUTSCHEN FILMS bundesweit bekannt, oder man kann sich auch nur um sich selbst und seinen eigenen kleinen Filmgenuss kümmern.

Die Unterbrechung eines Filmabspanns durch den Festivaldirektor wird als Skandal beschrieben: als deutliches Zeichen der heimlichen Missachtung des Films, den man also nur vorgibt, ernst zu nehmen. Das respektvolle Abwarten des Abspanns als Erkennungsritual des wahren Cineasten.
Bisschen dünn, oder?

Um nicht falsch verstanden zu werden:
Filmkritiker, die nicht mal einen Filmabspann würdigen, sind Banausen, Zuschauern darf man es verzeihen, Festivaldirektoren nicht. Tun sie es dennoch, muss es einen handfesten Grund haben. Nach dem könnte man auch fragen. Tut man aber nicht, wenn man sowieso schon Bescheid weiss, weil man ein bestimmter Typ von Journalist ist, der längst alles durchschaut hat und sich vor allem um hübsche Formulierungen kümmert.

Diesem Typ von Journalisten ist sowieso schon klar, dass dieser Festivaldirektor immer jederzeit einen Abspann missachten würde. Schließlich ist es ja auch auch so, dass der Kötz "dem Kritiker keine Zeit lässt aufs Klo zu gehen" (Mühlbeyer), übrigens, weil er möchte, dass an einem Abend drei und nicht nur zwei Filme zu sehen sind, außerdem "lässt er es aufs Zelt regnen" (Mühlbeyer), obwohl er doch auch alle wegschicken könnte, wenn das Wetter den optimalen Filmgenuss unmöglich macht, ferner "zeigt er die Filme in Kino 1 und Kino 2 zeitlich verschoben", wodurch "der nahtlose Wechsel unmöglich wird", und das bloß, weil er dem Publikum diese (für Herrn Mühlbeyer natürlich irgendwie unnötigen) Filmgespräche nach den Filmen ermöglichen will, dem "geht es zusammenfassend ja auch gar nicht um Film, sondern um Event und Naturerholung" (Mühlbeyer), der lügt also, der Kötz, wenn er "bis zum Überdruss im Programmheft und seinen Ansprachen seine Leidenschaft für die Filmkunst besingt" (Mühlbeyer).

Sollte dieser Mühlbeyer dann nicht woanders in Urlaub fahren?
Da er aber diese Art der Kommentierung offenbar als Journalismus missversteht - und dass obwohl es ein Naturerholungsevent ist, bei dem gelogen wird, was das Zeug hält - und sich schon darauf freut, auch im kommenden Jahr wieder akkreditiert zu sein, freut sich der Festivaldirektor auch schon sehr auf eine praktische Begegnung. Mal sehen, ob er den Mut hat, ihn auch noch mal direkt einen Lügner zu nennen...

Um aber Gnade vor Recht ergehen zu lassen: Wenn ihm das längst leid tut, was er da in jugendlichem Übermut von sich gab, dann kann es sein, dass er auf eine verspätete Nachfrage hin auch noch erfährt, warum der Abspann eigentlich unterbrochen wurde. Denn dann muss es ja einen Grund gegeben haben....


Dr. Michael Kötz
27. 6. 2012"

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Mein Kommentar dazu:

Persönlich erlaube ich mir hier kein Urteil zum ursprünglichen Streitpunkt selbst, weder dem Vorfall des Abspann-Abruchs und seiner (Hinter-)Gründe, noch irgendwelchen positiven wie negativen Erlebnisse, die das Festival des deutschen Films dem Besucher bietet oder eben nicht.

Bedauerlich ist jedoch m.E. der Umgangston (bis hin zur "Gnade" der "verspäteten" Antwort - s. letzter Absatz), bei dem von "ernsthaftem Antworten" - immerhin nach einem Tag potenzieller Gemütsabkühlung - leider keine Rede sein kann. Freilich: Geschenkt; zur Leidenschaft gehört eben auch das Temperament, bei allen Beteiligten.

Mehr als schade ist jedoch, dass Herr Dr. Kötz nicht auf den ernstzunehmenden Punkt eingeht: das mögliche Vorenthalten einer künftigen Presseakkreditierung für Herrn Mühlbeyer (bzw. die Ernsthaftigkeit einer solchen Androhung).

Dahingehend, denke ich, könnte von "Skandalisierung" (also das Hochstilisieren von etwas eigentlich wenig Erregungswertem zu einem Skandal) keine Rede (mehr) sein. Jeder Streit um den Unterschied von Kommentierung und Journalismus, Kennerschaft, Banausentum und das Wesen "ehrenwerter Filmkritik" bekommt hier, bei allem Überschwang, einen ganz und gar inakzeptablen Ton. Einen, den man schnell und allzu leicht mit Begriffen wie "Zensur", "Willkür" und "Gesinnungsjournalismus"assoziiert und assoziieren muss. 

Eine ernsthafte, klärende Aussage dahingehend ist deshalb von Herrn Dr. Kötz meines Empfindens notwendig. Gerne auch nicht-öffentlich und direkt, damit dies erledigt sein kann.

B.Z.


FddF LU: Mieser Stil?

Quelle: Festival des deutschen Films/Ben Pakalski
Als Reaktion auf unsere Berichterstattung über das Ludwigshafener Festival des deutschen Films erreichte am 26. Juni 2012, 11.38 Uhr, die Screenshot-Redaktion eine E-Mail vom Festivaldirektor, die wir als Leserbrief werten: 




Sehr geehrter Herr Filmwissenschaftler!

Ich habe zufällig, neugierig im Netz unterwegs, Ihren Beitrag auf Ihrer website gelesen:
http://screenshot-online.blogspot.de/2012/06/fddf-lu-miesester-stil-1.html

Ich schlage vor,
Sie ersparen sich künftig den Besuch des Festivals (und wir uns ihre Akkreditierung).

Sie dürfen unsere Veranstaltung bewerten wie Sie wollen
und Sie dürfen es sich auch selbstverständlich leisten, mich zum Zirkusclown zu deklarieren
(und sich selbst zum Überwachungs-Cineasten)
aber wir dürfen uns dann auch gestatten,
Sie künftig von solchen Zumutungen auch noch auf unsere Kosten zu befreien.

Angesichts Ihrer kritischen Einstellung erscheint es ohnehin geboten, dass Sie sich unabhängig von jedem Vorwurf der Begünstigung Ihre Tickets selbst kaufen. Damit ist die freie Berichterstattung dann auch wirklich gesichert.

Ferner dürfen Sie auch mal Ihrerseits im Netz nachschauen, ob meine cineastischen Kenntnisse und Ambitionen ggf. an Ihre heranreichen
und sich dann anschließend gerne entschuldigen.

MfG

Dr. Michael Kötz
Geschäftsführender Direktor
Festival des deutschen Films gGmbH




Am selben Abend antworteten wir mit folgender Mail:


Sehr geehrter Herr Festivaldirektor!

Ich entschuldige mich dafür, einen kritischen Bericht zu Ihrem Festival nicht nur verfasst, sondern auch noch veröffentlicht zu haben. Ich entschuldige mich dafür, Ihre Lebensleistung nicht angemessen gewürdigt zu haben. Ich entschuldige mich dafür, dass die Filme heutzutage mit einem Abspann von sage und schreibe vier Minuten Länge ausgestattet werden. Ich entschuldige mich dafür, dass Sie bei mir den starken Anschein erweckt haben, einen Film vorzeitig abgebrochen zu haben. Sorry, echt.

Um des lieben, lieben Friedens Willen: Wenn ich in den Satz "Dass Kötz aber sowenig Liebe zum Film empfindet, wie er während der Vorstellung von "Schuld sind immer die anderen" offenbarte, das entsetzt dann doch." hinter Ihren Nachnamen das Wörtchen "anscheinend" einfüge - dann wäre doch meiner journalistischen Sorgfaltspflicht genüge getan und eine Beleidigung Ihrer cineastischen Kenntnisse und Ambitionen nicht mehr gegeben, oder? Weil nicht mehr als Tatsache dargestellt (was ich ohnehin nicht wollte, aber zugegebenermaßen unglücklich formuliert habe), sondern als Anschein (siehe auch im weiteren Verlauf des Textes "offenbarte" und "Anschein")...

Ich finde es nach wie vor empörend, einen Film während des Abspanns abzubrechen. Und ich bestehe darauf, diese Empörung auch kundtun zu dürfen. Und ich bestehe darauf, mir von keinem Festivaldirektor der Welt in meine Berichterstattung reinreden zu lassen, auch wenn ich zehn Akkredierungsbadges umgehängt bekäme.

Ich hoffe im Übrigen, dass Sie auch meine anderen Beiträge zum Festival gelesen haben, von denen die meisten den "besten Filmen" gewidmet sind.
Und ich hoffe, dass Sie im Sinne der von Ihnen in Ihrer Mail postulierten freien Berichterstattung die Vergabe von Akkreditierungen nicht vom Inhalt der Festivalberichte abhängig machen. Das nämlich wäre ein echter Skandal; nicht nur eine private Empörung meinerseits über einen von Ihnen abgebrochenen Film.

Mit freundlichen Grüßen

Harald Mühlbeyer


Aus unserer Sicht ist die Mail von Dr. Michael Kötz nichts anderes als der Versuch, die Pressefreiheit zu brechen. Wir warten gespannt auf eine Antwort des Festivals. Selbstverständlich werden wir Sie auf dem Laufenden halten.

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Um das „wir“ in Screenshot zu ergänzen nur kurz mein (nach etwas Nachdenken leicht überarbeiteter) Kommentar als Co-Redakteur zu diesem Austausch.

Meines Erachtens schießt Herr Dr. Kötz mit seiner Gegenkritik nicht nur erheblich übers Ziel hinaus, sondern diese ist in wesentlichen Teilen gegenstandslos.

Zunächst: Herr Mühlbeyer war nicht als Filmwissenschaftler auf dem 8. Festival des deutschen Films, sondern als Filmkritiker und Journalist. Dies spielt durchaus eine Rolle (s.u.).

Auf welcher Grundlage sich Herr Dr. Kötz zum „Zirkusclown deklariert“ sieht, bleibt mir ein Rätsel. Auch wird nirgendwo die cineastische Kompetenz von Herrn Dr. Kötz in Abrede gestellt, sondern die offenbar mehrfach postulierte „Filmleidenschaft“ angesichts – und das ist der springende Punkt – eines konkreten beobachteten Ereignisses bzw. des Vorgehens von Herrn Dr. Kötz während einer einzelnen, als solcher klar herausgehobenen Vorführung angesprochen.

Das heißt, weder wurde pauschal die Qualität der Filmauswahl des Festivals oder dieses selbst in irgendeiner Weise bestritten und dies Herrn Dr. Kötz angelastet, noch etwas Ähnliches behauptet oder beklagt. Seine cineastischen Kenntnisse und Ambitionen stehen und standen in keiner Weise zur Debatte; sie werden auch nicht im Beitrag thematisiert, sondern erst von Herr Dr. Kötz selbst ins Spiel gebracht. Womöglich hätten wir auch gerne bei Alexander Kluge promoviert, für die Frankfurter Rundschau geschrieben und einen Film wie „Traumhafte Zeiten - Erzählung einer Stadt. Mannheim 1607 – 2007“ konzipiert, produziert, inszeniert, geschnitten und eingesprochen. Aber das tut nun mal nichts zur Sache.  

Es ist denn auch fragwürdig, unter diesen Umständen mit der künftigen Vorenthaltung einer Presseakkreditierung als Sanktionsmaßnahme für einen unerwünschten Beitrag (und als nichts anderes ist es zu werten) zu hantieren. Dabei auch noch auf höhnische Weise – selbst wenn ironisch gemeint – die Pressefreiheit ins Spiel zu bringen, gar zu „begründen“, ist abgeschmackt.

In diesem Sinne:
"[...] aber wir dürfen uns dann auch gestatten, Sie künftig von solchen Zumutungen auch noch auf unsere Kosten zu befreien."

Mit Verlaub; ganz einfach: Nein. Dürfen Sie sich nicht.

Jedenfalls: Sollte sich der betreffende Vorfall nicht so wie von Überwachungscineasten Harald Mühlbeyer beschrieben und (meines Erachtens nicht unbegründet) beanstandet hat, zugetragen haben, bitten wir natürlich um Entschuldigung. Ansonsten hat Herr Dr. Kötz bei einer öffentlichen Veranstaltung agiert, wie er es tat, wurde dabei beobachtet und dafür hinterher kritisiert. In diesem Fall wäre von einer Person in dieser Position und mit seinem Renommee vielleicht nicht nur mehr Souveränität zu wünschen, sondern auch zu erwarten.

Aber, bei aller Hitzigkeit  vergeben und vergessen.


Bernd Zywietz  

FddF LU: Miesester Stil #1

Das Ludwigshafener Filmfestival ist nichts für Cinephile. Das Filmbild ist oft genug verschwommen, wenns der Beamer nicht über 35 Meter Zeltlänge schafft; sitzt jemand eine oder zwei Reihen vor einem, sieht man das halbe Bild nicht; wenn es regnet - was es regelmäßig tut - hört man den Film kaum mehr, bis er lauter gestellt wird. Für Cineasten ist es auch nichts: im Zwei-Stunden-Takt folgt Film auf Film, manchmal auch weniger, wer mehrere Filme nacheinander sehen will, hat kaum Zeit, aufs Klo zu gehen; und die Timetables sind zwischen Kinozelt 1 und Kinozelt 2 gegeneinander verschoben, ein einigermaßen nahtloser Wechsel ist nicht möglich.

Doch das ist OK, wenn man die Gegebenheiten akzeptiert: Dass es hier eigentlich weniger um Film geht als um das Event. Festival als Urlaub zuhause, mit Freizeitwert drumrum, mit Essen, Trinken, Naturerholung. Im Grunde also kaum etwas anderes, als ein Multiplex bietet, nur nicht urban, sondern im Naherholungsraum: Filme als Aufhänger für schöne Stunden, die am Ende gar nichts mehr mit Film zu tun haben müssen; Filme als Anlass, zu kommen, und das Drumrum als Anlass, zu bleiben. Vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss, vielleicht nicht jedermanns Sache, aber eine Entscheidung, zu der Festivaldirektor Michael Kötz (Dr. Michael Kötz, darauf wird Wert gelegt) steht.

Dass Kötz aber sowenig Liebe zum Film empfindet, wie er während der Vorstellung von "Schuld sind immer die anderen" offenbarte, das entsetzt dann doch. Und ja: Ich bin sauer. Wird natürlich keinen jucken. Was aber hier geschah, überschritt die Grenzen bei weitem. Und ein Festivaldirektor, der sich die Leidenschaft zum Film auf die Fahnen geschrieben hat, darf nicht einmal den Anschein von Bigotterie aufzeigen. Diese Leidenschaft für die Filmkunst wird bis zum Überdruss in Programmheft, Pressemitteilungen und nicht zuletzt in den Ansprachen von Dr. Kötz besungen; doch wenn einer keine Achtung hat für einen Film, wenn er ihn nicht in voller Länge durchspielen lässt, wenn er ihn willkürlich, eigenmächtig unterbricht, spricht es eben doch dafür, dass da einer ein Filmfestival durchzieht, dem die Kunst nur Nebensache ist.

Nach dem Film kommt der Abspann. Der Abspann gehört zum Film dazu. Man muss nicht sitzenbleiben - aber man kann es. Man kann dann den Film nachklingen lassen, lässt sich von der Musik aus der filmischen Welt hinausbegleiten, kann den Credits auch noch einige Infos zum Film und seinem Werden entnehmen. "Bleiben Sie sitzen während des Abspanns", dekretierte Kötz vor dem Film, "das lohnt sich, und ich werde dann das Team nochmal vorstellen!" Was einerseits seinen Stolz auf die anwesenden Filmemacher ausdrückt, was andererseits auch lesbar ist als Achtung vor dem Film in seiner ganzen Länge.

Pustekuchen. Abspann läuft eine Minute, Kötz geht ans Mikro. "Ich erfahre gerade, dass der Abspann vier Minuten dauert!", wundert er sich; zack, geht das Licht an, wusch, geht der Ton runter: der Film, der noch läuft, wird abgebrochen, de facto beendet, bevor er zu Ende ist, nur, damit Regisseur, Produzentin und Hauptdarsteller beklatscht werden können.

Kleiner Tipp: Nächstes Mal nicht erst drei Minuten, sondern 30 Minuten vor Schluss den Film unterbrechen. Aufmerksamkeit für Filmemacher wie für Festivaldirektor ist garantiert!

Harald Mühlbeyer

FddF LU: Beste Filme #3: "Am Ende des Tages"

Erstmals laufen auf dem Ludwigshafener Filmfestival auch nicht-deutsche Filme: Aus dem befreundeten Ausland nämlich, und das ist nur konsequent, ist doch beispielsweise die österreichische Kinematographie der letzten Jahre insgesamt weit interessanter als die deutsche. "Die Vaterlosen" läuft hier, ein Film über Hippiekommune und Väterlichkeit. Und aus der Schweiz "Mary & Johnny" eine interessante Version von Horváths "Kasimir und Karoline", verlegt aufs Zürifescht 2010, während der WM.

Und: Peter Payers "Am Ende des Tages", ein österreichischer Thriller, der es in sich hat. Simon Schwarz, der Bertl aus den Brenner-Krimis, spielt einen aufstrebenden Jungpolitiker namens Robert mit besten Aussichten auf einen Sitz im Nationalrat. Vor Wahlkampfbeginn nochmal ein romantisches Wochenende in den Bergen mit der schwangeren Frau Katharina - doch der Wochenendtrip wird gestört von einem Verfolger im alten Opel. Der drängt sich auf, gibt Lichthupe, bleibt hart auf der Spur - es ist Wolfgang, Roberts alter Schulfreund, ein Kleinkrimineller. Der scheint irgendwas zu wissen, macht Andeutungen, belästigt sie, weiß auch genau, wo sie immer stecken: dass er sie per GPS-Tracker verfolgt, erfahren sie erst viel später.

Irgendwann ist Wolfgang als Frau gekleidet, geschminkt in zerrissenem Kleid und BH, eine groteske Erscheinung, zumal in Verbindung mit seinen Knacki-Tattoos. "Wo ist die kleine Manuela?" - eine Frage, die sich auch Katharina stellt, zu der Robert nur Ausflüchte einfallen. Immer drängender wird das Geheimnis, immer bedrängender Wolfgang; und irgendwann kommen die schlimmen Jugendsünden raus, immer mehr und immer schlimmere...

Das ganze ist übrigens eine einzige lange Verfolgungsjagd durch schönstes Bergpanorama; dazu kommen ständige Handytelefonate Roberts mit seinem politischen Mentor; dazu kommt seine ausgestellte Liberalität, seine Volksnähe - aber klar: das geht als erstes zum Teufel, man kann ja auch kaum freundlich sein zu den Leuten, wenn unter der Windschutzscheibe tote Meerschweinchen stecken. Wie er ein Interview ausgerechnet in dieser Situation hält, inklusive Ausbruch gegen die parlamentarische Quasselbude, gegen die Journaille und gegen die Interviewerin mit ihrem depperten Doppelnamen, das ist ganz großes Kino. Und wie Peter Payer immer tiefer dringt, Schicht für Schicht abträgt, bis von Robert, von der Politikerkaste, von der Humanität nichts mehr übrig ist: Das könnte im deutschen Film nie passieren; zumal nicht in Form eines Genrethrillers.

Man darf nicht vergessen, dass in Österreich seit ein paar Monaten eine heftige Korruptionsaffäre brodelt, die alles umfasst, was im Wiener Politbetrieb sich umtreibt - der Film ist also nicht nur zwingend stringent in Handlung, Dramaturgie und (bitterer) Weltsicht, sondern fußt auch noch auf der Realität. Was alles noch schlimmer - sprich: was den Film noch besser macht.

Obwohl er schon im letzten Sommer in Österreich angelaufen ist, hat "Am Ende des Tages" selbstverständlich noch keinen deutschen Kinostart. Man muss ja Leinwände freihalten für das deutsche Mittelmaß, das wegen Fördergelder zwingen im Kino laufen muss.

Harald Mühlbeyer

FddF LU: Beste Filme #2: "Beziehungsweisen"

Erwartungen und Vorwürfe, unausgesprochene Wünsche und unterdrückte Wut, alte Wunden und neue Verletzungen, Stress, Unaufmerksamkeit, Beharren auf dem eigenen Standpunkt und der Verdacht der Verantwortungslosigkeit beim anderen, alltägliche Kleinigkeiten und grundsätzliche Konflikte: Es ist nicht leicht, eine Beziehung zu führen, sie in neue Stadien übergehen zu lassen, sie zu pflegen und zu erhalten; vor allem, wenn auch noch Liebe dabei sein soll.

Calle Overweg hat ein Studio angemietet, setzt drei Paare auf genau ausgerichtete Stühle, gegenüber ein Beziehungsberater, Scheinwerfer, Mikrophon, Kameras und Monitore sind Teil dieses filmische Raumes. Es ist eine Versuchsanordnung, die ihren Experimentalstatus nie auch nur ansatzweise zu vertuschen sucht: Paare reden über sich selbst, der Therapeut versucht zu helfen. Die drei Paare, eines mit Zweifeln am Kinderwunsch, eines mit zwei Kindern und zwischenmenschlichen Problemen, ein älteres, das jahrelang vor sich hergelebt hat, wirken wie aus dem Leben gegriffen.

Einen "gespielten Dokumentarfilm" nennt sich der Film, tatsächlich ist alles gespielt, abgesprochen, vorentworfen. Die drei Paare: das sind Schauspieler, die entlang ihrer vorgegebenen Linien ihre Rollen improvisieren. Die drei Therapeuten: die sind echt, ihnen werden die drei Fallbeispiele vorgespielt, sie reagieren darauf, wie sie's in echt tun würden. Und es eröffnen sich Einblicke in Beziehungen, ins Private, in Beziehungsarbeiten, in Probleme und Lösungsansätze, und dass das nicht trocken wirkt, nicht dröge, sonden lebendig und, ja: wahr, das ist so etwas wie das Wunder der Leinwand.

Denn natürlich ist alles künstlich, da besteht kein Zweifel; wenn wir nicht am therapeutischen Gespräch teilnehmen, sehen wir den Protagonisten bei ihrem Alltag zu, den sie auf einer Bühne mit rudimentären Requisiten, mit Markierungen auf dem Boden "Dogville"-mäßig nachspielen. Und zwischendurch taucht Calle Overweg auf und befragt Schauspieler und Therapeuten nach ihren Eindrücken vom Bisherigen.

Das Echte der Interviews (das natürlich nur scheinbar echt ist, durch Stottern, Rumdrucksen, Selbstwidersprüche und Sponanität aber als authentisch rüberkommt) findet in der offenen Studiosituation statt - ein Bruch, der erweitert wird durch das abstrakte künstliche Bühnenspiel, wiederum eingebettet in den Entstehungsprozess des Films, in dem Overweg selbst auftaucht, und ergänzt durch kleine Rücknahmen des Artifiziellen: Wenn einer Auto fährt - eine Lenksäule und zwei Sessel genügen zur symbolischen Darstellung der Idee des "Autos" - hören wir Verkehrsgeräusche, nicht vorhandene Türen schlagen geräuschvoll zu: Der Soundtrack überführt das Künstliche wieder in eine behauptete Wirklichkeit; und zudem wird von irgendwoher immer wieder klassische Musik eingespielt.

Und ja: das ist lustig. Da muss man lachen. Weil spielerisch diese Brüche immer wieder auf die Spitze getrieben werden; weil das ganz Private dieser Paare ganz öffentlich ausgebreitet wird; weil man an den Fehlern und Verhaltensweisen sich selbst wiedererkennt und zugleich - ist ja alles nur Film! - drübersteht; weil sich die Offenbarungen dynamisch steigern und das Verhältnis von Erwartung und Überraschung zu austariert ist, dass es Komik erzeugt. Und, weil man sich über die Machart zwischen billigstem Studioarrangement im Formalen und penibelst, aber freiestmöglich ausgeführtm Inhalt erfreut.

Ein seltener Fall, dass ein Film über Beziehungen nur am Rande von der Liebe handelt. Die ist, so führt eine der Therapeutinnen mit dem Schatz langjähriger Erfahrungen im Rücken aus, sowieso wenig maßgebend. Was Beziehungen zusammenhalte, seien gemeinsame Kinder und Schulden.

Der Film läuft im Fernsehen, auf 3Sat, irgendwann um den 20. August rum. Fernsehprogramm beachten!

Harald Mühlbeyer


FddF LU: Bester Film #1: "Totem"

"Was bleibt" und "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" sind sicherlich Highlights dieses Festivals, sie laufen ab der zweiten Wochenhälfte.

Bisher sehr gut im Sinn von bemerkenswert, erinnerungswürdig und strange: "Totem" von Jessica Krummacher, in dem das schüchterne, verdruckste Hausmädchen Fiona bei der Familie Bauer arbeitet. Und während sie vorlügt, ihre Eltern seien tot, der Mutter aber vorlügt, sie sei im Urlaub am Mittelmeer, kommen wir dieser völlig verdrehten Familie nahe; näher, als uns vielleicht lieb ist. Aber ist es nicht das, was an einem Film interessant ist: Wenn er uns irgendwohin führt, wo wir nie sein werden, nie sein möchten, und es uns trotzdem vorführt, und wir uns unbehaglich fühlen und gleichzeitig irgendwie aufgehoben? Weil wir wissen, dass hier das Seltsame hin zum Absurden geführt wird, dass es also existentialistisch wird, irgendwo, irgendwie, dass irgendwas Allgemeines, Wahres dran ist? (Auch wenn wir nicht herausfinden, was genau?)

Tatsächlich, der Abspann verrät es: der Film beruht auf einer wahren Geschichte. Was ihn noch merkwürdiger erscheinen lässt. Wobei wahre Geschichte ein dehnbarer Begriff ist. Die Bauers wohnen in einem Mittelstandshaus, benehmen sich dazu wie Prolls, wahren einen Sinn für Ästhetik, der in merkwürdig gedämpfte Wutausbrüche ausarten kann. Sie sitzen in kurzen Hosen auf dem Ledersofa; Vater Wolfgang - mit erstaunlichem Gebiss - wills schön haben beim Hartwurstessen und spießt sie sorgsam auf Zahnstocher auf. Um dann Fiona mit Kartoffelsalat zu vergewaltigen: er stopft ihn ihr ins Maul, penetriert sie damit oral, es ist zum Kotzen absurd.

Mutter Claudia kümmert sich um die Kinder. Um die Jüngsten, zwei Babies. Der ältere Sohn mit Anzeichen von Hyperaktivität ist Fiona überlassen, die 15jährige Tochter macht mit einem 30jährigen rum, der nie irgendwas zustandebringen wird. Claudia aber pflegt Haushalt und Babies, redet sichs zumindest ein, wenn sie nicht in wahlweise aggressiver, wahlweise phlegmatischer Depression versinkt. Dass die Babies keine echten sind, sondern nur Puppen, die sie an Babies statt angenommen hat, ist nicht weiter der Rede wert; der Film zeigt's zwar, weist aber niemals explizit darauf hin. Was eine Qualität für sich ist, nicht alles auszusprechen, die den meisten zumal deutschen Filmen fehlt.

Eine völlig verkorkste Familie also, Verwirrung beim Zuschauer, eine beobachtende und teilnehmende Fiona; und eine dickliche, ältere Dame, die immer wieder durch den Zaun guckt, im Garten auftaucht, den Eltern ein Gespräch reindrückt. Wer ist sie eigentlich??? Gut, dass wirs nicht wissen, Information würde dem Film viel wegnehmen.

Was Krummacher zeigt, ist eine Ulrich-Seidl-Familie mit Schlingensief-Problemen. Eine Mischung, die verstört und fasziniert. Am 26. April hatte der Film Kinostart; vielleicht kommt er ja mal bei Ihnen vorbei.

Harald Mühlbeyer

FddF LU: Die Eröffnung mit "Blaubeerblau"

Das Festival des deutschen Films hat den expliziten - auf den weitgestreuten Flyern zum Ausdruck gebrachten - Anspruch, "die besten Filme des Jahres" zu zeigen. Das ist sehr ambitioniert und von großem Selbstbewusstsein gekennzeichnet; und es ist schwammig genug, um so einigermaßen durchzugehen: wer entscheidet denn über "das Beste"? Kommt der Film beim Publikum an, ist dies der Beweis für seine Güte; kommt er weniger an, hat er künstlerische Qualitäten: eine Win-Win-Situation.

Zur Eröffnung "Blaubeerblau", ein Fernsehfilm, verantwortet von BR und MDR, mit allem, was einen Fernsehfilm ausmacht: Unterhaltung diesseits von Christine Neugebauer, die ihn für einen angenehmen Mittwochabend qualifiziert; man kann zwischendurch aufs Klo gehen; und er erfüllt einen gewissen Bildungsanspruch.
Ersteres bewirkt einen Publikumsappeal, der sich in minutenlangen Ovationen ausdrückte, weil sich in dem Film das Publikum wie in einem weichen Kissen gemütlich ausruhen konnte; eine recht vorhersehbare Dramaturgie mit einer Handlung, die immer wieder zum Schmunzeln oder gar zum Lachen reizt; und das Thema des Sterbehospizes.

Letzteres freilich: das sichtliche Bemühen, ein achso sperriges Thema dem Publkum schmackhaft zu machen, machte mir den Film gleich zu Anfang unsympathisch. Da wird drauf rumgeritten, dass der Architekturbüroangestellte Fritjof (Devid Striesow) ein Hospiz ausmessen muss, das erweitert werden soll, und Striesow zeigt mit allen Fasern seines Körpers die Reserviertheit, Unsicherheit, Ablehnung des Gedankens ans Sterben. Jahaa, das ist ein Tabuthema, so heißts mal im Film, aber gehört zum Leben dazu! Und erklärt erstmal, was ein Hospiz ist, und muss erstmal genauestens die eigene Courage feiern, dieses "heiße Eisen" anzupacken, und impliziert stets einen Zuschauer, der sich vor dem Thema fürchtet und lieber nichts davon wissen will. Und das ist ja nunmal fraglich, vor allem bei einem ARD-Publikum jenseits der Wechseljahre, das ohnehin dem Sterben näher ist als der Geburt. Hat man wirklich diese Manschetten im Angesicht des Todes? Viel eher scheint der Film im Sturm offene Türen einzureißen mit seiner Behauptung der Brisanz (und damit der Relevanz) seines Themas; das er ja zudem erstmal noch zu erklären müssen glaubt.

Nach ner halben Stunde wirds besser, Striesow im Hospiz beim Messen, trifft auf einen krebskranken früheren Schulkamerade, den Stipe Erceg überzeugend spielt, etc.pp.; jetzt spielt Striesow nicht mehr so überdeutlich, sprich: schmierendarstellerhaft, sondern macht seine kleinen Gestiken und Mimiken, die er so gut beherrscht. Vorhersehbar bleibts immer noch; wird aber jedenfalls erträglicher.

Eröffnungsfilm eines Festivals der besten Filme des Jahres aber hätte dies nicht sein sollen.

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films Ludwigshafen

Heute Abend beginnt das 8. Ludwigshafener Festival des deutschen Films: bis zum 24. Juni laufen 31 Filme - deutsche Produktionen, aber auch drei aus den Nachbarländern Österreich und Schweiz. Dazu gibt es täglich Kinderfilme, und zudem die Übertragung des EM-Spiels Deutschland-Dänemark.

Wie immer findet das Festival auf der idyllischen Parkinsel statt; wie immer in Zeltkinos; wie immer werden zehntausende Besucher da sein; wie immer gibt es einen Filmkunstpreis, dotiert mit Euro 50.000; wie immer laufen Filme, die schon neu sind, neben solchen, die schon in Kino und Fernsehen gezeigt wurden; wie immer wird zwischen Kino- und TV-Film kein Unterschied gemacht. Wie immer ist der Anspruch, die besten Filme überhaupt zu zeigen.

Ob das insgesamt gelingt, ist eher zweifelhaft; immerhin läuft der recht klug ausgedachte, aber eher mäßig ausgeführte "Die Vermissten" von Jan Speckenbach, in dem André Hennicke in eine Welt hineinstolpert, die ihre Kinder frisst. Andererseits kann man hier zum Beispiel Hans-Christian Schmids großartigen "Was bleibt" sehen, in dem Corinna Harfouch nach jahrelanger Therapie aus eigenem Entschluss ihre Antidepressiva absetzt und damit bei ihrer Familie in Ungnade fällt. "Fenster zum Sommer" von Hendrik Handloegten ist eine schöne Liebesgeschichte um parallele Leben; "Das Meer am Morgen" von Volker Schlöndorff eine multiperspektivische Annäherung an die nazideutsche Willkür im besetzten Frankreich der 1940er Jahre.

Sandra Hüller - von der im letzten Jahr zwei Filme in Ludwigshafen liefen - wird dieses Jahr ohne aktuellen Film mit dem Preis für Schauspielkunst ausgezeichnet, genau wie Otto Sander, dessen "Bis zum Horizont, dann links!" auf der Parkinsel läuft.

Wie immer wird unser Reporter Harald Mühlbeyer direkt vom Festival berichten.

Alle Infos zum Festival des deutschen Films HIER.

Theater: "Der Fall M.M." - Hinter die Fassaden blicken und Marilyn feiern


Eine ungewöhnliche Mischung aus Ballett, Schauspiel und Musical kommt Marilyn Monroe näher als eine Imitation

Von Tonio Gas mit Bettina Uhlich


Am Abend des 28.4.2012 öffnete sich der Vorhang des Schauspielhauses Kiel für die Premiere von „Der Fall M.M.“. Er wollte sich am Ende angesichts frenetischer Standing Ovations gar nicht mehr schließen. Dabei scheint die Beschäftigung mit Marilyn Monroe als Mythos und als Kriminalfall eher ein undankbares Thema. Sicherlich, das eine wie das andere fasziniert noch heute, aber beides hat auch schon zu inflationären voyeuristischen Publikationen und abstrusen Verschwörungstheorien geführt. Wer etwas über Marilyn machen will, muss sich also von der Masse abheben. Spekulationen über ein Mordkomplott der CIA und / oder der Kennedybrüder sind mit den Jahren zahlreicher, aber nicht besser geworden; laut dem seriösen Marilyn-Biographen Donald Spoto ist vieles davon nachweislich Unsinn.

Doch dann hat das Stück überzeugt, dessen Vielseitigkeit sich kaum in einer Inhaltsangabe zusammenfassen lässt. Ausgehend vom Kriminalfall – wie starb MM? – tritt Mr. Clemmons (Rudi Hindenburg) als Ermittler und Erzähler auf. Als erster Polizist bei der toten Marilyn lässt ihn der Fall nicht mehr los, in dem er gegen Vertuschungsbemühungen schließlich auf eigene Faust ermitteln muss. Hier ist „Der Fall M.M.“ klassischer Film Noir, der Detective gegen den Sumpf, der karge Schreibtisch am Bühnenrand das archetypische Setting, die Kommentare fast wie ein Voice Over, die Erzählung in Rückblenden, die aber immer wieder in die Gegenwart springt. Clemmons ist Erzähler, Kommentator, aber auch selbst Teil der Handlung, insoweit sie in der Gegenwart spielt. Hindenburg spielt ihn souverän und weiß sehr genau, was er da tut und tun soll.

Clemmons steht für den Versuch der Wahrheitsfindung, das Stück passt sich dem an, indem es im Gegenwartsteil reines Schauspiel ist. Weil man die Vergangenheit höchstens erahnen, aber nicht genau rekonstruieren kann, wählt die Inszenierung eine Form der Verfremdung: Klassischer Tanz und gesungene Musicalnummern wollen nicht darstellen und behaupten nicht genau zu wissen, wie es alles genau war, mit Marilyn. Aber wie man es sich vorstellen könnte. Fantasievolle Formen für etwas, das immer ein Teil unserer Fantasie bleiben muss. Das Stück von Autorin und Regisseurin Jana Pulkrabek wahrt eine sympathische Bescheidenheit und münzt sie in Kreativität um. Clemmons bietet zwar am Ende den Versuch einer Antwort an; doch ist dies ein Stück, welches offen zugibt, nichts Genaues wissen zu können.

Vergangenheit und Gegenwart berühren sich, können aber nie miteinander verschmelzen. Hindenburg ist Schauspieler. Sonia Dvorak, die Darstellerin Marilyn Monroes, ist Tänzerin. Sie können nicht zusammenkommen, er kann sich ihr nur zu nähern versuchen. Sie lebt in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, Clemmons hatte sie nie kennengelernt und versucht es nun postum. Also hat Dvorak eine andere künstlerische Ausdrucksform als Hindenburg. Das Crossover aus Schauspiel und Tanz ist nicht nur, wie Generalintendant Daniel Karasek meinte, eine große selbstlose Geste des neuen Ballettchefs Yaroslav Ivanenko. Es drückt auch kongenial die Verschiedenheit von gegenwärtigem Whodunit und vergangenem Geschehen aus, das als Mythos, aber nicht als exakt rekonstruierbare Realität weiterlebt. Drum hat Dvorak eine (gefühlt) kürzere Bühnenpräsenzzeit als Hindenburg, aber ist dennoch mit Recht die Hauptperson und darf in jedem Auftritt faszinierende Akzente eines Puzzles setzen. Das Zusammenpuzzlen dauert länger, ist mühevoller.

Da ist es nur konsequent, wenn der Mythos sich dem Versuch widersetzt, die Realität eins zu eins abzubilden. Man kann sich Marilyn gerade nähern, indem man gar nicht erst eine Imitation versucht; darum hat es ein aus verschiedenen Formen zusammengesetztes Theaterstück leichter als ein Film, der im klassischen dramatischen Sinne eine Geschichte erzählt.

Dvorak ist eine berührende, ausdrucksstarke Marilyn, die zum Glück nicht ganz auf den Kultfaktor verzichtet hat und der man ansieht, dass sie gewisse Posen MMs einstudiert hat. Sie darf wunderschön designte Marilyn-Kleider in den Primärfarben Weiß und Rot tragen, die auch auf vielen MM-Fotos prägend waren. Sie darf jenseits des Balletts in Musicaleinlagen wie Marilyn tanzen – und singen! Geschickt haben Pulkrabek und Ivanenko einige der bekannten musikalischen Highlights der Filme ausgewählt, ohne dies jemals zur bloßen Nummernrevue verkommen zu lassen. Mit der Jugendfreundin und Filmpartnerin Jane Russell (Pina Bergemann) darf Marilyn noch einmal „We’re just two little girls from Little Rock“ darbieten, und auch bei „My Heart Belongs to Daddy“ nochmals das kleine kokette Mädchen sein. Der wehmütige Song „One Silver Dollar“ stellt aber den eigentlich Gänsehautmoment dar, der bezeichnenderweise relativ weit am Ende des Stückes erklingt.

Überhaupt gewann das Stück nach einem überraschend schnell und unvermittelt zu Ende gegangenen ersten Akt an emotionaler Intensität. Gleichwohl war die Grundstruktur bereits in der ersten Hälfte gelegt worden, die mehr als oberflächliche Spaß-Musicalnummer mit ein bißchen Schauspiel und Tanz war. Hier hatte Hindenburg die wichtige Eröffnung in die detektivische Rückblendenstruktur. Hier konnte Dvorak mit ihrer Singstimme beeindrucken, die nicht ausgebildet ist, aber umso authentischer wirkte und Marilyn näher kam als die gesanglich Marilyn sehr fremd wirkende Michelle Williams. Allmählich vermischen sich Realität und Film- bzw. Starkult, und plötzlich erkennen wir eine Szene durch das Auftauchen und Sich-Formieren mehrerer Darsteller als Musicalnummer aus „Gentlemen Prefer Blondes“. Und dann kommt auch schon der Song von den kleinen Mädchen aus Little Rock, Marilyn als kleines Mädchen, aber auch als Star-Blondine, da lässt die Bühne nicht nur Raum für den Tanz, sondern auch für die Fantasie und eigene Interpretationen.

Natürlich haben diese Musicaleinlagen und ihre Abfolge nicht nur einen dramatischen Zweck, sondern sollen auch Spaß machen und den Kult feiern. Das Stück blickt hinter die Fassaden, ohne zu vergessen, Marilyn hochleben zu lassen. Das ist vielleicht die schönste Kreisquadratur, die die Unmöglichkeit, sich MM komplett zu erschließen, am besten ausdrückt. Eine ausgebildete Sängerin hätte eher geschadet; Dvorak hat hörbar viel aufrichtiges emphatisches Interesse an Marilyn, die sie doch weder sein kann noch will. Geschickte Regie-Einfälle unterstützten Dvoraks Eigenständigkeit gegenüber Marilyn. So wechselt beispielsweise einmal Dvoraks Stimme auf diejenige Marilyns über, wir bemerken es kaum, aber am Schluss – singen beide im Duett.

Kreativität und Authentizität vereinigen sich ferner in den klassischen Tanzszenen. Da gibt es nicht nur die Show-Einlagen, sondern originelle tänzerische Versinnbildlichungen von Situationen aus Marilyns realem Leben. Man muss einfach gesehen haben, wie kurz vor Schluss Joe DiMaggio (Alexander Abdukarimov) und Marilyn einen abenteuerlichen und hochgradig artistischen (dabei aber nicht offen spektakulären) pas de deux vollführen, bei dem sie weitgehend sitzen (!), schwungvoll und mit großem Gestus nacheinander greifen, aber einander immer wieder knapp verfehlen. Das sieht nicht nur schlangenartig elegant aus, sondern es verschafft auch einen wehmütigen Eindruck davon, dass der reale DiMaggio Marilyn kurz vor ihrem Tode erneut heiraten wollte und Hoffnung auf eine positive Wendung in ihrem Leben bestand. Das Glück ist sozusagen mit den Händen zum Greifen nahe, aber die beiden können es, können auch einander nicht greifen und fassen immer haarscharf daran vorbei. Einmal agiert Marilyn mit sich selbst als Kind, und plötzlich muss die erwachsene Marilyn und müssen auch wir überrascht feststellen: Das Kind ist verschwunden, das Kinderbett ist leer, Marilyn umarmt eine (im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Bettzeug gebildete) leere Hülle – eine Illusion, eine Sehnsucht auch. Und wie die verlorene Kindheit muss auch der Fall M.M. ein Mysterium bleiben, das wir nicht zu fassen bekommen können.
Clemmons bietet zwar eine Antwort an, aber Marilyn wird dadurch nicht in die reale Welt überführt und fassbar gemacht, sondern schwebt mit einem ätherischen Lichtschein in einer ihrer letzten Szene schon ein bißchen jenseits der Lebenden, aber damit auch jenseits des Fassbaren. Eine Legende, ein Mysterium. Aber sie ist nun immerhin Teil der Bretter, die die Welt bedeuten.

Kino: "My Week with Marilyn" - Ein Schein auf Marilyn zeigt, dass sie selbst am hellsten leuchtet

Marilyn Monroe ist groß. „Meine Woche mit Marilyn“ ist nur sehr gut. Kann der Film etwas dafür?

Von Tonio Gas mit Bettina Uhlich


Wer wollte das nicht gerne bei „MM“: Vom Star und Sexsymbol verführt werden und den Menschen verführen, oder besser gesagt: zu einer Menschwerdung führen, ihn retten? Colin Clark ganz gewiss. 1956 ergatterte sich der dreiundzwanzigjährige Engländer, der von Kindesbeinen an mit Stars wie Sir Laurence Olivier und Vivien Leigh bekannt war, eine Stellung als dritter Regieassistent (also Mädchen für alles). Nicht bei irgendeiner Produktion, sondern beim Dreh von „The Prince and the Showgirl“, jenem Film, für den Olivier Marilyn nach England holte. Während einer Woche kam Clark Marilyn offenbar so nahe, dass auch er glaubte, eine gute Freundin beschützen zu können. Auf der Basis eines zusammenfassenden Briefes an einen Freund veröffentlichte er Jahrzehnte später das für ihn unvergessliche Erlebnis als Novelle, mit dem Untertitel „Eine wahre Geschichte“.

Nun wurde „Meine Woche mit Marilyn“ verfilmt. Kann das gut gehen? Ja und nein! Man muss sich eingangs einmal vergegenwärtigen, wie schwierig schon die Ausgangslage ist: Ein Film sollte möglichst für die Masse gut und für die verrückten MM-Experten noch besser sein. Desweiteren verlangt die Gestaltung einer solchen Ikone mit tragischem Ende Respekt, aber keine devote Haltung, die die Kreativität einschnürt. Das mit dem Respekt hat auf jeden Fall schon einmal funktioniert; genau wie bereits in Clarks Buch, weswegen irgendwann nicht mehr allzu wichtig ist, ob sich jedes kleine Detail wirklich genau so zugetragen hat.

Um „für Anfänger und Fortgeschrittene“ zu sein, greift der Film auf einen alten, aber immer noch guten Trick zurück: Obwohl weitgehend buchgetreu, werden verschiedene Aussagen von und über Marilyn gesammelt, die zum Teil bei ganz anderen Gelegenheiten als beim Dreh von „The Prince and the Showgirl“ gefallen sind. So findet sich Oliviers entnervtes „Sei sexy!!!“ (verbürgt) neben Marilyns „Jedes kleine Mädchen sollte gesagt bekommen, wie hübsch es ist“ (nicht zur fraglichen Zeit geäußert). Natürlich ist beides wichtig. Marilyn hoffte vergeblich, von einem großen Theatermann ernster genommen zu werden als von vielen ihrer anderen Regisseure – der Dreh war immer wieder von Spannungen begleitet.

Wenn er nicht mit erklärenden Dialogen arbeitet, sondern sich auf das Bild verlässt, zeigen sich die ganz großen Stärken des Films. So sehen wir immer wieder, ohne dass die Kamera dies besonders hervorhebt, hohe Literatur in Marilyns Privatzimmern und in ihrer Garderobe herumliegen. Das verschafft ihm einen Mehrwert und stellt MMs verbürgtes Interesse an Literatur besser dar, als wenn man es in Dialogen extra betonte. Das Klischee des blonden Dummchens muss nicht widerlegt werden. Es ist gar nicht erst da.

Was haben wir stattdessen? Eine Marilyn, die der Film gleichsam als private wie als öffentliche Frau zu zeigen versucht. Der Film versucht dies mit einer ungewöhnlichen Gewichtung, und fast vermuten wir hier einen bewussten Trick: Die Szenen von MM als Ikone machen lediglich ganz wenige Minuten des Filmes aus, aber sie sind dramatisch an derart markanten Punkten platziert, dass deren Bilder es zu gefühlten 95 % in die Berichterstattung über den Film gebracht haben. Und die Kritik kreist zu einem Großteil um die Frage, ob die Darstellerin Michelle Williams eine Marilyn Monroe verkörpern kann. Kurz gesagt: Sie kann es nicht, jedenfalls nicht in den Szenen, in denen sie sich in die berühmten Posen wirft. Die kann Williams noch so intensiv studiert haben, da kann man ihr noch so viel Achtung zollen. Es gibt nur eine Marilyn, und das ist Marilyn. Ist das nun so schlimm? Eigentlich nicht. Obwohl Williams’ etwas raue Singstimme schon arg entfernt vom samtweichen Timbre des Originals ist: Sie und das Team haben natürlich genau gewusst, dass sich MM nicht kopieren lässt. Also ist es nicht ungeschickt und alles andere als nichtssagend oder feige, sich der erwarteten Ikonenbilder in kurzen Szenen und schnellen Montagen zu entledigen.

Der Film zeigt Marilyns Wirkung stattdessen in Metaphern oder im Blick von Nebenfiguren. Ein hübscher Einfall ist beispielsweise zu Beginn, wie immer wieder die altmodischen Kamerablitzlichter in Großaufnahme aufflammen, wobei die Lampen naturgemäß verglühen und dem hellen Flash zerschmelzendes Glas/Wolfram in einem warmen Goldbraun folgt. Marilyn bringt alles zum Glühen und zum Schmelzen – Blicke, Seelen, Fotografen, die Fotoplatten selbst, die aus Fotos bestehenden Zelluloidstreifen, die Leinwände, die Kinozuschauer. Die Metapher wirkt viel besser, als wenn wir Michelle Williams noch länger beim guten, aber gegenüber dem Original abfallenden Posing zugeschaut hätten. Es ist klug, dass der Film Williams dem direkten Vergleich eher selten aussetzt. Wie MM auf andere wirkt, zeigt der Film besser beim Blick auf die anderen als beim Blick auf Marilyn.

Daher ist auch der einzige Handlungsstrang, der gegenüber dem Buch hinzuerfunden wurde, überraschend gut. Man könnte für arg kitschig halten (und Dietmar Dath hat es in der FAZ auch getan), dass das Drehbuch Clark eine Romanze mit Lucy, einer biederen Kostümbildnerin (Emma Watson) andichtet: Geht das nicht zu sehr in Richtung eines überflüssigen Love Triangle, die Normale und die Außergewöhnliche? Vielleicht, aber die Rechnung geht auf. In einer Szene muss Lucy nur betrachten, wie Marilyn an Clark vorbeigeht, nein: schwebt, in ihrem weißen Kleid, um zu sehen, was mit dem jungen Mann gerade passiert. Ohne dass Williams viel mehr machen muss als den Mythos MM einmal kurz vorbeischreiten zu lassen, bewirkt sie mehr als mit allen einstudierten Posen und Gesängen.

So zieht Marilyn / Williams nicht nur diese Lucy in den Bann, sondern auch uns; der Film hat eine allemal interessante und in den Eckdaten verbürgte Geschichte zu erzählen. Die Schwierigkeiten beim Dreh, Marilyns Unsicherheit, Unpünktlichkeit, Tablettensucht, persönlicher Zwist mit Regisseur und Filmpartner Olivier – all dies kommt genauso vor wie ein ansprechend vermittelter Zwist über Schauspielmethoden selbst: Marilyn wollte, angeleitet durch die dauerpräsente Paula Strasberg, im Sinne eines Method Acting ihrer Figur auch emotional nahe sein, wollte sie verstehen können, wollte ihren Charakter glaubhaft in sich aufnehmen, um ihn glaubhaft darstellen zu können. Wer nicht glaubhaft sei, den könne man nicht verkörpern. Unsinn, so Olivier, man müsse seine Figur ja nicht gleich sein, sondern „nur“ spielen, und was nicht glaubhaft sei, werde glaubhaft gemacht. Schauspielerei als Illusion, als Markt der Lügenverkäufer, und wer hier nicht bestehen könne, sei eben ein schlechter Illusionist, ein schlechter Schauspieler. Klar, dass Marilyn bei jemandem mit dieser Ansicht (zunächst) gnadenlos durchfallen muss; klar auch, dass ein Star wie Olivier eine Paula Strasberg als Einmischung und Konkurrenz empfinden muss. Es ist erfreulich, dass der Film den schauspiel-akademischen Streit nicht herausgekürzt hat, denn er vermittelt ein wesentliches Moment der Schwierigkeiten auf dem Set, die im Ergebnis eben deutlich über einen Theorienstreit hinausgingen. Der Streit wurde persönlich, jedenfalls in den Auswirkungen auf die gleichsam ambitionierte wie verunsicherte Marilyn.

Und wie sie leidet, aber auch einmal aus dem Stress für ein paar Momente mit Clark ausbrechen möchte, darauf konzentriert sich der Film stark – vielleicht ein bißchen zu stark. Natürlich ist es sehr reizvoll, dies alles auf die Leinwand zu bringen: Der große Star Marilyn, der ganz privat mit Clark Schloss Windsor besucht, im goldgelben Sonnenschein eine Landpartie macht, mit ihm nackt badet, ihn küsst, sich ein paar Tage später von ihm nachts beruhigen lässt und ihm in „Löffelchenstellung“ ganz nahe kommt, ohne dass „es“ passieren muss. Dabei kann Williams als Schauspielerin aufblühen, da muss sie nicht Marilyn imitieren, da kann auch die Kamera ihr oftmals ganz nahe kommen, da lassen wir unserer Fantasie gern einmal freien Lauf. Williams fein nuancierte, vielseitige Mimik und Gestik bewahren den Film stets davor, dass die Fantasie zur Männerfantasie verkommt.

Williams präsentiert Marilyn sowohl als listige Verführerin als auch als tragisches Opfer ihres Status und ihrer Krankheiten (welcher Art sie auch immer sein mögen). Auf Letzteres legt der Film gerade in der zweiten Hälfte den Schwerpunkt. Das ist im Sinne eines klassischen Dramas verständlich, welches nicht die ganze Zeit so luftig-leicht plätschern darf wie der Fluss, in dem die Badeszene stattfindet. Das Ganze muss sich zuspitzen. Aber damit fällt der Film auch ein kleines bisschen in die Falle, in die viele Bewunderer Marilyns fallen, zu denen man getrost auch den Autor Colin Clark rechnen darf. Marilyn als das Opfer, das wir gerne retten möchten.

Williams’ Darstellung ist immer noch gut, wenngleich sie in ihrer Opferrolle gelegentlich schon ein bißchen zu passiv und naiv wirkt. Teilweise scheint uns dies der deutschen Synchronstimme geschuldet. Sie ist recht hoch, aber dabei wenig voll und immer leicht gepresst, was in den Szenen mit Marilyn in Nöten den Eindruck des überakzentuiert Naiven verstärkt. Doch verschweigt der Film durch diesen Fokus auch wichtige Seiten Marilyns, die als ambitionierte Künstlerin ihre Rollen intensiv studierte und kluge Kommentare abgab sowie notierte. Das kann über Unsicherheiten, wenn die Klappe fiel, nicht hinwegtäuschen, aber es wird ganz gern einmal vergessen, dass Marilyn eine kluge Frau war, gerade auch als Künstlerin. Sie hatte die Bücher nicht nur herumliegen, sie las sie nicht nur, sie verstand sie auch, und sie verstand etwas von ihrem Fach. Sicherlich ist die Versuchung groß, Marilyn privat zu zeigen, aber was wir dadurch von Marilyn bei der Arbeit sehen, ist leider wieder nur die altbekannte Kombination von ihren privaten Schwierigkeiten und dem dennoch phänomenalen Ergebnis auf der Leinwand. Dass sie hierzu einen eigenständigen künstlerischen Beitrag auch in intellektueller Hinsicht leistete, zeigt „My Week With Marilyn“ nicht. Man kann es dem Film angesichts der entsprechenden Buchvorlage kaum vorwerfen. Aber das Ganze ist eben „nur“ eine gute Novellenverfilmung und nicht der ultimative MM-Film. Dieser muss noch gedreht werden. Falls dies überhaupt möglich ist.
Immerhin: Auch im dramatischen Teil gibt es noch magische Momente und große Kinokunst: Wenn etwa Clark Marilyn vom Starrummel „befreien“ möchte, sehen wir in Großaufnahme ein wunderbares Gesicht, wie nur das Kino eines zeigen kann. Michelle Williams in Großaufnahme muss kaum etwas tun, aber da ist eine minimale Irritation in ihrem Gesicht, die zeigt, dass Marilyn von ihren selbsternannten Erlösern nicht so bedingungslos gerettet werden will, wie die es mitunter gern gehabt hätten. Den Starruhm aufgeben und sich ins Private zurückziehen? Nein, soweit geht der Wunsch nach einem „ganz normalen Leben“ dann doch nicht; das hat Williams wunderbar subtil gespielt. Insgesamt jedoch hängt der Film und ihre Darstellung bei aller Bewunderung ein bißchen stark an der klar vom Beschützerinstinkt dominierten Buchvorlage. Da würden wir Marilyn gern noch stärker als Subjekt denn als Objekt sehen, da würden wir uns auch das Wagnis eines freieren Umgangs mit Vorlage wie Erzählform wünschen. Mira Sorvinos Leistung ist unter diesem Aspekt in „Norma Jeane and Marilyn“ (1996) durchaus beachtlich.

„My Week With Marilyn“ ist nichtsdestoweniger ein guter Film, der insbesondere bei einigen Nebenrollen punkten kann. Emma Watson hat sich von „Hermine“ emanzipiert und meistert die undankbare Rolle der Naiven, der wir den Weitblick hinter dem scheinbar Devoten abnehmen. Judi Dench ist als Dame Sybil Thorndike, die in „The Prince and the Showgirl“ eine wichtige Nebenrolle hat, gewohnt überzeugend. Julia Ormond brilliert als Vivien Leigh, Gattin von Sir Laurence Olivier und selbst ein Star, der Marilyns Rolle aus „The Prince and the Showgirl“ zuvor auf der Bühne gespielt hatte. Sie ist gleichsam jovial („Passt gut auf auf meinen Larrykins“), aber zeigt dahinter auch gewisse Befürchtungen, mit ihren mittlerweile 43 Jahren den Stab nicht nur künstlerisch, sondern möglicherweise auch privat an eine jüngere Generation abgeben zu müssen, für die Marilyn steht. Leider haben ihr Kostümdesign und Maske ein Aussehen von mindestens 50 Jahren verpasst, was diesen Aspekt stärker als nötig akzentuiert – als wenn Ormond das durch gutes Schauspiel nicht viel subtiler transportieren könnte.

Eddie Redmayne als Colin Clark ist angemessen boyish, Dominic Cooper als Milton Greene (Marilyns Fotograf, vormaliger Liebhaber und jetziger Geschäftspartner) vielleicht ein bißchen zu aggressiv. Dougray Scott als MMs Ehemann Arthur Miller spielt erfreulich differenziert und nicht einseitig in der intellektuellen Ecke stehend. Sein Miller ist vielmehr mit verhaltenen, aber deutlichen Emotionen ausgestattet. So berührt er uns als hin- und hergerissener Mann, als frischgebackener Gatte eines Sexsymbols, der sich mit diesem Status der Ehefrau offensichtlich schwertut und dessen Ehe schon vor den Flitterwochen kriselt. Seine ruhigen, aber bedeutsamen Gespräche mit Olivier über Marilyn gehören zu den ganz starken Szenen des Filmes, die Marilyn und den beiden Männern ein Höchstmaß an differenzierter Ambivalenz zubilligen.

Für Kenneth Branagh in der Rolle des Sir Laurence Olivier gilt: Rolle wie Darsteller sind der heimliche Star des Filmes. Nicht nur kann Branagh physisch beängstigend gut in die äußere Erscheinung Oliviers schlüpfen (wobei enorm hilft, dass beide eine extrem nach innen gekehrte und daher schmal und schneidend wirkende Lippenpartie haben). Auch hat er mit klassischen Theaterweihen der höchsten Art einen ähnlichen künstlerischen Hintergrund wie Olivier. Am Wichtigsten jedoch: Der Film reduziert Oliviers Rolle nicht auf das zwischen subtilen Bosheiten und offenen Schimpftiraden pendelnde Ekel, als das Olivier mitunter beim Dreh von „The Prince and the Showgirl“ beschrieben wurde. Gerade in den Gesprächen mit Miller beim Betrachten des Rohmaterials („Aber Sie lieben sie doch“) zeigt sich Olivier einsichtig und verständig für die Belange seiner Mitmenschen, am Ende auch ansatzweise für diejenigen von Marilyn selbst. Seine tyrannische Seite leugnet der Film nicht. Aber bei der Figur Oliviers liegt nahe, ihn als Täter zu porträtieren, wenn Marilyn schon Opfer sein soll. Insoweit ist der Film „My Week with Marilyn“ besser als das Buch, in dem Clark (menschlich verständlich) Marilyn so weit verfallen war, dass er Oliviers Schauspielkunst gegenüber derjenigen von Marilyn schlecht redet und ins Schmierenkomödiantische herunterzieht. Viele beschreiben noch heute Oliviers Leistung in „The Prince and the Showgirl“ als schlechtes, hölzernes, übertriebenes Chargieren eines Mannes, der tief in die Theatertrickkiste greift, wie man es beim Film besser nicht tun sollte. Doch eigentlich zeigt Olivier in „The Prince and the Showgirl“ ganz bewusst die Größe, die es braucht, um sich selbst lächerlich zu machen. Und um zu zeigen, dass MM der eigentliche Star war, der keineswegs vom Prinzen verführt wird, sondern selbst verführt – und Grenzen setzt.

Wunderbar zeigt Branagh in „My Week With Marilyn“, dass es mindestens drei Oliviers gibt: Erstens den Knallchargen mit lächerlicher Operettenuniform, zusammengepressten Lippen und Monokel in „The Prince and the Showgirl“ (eine etwas artifizielle, harte Lichtsetzung und die ungewöhnlichen von Lila dominierten Farben des Sets verstärken diesen Effekt, wie dies damals schon unter dem genialen Kameramann Jack Cardiff geschah). Zweitens den Tyrannen auf dem Set und drittens einen sensiblen und für die Empfindungen seiner Mitmenschen empfänglichen, bedächtigen Menschen, wie wir ihn vornehmlich in den Gesprächen mit Miller erleben. Was nach „Alle sind gut“-Seligkeit aussehen mag, verleiht dem Film und dem Charakter in Wirklichkeit mehr Tiefe.

Interview: „Wenn man Marilyn einfach mal im Interview gesehen hat, dann weiß man ganz genau, warum sie so anziehend war.“ Gespräch mit dem Schauspieler Rudi Hindenburg


Rudi Hindenburg spielt in „Der Fall M.M.“ Inspector Clemmons, den ersten Polizisten am Todesort Marilyn Monroes. Die Autorin Jana Pulkrabek hat in diese Figur ein Faktenwissen einfließen lassen, das über dasjenige des realen Inspector Clemmons hinausgeht. Aus Clemmons wurde so eine Hauptrolle. Er führt nicht nur als zum Publikum sprechender Erzähler durch das Stück, sondern spielt auch im Drama selbst eine wichtige Rolle. Als aufrechter Ermittler muss sich Clemmons Vertuschungsversuchen und Schikanen zu erwehren versuchen und steht für die ehrliche Suche nach der Wahrheit in bester Sam-Spade-Manier. Während die Rückblenden auf Marilyns Leben eher dem Tanz und Gesang verhaftet sind, sind die Gegenwartsszenen, in denen Clemmons vorkommt, klassisches Theaterschauspiel. Anders als die meisten Beteiligten ist Hindenburg daher nicht Tänzer, sondern Schauspieler.

BU = Bettina Uhlich
TG = Tonio Gas
RH = Rudi Hindenburg

TG:   Vielleicht fangen wir einfach einmal damit an, wie es losging. Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, im Zusammenhang mit einer der berühmtesten Persönlichkeiten der Welt eine Hauptrolle zu spielen? Hatten Sie vorher schon Interesse an Marilyn?

RH:   Die Figur Marilyn war mir vorher irgendwie schon bekannt; ich wusste, dass es diese Person gab und dass sie sehr großen Einfluss in ihrer Zeit hatte. Ich fand es spannend, sich dann mit ihr zu beschäftigen, denn ich fand sie im ersten Augenblick nicht sonderlich attraktiv. Dann habe ich sie aber über Videos gesehen. Da hat sich entfacht, welchen Charme sie hatte, und das hat mich dann schon fasziniert.

TG:   Wie war denn speziell die Vorbereitung, haben Sie bestimmte Bücher gelesen, bestimmte Filme gesehen? Welche konkret?

RH:   Nein, Bücher und Filme habe ich nicht gelesen und gesehen. Wir haben uns viel mehr auf die Fakten konzentriert; wie es damals wohl abgelaufen sein könnte.

TG:   Hatten Sie da bestimmte Quellen, oder sind Sie eher instruiert worden?

RH:   Wir wurden schon primär instruiert. Aber es gibt ein Buch, auf das sich auch Jana Pulkrabek, die Autorin und Regisseurin, glaube ich, hauptsächlich bezogen hat, da fällt mir jetzt aber der Titel leider nicht ein. Ich habe das Buch selber zu Hause, bin aber noch nicht ganz dazu gekommen, es zu lesen. Aber aus ihm stammen eigentlich die meisten Fakten.

Hier ist anzumerken, dass die Crew nur drei Wochen Probenzeit hatte. Da erscheint es für einen Hauptdarsteller schwierig, sich ein enzyklopädisches Hintergrundwissen anzueignen, zumal er zuvor noch kein ausgesprochener MM-Fan war. Nach Auskunft das Theaters Kiel waren die folgenden Quellen für das Ensemble besonders wichtig: Matthew Smith: „Warum musste Marilyn Monroe sterben?“; Michael Schneider: „Marilyns letzte Sitzung“; Jay Morgalis: „A Case for Murder“.

TG:   Haben Sie denn persönlich eine Theorie? Meinen Sie, dass man den Fall lösen kann? Haben Sie zumindest eine Tendenz?

RH:   [überlegt] Ja, schon. Naja, irgendwie ist es schwierig. So eine richtige Tendenz? Da würde ich vielleicht sagen, dass die CIA die meisten Gründe hatte, sie zu ermorden.

TG:   Vielleicht noch ein bisschen zum Künstlerischen. Wir haben uns gefragt: Was sind die Unterschiede, wenn jemand eine Person spielt, von der jeder ein Bild hat, wie bei Ihrer Kollegin Sonia Dvorak als Marilyn, oder wenn man zwar schon die Hauptrolle hat, aber eine Person spielt, von der die Öffentlichkeit nicht ein bestimmtes Bild hat. Sind Sie da freier? War das eher besser oder eher schwieriger für Sie?

RH:   Man kann sagen, es war schon eine Herausforderung. Diese Person besteht ja im Prinzip aus Fakten. Ich habe in einer gewissen Art und Weise kein Material zu der Figur selbst. Und da war es schon schwer, diese Informationen so zu verpacken, dass man das als Spielszene irgendwie machen kann. Denn es sind halt wirklich sehr viele Informationen, die für das Stück, für die Entwicklung wichtig sind. Für uns war die Herausforderung, das irgendwie spielbar zu machen. Das war definitiv eine Herausforderung!

TG:   Jetzt haben Sie sich mit dem Kriminalfall, aber auch mit Marilyn beschäftigt. Was hat sich in Ihrer Haltung zu Marilyn verändert?

RH:   Ich kann durchaus verstehen, dass sie damals so eine unglaubliche Aufmerksamkeit bekam, sie war eine ganz hinreißende Person.

TG:   Können Sie in einem Satz sagen, was die Einzigartigkeit von Marilyn ausmacht? Wollen Sie das einmal versuchen?

RH:   In einem Satz ist schwierig, aber ich glaube, es ist die Kombination aus Zerbrechlichkeit, unglaublicher Präsenz, Faszination, die doch schon unbeschreiblich ist. Ich glaube, sowas ist schwierig, irgendwie nachzustellen. Ich habe jetzt auch den Film gesehen, „My Week With Marilyn“, und ich finde, das fängt es nicht ein. Vielleicht hat es auch etwas mit der Synchronisation zu tun. Aber ich finde, es ist sehr, sehr schwer einzufangen, was diese Frau damals bedeutet hat.

TG:   Das ist ganz interessant – wir haben den Film gestern gesehen, und wir hatten auch gewisse Probleme mit der Synchronfassung. Was waren denn Ihrer Ansicht nach die wesentlichen Schwierigkeiten und Probleme bei dem Film?

RH:   Ich lehne mich jetzt arg aus dem Fenster: Michelle Williams wurde ja sehr gelobt für ihre Darstellung, aber ich finde sie fehlbesetzt. Ich finde, das hätten andere besser machen können, weil sie diesen Charme nicht einfangen konnte. Ich fand sie streckenweise [überlegt]… „naiv“ hat ja etwas Positives, aber ich fand das schon sehr grenzwertig, manchmal dämlich, wenn man’s so direkt sagen darf. Aber es kam einfach nicht das rüber, was Marilyn ausmacht. Wenn man Marilyn einfach mal im Interview gesehen hat, dann weiß man ganz genau, warum sie so anziehend war.

BU:   Ich bin genau der gleichen Meinung.

TG:   Bettina ist natürlich die viel größere Marilyn-Expertin als ich; ihre Jean-Harlow-Biographie enthält ja ein Schlusskapitel über Marilyn, die zeitlebens Jean Harlow als Idol verehrt und sich teilweise mit ihr verglichen hatte.
RH:   Ich muss sagen, das fand ich ganz schön bei Sonia in ihrer Marilyn-Rolle: Irgendwie ist sie der Marilyn näher gekommen, in diesem Charme, als vielleicht die Dame in dem Film, aber vielleicht ist es auch nur meine persönliche Meinung.

BU:   Was würden Sie denn sagen, warum sie auf Frauen und Männer gleichermaßen wirkt? Denn ich bin ja auch so begeistert, und ich glaube, zig junge Mädchen sagen „aaaaaah“ und kleben genauso an ihr wie Männer. Eigentlich spricht sie ja mit allen Merkmalen Männer an, aber warum sind denn Frauen auch so entzückt von ihr? Das würde mich noch mal interessieren, was Sie als Mann dazu meinen.

RH:   Ich glaube, sie ist irgendwie so – kindlich, also in gewissen Teilen, dass man nicht so richtig eifersüchtig auf sie sein kann, sondern sie ist von so einer Reinheit, einer Unschuld…

BU:   …Billy Wilder hat es in Interviews ja auch immer gesagt, dass diese Unschuld das Spezielle war.

RH:   Sie ist so unschuldig, dagegen kann man schwer etwas sagen. Man kann nicht eifersüchtig auf das sein, was sie geschafft hat. Bei einem Mann weckt sie natürlich Beschützerinstinkte, aber bei Frauen in einer gewissen Art und Weise auch.

BU:   „Wenn man sie als Freundin gehabt hätte, hätte man sie retten können“, das haben ja viele gesagt, das ist mir auch immer bei den Recherchen begegnet.

TG:   Bettina, Du hast einmal über Jean Harlow in einem Interview gesagt, dieses Unschuldige wäre auch durch diese Verbindung von Sexappeal und Komik gekommen. War vielleicht auch Marilyn in Wahrheit eine Komödiantin und wirkt sie dadurch so unschuldig?

RH:   Ich glaube, sie hat sich als Figur Marilyn Monroe nicht ganz so ernst genommen. Wie man ja weiß, ist sie privat ganz anders gewesen, und das alles hat ihr sehr zu schaffen gemacht. Die Komik? Schwierig zu sagen. Wenn man so ein zerbrechliches Leben hatte, gibt man nach außen auch ein sehr zerbrechliches Bild von sich ab. Vielleicht reichen meine Kenntnisse da aber auch grad nicht aus.

TG:   Sie haben gerade gesagt, was ich auch noch sagen wollte: Marilyn weckt Beschützerinstinkte. Ihre auch?

RH:   Klar! Definitiv! [lacht]

Interview: "„Wie mutig sie war, wie willensstark.“ Gespräch mit Jana Pulkrabek, Regisseurin und Autorin des Stückes "Der Fall M.M."


von Tonio Gas


TG:   Wir haben gehört, dass Sie auch in New York waren, dort studiert haben, dass Sie auch Weggefährten von Marilyn Monroe kennengelernt haben. Ist nach und nach der Wunsch entstanden, sich damit zu befassen, oder gab es eine Art Initialzündung für das Stück?

JP:     Ich habe mich schon mal mit Marilyn Monroe beschäftigt, als ich in New York studiert habe, weil ich als Schauspielerin an einer Szene aus „After the Fall“ gearbeitet habe, was ja Arthur Miller für Marilyn Monroe geschrieben hatte. [Es handelt sich um ein Stück, das MMs Ehemann Arthur Miller nicht nur für, sondern auch über Marilyn geschrieben hatte. Unverhohlen breitet das Stück auch Privates und die psychischen Probleme einer eindeutig als Marilyn zu identifizierenden Protagonistin aus (Anm. TG)] Ich bin aber seit Kindheit großer Marilyn-Fan, einfach instinktiv, und jetzt kam die Idee ganz spontan, als der Choreograph Jaroslav Ivanenko mich gefragt hat, einen Stoff zu finden, den man mit Schauspiel und Tanz umsetzen kann. Und ich dachte, das wäre eine Möglichkeit, Marilyn zu thematisieren, weil Tanz eine abstrakte Möglichkeit bietet. Marilyn tanzen zu lassen und singen zu lassen anstatt eine Schauspielerin sie komplett spielen zu lassen, lässt ein bißchen mehr Fantasie beim Zuschauer, finde ich, weil ja jeder ein Bild von Marilyn hat. Es ist einfach ganz schwer, das kopieren zu wollen.

TG:   Können Sie uns sagen, wie Sie recherchiert haben, was ihre wichtigsten Quellen waren, oder ob es auch Personen gibt, von denen Sie etwas erfahren haben, was man nicht aus Büchern erfährt?

JP:     Lesen, lesen, lesen, gucken, gucken, gucken, hören, hören, hören, und in New York, da gibt es auch so ein paar Quellen, wo man das eine oder andere erfahren hat, eben von damaligen Szenenpartnern von Marilyn Monroe. Oder zwei Bekannte, die ich hab: Als sie klein waren, war Marilyn ihr Babysitter. Also, da gibt es interessante Verknüpfungen.

TG:   Also die Informationen, die man nicht aus Büchern erfährt…

JP:     Das merkt man dann gar nicht, man kennt sie seit Ewigkeiten, und dann, als ich das Stück machte, habe ich darüber erzählt, und dann sagte ein Freund von mir: „Oh, Marilyn war Babysitter von denen.“ Das wusste ich ja nie!

TG:   Vielleicht noch ein bißchen zu dem Fall, zu dem Kriminalfall. Donald Spoto hat ja geschrieben, er hätte ihn gelöst. Würden Sie sagen, man kann ihn lösen? Wollen Sie es überhaupt? Will Ihr Stück es?

JP:     Nein, das Stück will es nicht lösen. Am Anfang wollte ich eine Antwort unseres Detectives geben, ohne das als die wirkliche Antwort zu betiteln. Was es jetzt wirklich war, weiß man nicht, und es gibt so viele unterschiedliche Meinungen. Aber alle sind sehr spannend! Ich find’s auch einfach wesentlich spannender, dass keiner dem nachgeht – wie bei den Kennedys. Bei so einer Sachlage, dass eindeutig etwas vertuscht wurde, das finde ich noch viel spannender.

TG:   Meinen Sie, der Fall wird noch einmal gelöst werden?

JP:     Ich denke, er sollte es. Ich wundere mich auch, dass es nicht schon längst ein Filmstoff ist, also ich war ganz überrascht bei der Recherche, als sich das alles aufgetan hat über den Todesfall, das wusste ich gar nicht. Ich habe in ihrer Biographie nachgelesen. Und erst dadurch bin ich auf diese Hintergründe getroffen, die den Todesfall betreffen, darauf war ich gar nicht vorbereitet.

TG:   Das Stück ist ja ein Crossover, es ist Tanz, Schauspiel, Musical. Wollten Sie vielleicht einerseits hinter die Fassade blicken, andererseits sie auch feiern, die Ikone?

JP:     Sicherlich auch die Ikone feiern. Man würde ihr natürlich gerne noch mehr Hommage geben und viel anderes über sie erzählen, aber hier war ganz klar die Vorgabe Schauspiel und Tanz, und dementsprechend haben wir uns angepasst. Da wir’s auch aus der Perspektive des Detectives erzählen, seine Fantasie von Marilyn, gehen wir ja gar nicht so sehr in die ganzen Sachen über sie, die man nicht weiß, die man erst erfährt, wenn man über sie liest. Wie mutig sie war, wie willensstark, was sie alles gemacht hat, dass sie ihre eigene Produktionsfirma gegründet hat, etc. Aber es soll ja auch ein unterhaltsamer Abend sein! Und die Inszenierung in sich muss stimmen, es ist eine Choreographie.

TG:   Ich denke, Sie haben etwas ganz Wichtiges angesprochen. „Der Detektiv spricht.“ Inwieweit spricht Ihr Stück, wenn der Detektiv spricht? Oder ist das nur eine Figur, die subjektiv ist? Inwieweit muss Kunst, wenn es um reale Personen geht, bei der Wahrheit bleiben, inwieweit darf sie sich etwas rausnehmen?

JP:     Ich kenne Marilyn nicht. Ich kenne die Wahrheit nicht. Ich kann mir meine Wahrheit nehmen, ich kann Bücher lesen, mir verschiedene Autoren nehmen… Die einzige Möglichkeit, eine Person nicht zu betrügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt, ist es, aus einer Perspektive zu erzählen. Aus der Perspektive einer Person, ohne mit einem „so war es“ zu pfuschen.

Interview:„Weil sie tatsächlich himmlisch und nicht von dieser Welt ist.“ - Gespräch mit der Tänzerin Sonia Dvorak


Die Tänzerin Sonia Dvorak ist eine US-Amerikanerin, die erst im August 2011 nach Deutschland kam. Im Stück „Der Fall M.M“ spielt sie die Hauptrolle – und sieht ein bisschen so aus:  Stellen Sie sich eine ganz junge Marilyn vor, süßes Gesicht und Figur und ein dekolletiertes, cremeweißes Kleid zum... Sie wissen schon, seufz.


BU = Bettina Uhlich
TG = Tonio Gas
SD = Sonia Dvorak

Übersetzung: Tonio Gas 


TG: Zunächst einmal einen ganz herzlichen Glückwunsch. Sagen Sie, wie ist das, wenn Sie erfahren, sie sollen die berühmteste Frau der Welt spielen? Was fühlt man?

SD: Also, wie ist es, sie zu spielen? Zuerst war ich völlig eingeschüchtert, weil sie so eine Legende ist. Hinter ihr steckt so viel. Ich meine, selbst heute noch ist sie eine Ikone, das ist fünfzig Jahre nach ihrem Tod doch wirklich unglaublich. Es ist etwas derart Magisches an ihr, das kann man nicht nachbilden. Als Tänzerin habe ich versucht, so viele Videos wie möglich von ihr zu sehen, wie sie sich in ihnen bewegte.

BU: Haben Sie alle ihre Filme gesehen, oder jedenfalls die wichtigsten?

SD: Die meisten, ja. Meine Recherche war nicht so mühselig, das hat jede Menge Spaß gemacht… [lacht].

BU: Ich weiß… Das ist keine harte Arbeit, das ist Spaß…

SD: Als Tänzerin habe ich versucht, viel von dem mitzunehmen, wie sie sich bewegte, viel von ihren kleinen Nuancen. Ich bin froh, als ausgebildete Tänzerin das Handwerkszeug dafür zu haben, denn sie ist tatsächlich himmlisch und nicht von dieser Welt. Also, zu Beginn war ich wirklich völlig eingeschüchtert! Aber es war schön, das als Theaterstück und nicht etwa als Film zu machen, denn man weiß, dass man es nicht komplett nachstellen wird. Stattdessen deutet man sie mit dem Mittel des Tanzes. Zudem hatte ich nicht so viel Text, also spielte ich sie nicht so unmittelbar, sondern las lieber viel über ihr Leben und was sie durchmachte…

BU: Sie haben natürlich einige ihrer Lieder gesungen. Persönlich mag ich “One Silver Dollar” ganz besonders. Ich glaube, Sie auch, jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass Sie diesen Song auch sehr mögen. Ist es Ihr liebster Song, oder welches ist Ihr liebster Song von Marilyn?

SD: Oh, das ist so schwer zu sagen. Da trifft man auf “die Marilyn”, also den Charakter, den sie erschaffen hat. Dieses süße Kind, das man einfach nur lieben will. Dieser Charakter ist in einem Song wie “I wanna be loved by you” perfekt eingefangen. Aber sie hat so viele Seiten… Das ist wirklich sehr schwer zu sagen.

BU: Nun einmal zur Handlung des heutigen Stücks. Glauben Sie, dass Marilyn ermordet wurde? Es gibt so viele Hinweise – was würden Sie daraus schließen?

SD: Ich kann nicht sagen, dass ich diese Frage für mich fest entschieden hätte. Ich glaube nur, dass es mehr gibt als das Augenscheinliche. Ich glaube, irgendetwas wurde vertuscht. Diese Frau hat viel durchgemacht, war aber sehr, sehr stark. Sie hat immer gekämpft. In einem Film wie “Gentlemen Prefer Blondes”, wo sie mit Jane Russell spielte, musste sie für ihren eigenen Wohnwagen kämpfen! Aber als ich diesen Film sah, fand ich, da war sie der Star. Wir lieben sie in dem Film.

BU: Sie sagte so etwas wie “Schließlich bin ich die Blondine” in “Gentlemen prefer Blondes”. Ich habe alle Dokumentationen gesehen und ein Buch über Jean Harlow geschrieben, weil ich sie auch liebe, und weil es schon so viele Marilynbücher gab, habe ich mich entschieden, eines über Jean zu schreiben. Aber angefangen habe ich als Marilynfan. Sie haben sie so großartig, so wunderschön porträtiert, vielleicht besser als Michelle Williams. Wir haben gestern ihren Film “My Week With Marilyn” gesehen.

TG: Haben Sie ihn gesehen?

SD: Ja, hab ich.

TG: Was halten Sie von dem Film? Sie meinten ja, zunächst eingeschüchtert gewesen zu sein, aber dann haben Sie ihren eigenen Weg gefunden, MM darzustellen, ohne sie zu kopieren. Hat Michelle Williams ihren Weg gefunden?

SD: Ich glaube, ich hatte eine viel einfachere Aufgabe als sie. Als reine Schauspielerin musste sie MM sein. Das ist beim Film ganz anders als beim Theater, daher glaube ich, dass alles für mich sehr viel mehr Spaß gemacht hat.

TG: Aber man kann es doch beim Singen mit Michelle Williams Situation vergleichen. Als Tänzerin haben Sie Ihre eigenen Ausdrucksmittel, aber wenn Sie als Marilyn singen, müssen Sie sich dem Vergleich mit ihr aussetzen. Haben Sie versucht, in Marilyns oder in ihrem eigenen Stil zu singen, oder war es ein bisschen von beidem?

SD: Ich habe mir das Material wieder und wieder angehört und versucht, soviel wie möglich davon aufzugreifen. Ich bin keine ausgebildete Sängerin, ich hatte nie Gesangsstunden…

BU: Sie hatten nie Gesangsstunden? Sie haben also jetzt erst damit angefangen…

SD: Naja, ich hab schon aus Spaß gesungen. Aber als ich vor ein paar Wochen mit Michael Nündel zu arbeiten begonnen hatte, der die ganze Musik für das Stück gemacht hat, da gab es schon spezielle Dinge, die mir klar wurden. Zum Beispiel wie sie die Konsonanten betonte, oder etwas wie “My heart belongs to [imitiert Marilyn] Daaaddy”, und alle diese kleinen Sachen, die man noch dazugeben kann, also gab ich so viel, wie ich konnte. Ich habe versucht, mich wie sie zu fühlen und ich sang, wie ich dachte, dass sie es tun würde.

BU: Ja, diese Bewegungen… wirklich ganz wundervoll….

SD: Ja, das habe ich genossen, das habe ich wirklich genossen.

TG: Vielleicht mögen Sie uns sagen, ob Ihre Arbeit Ihre Haltung zu Marilyn Monroe verändert hat?

SD: Aufgrund meiner Recherchen glaube ich, dass sie mehr Tiefe hatte gegenüber dem, was ins Auge springt. Ich habe sie schon immer bewundert, ich bin seit Jahren ein Riesenfan. Ich bin aufgewachsen mit lauter Hollywoodklassikern, z.B. mit Cary Grant, ich bewundere das total. Ich habe speziell über Marilyn vorher nicht so viel gewusst, aber nach der Recherche finde ich das alles wirklich unglaublich.

BU: Welche Bücher haben Sie über Marilyn gelesen? Biographien?

SD: Eines, was ich besonders mochte, ist Randy Taraborrellis “The Secret Life of Marilyn”

BU: Dieses kenne ich nun gerade nicht. Aber Tonio hat Donald Spoto gelesen, ich vor Jahren auch, und es gibt so viele Bücher. Haben Sie mehrere gelesen?

SD: Ich hab dieses eine gelesen und viel im Netz, aber vollständig nur Taraborelli. Wir hatten nicht viel Zeit, diese Produktion vorzubereiten, nur drei Wochen. Aber was ich gelesen habe, hat mir sehr gefallen, denn ich denke, dieses Buch von Taraborelli greift vieles über ihr Leben auf, was andere Biographen überspringen, so wie ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrer Mutter, die ich besonders fesselnd fand. Jeder ist Produkt seiner Umgebung, daher brachte das für mich eine Menge Tiefe in ihr Wesen.

TG: Planen Sie, das Stück noch in anderen Städten aufzuführen?

SD: Das kann ich jetzt nicht sagen. Wir haben hier nur noch drei Vorstellungen geplant. Aber man redet darüber, vielleicht mehr zu machen, denn es ist so gut angenommen worden, und ich weiß nicht…

TG: Es wird doch wohl in der nächsten Spielzeit noch mehr geben.

SD: Ich weiß es nicht, ursprünglich geplant war es nicht, aber vielleicht…

TG: Da wäre doch jeder ein Narr, es nur vier Mal aufzuführen… Spielen Sie noch in anderen Stücken, die sich mit Hollywoods Goldener Ära befassten, von der Sie offensichtlich ein großer Fan sind?

SD: Oh, für mich war das eine Eins-zu-eine-Million-Chance, denn ich bin Balletttänzerin. Ich bin darin ausgebildet und bin jetzt nach Deutschland gekommen, um dieser Company beizutreten, und ich hätte nie gedacht, dass ich die Möglichkeit haben würde, als diese unglaubliche Ikone zu singen und zu schauspielern. Das war brillant!

BU: Das ist interessant, denn so oft passiert es ja nicht, dass Balletttänzer entdecken, dass sie singen können. Wer hat entschieden, dass Sie die Songs live auf der Bühne singen?

SD: Also, ich erinnere mich an unseren Opernball im Februar, da waren auch alle Leute der Oper, die nicht Instrumente spielen oder singen, und da habe ich einem Song gesungen. Mein Regisseur hat das beobachtet, und Jana, die Autorin und Regisseurin von “Der Fall M.M.”, hat es ebenfalls gesehen, und als sie entschieden hatten, dass ich die Marilyn spiele, haben sie mich gefragt, ob es mir angenehm wäre, ein paar ihrer Lieder zu singen. Du liebe Zeit, ich meine, das ist fantastisch, was in den letzten paar Wochen passiert ist, denn ich fühle mich noch wie gestern, als ich auf der Bühne beim Singen fast nichts herausbrachte, ich war so nervös, ich war… [lacht].

TG: Aber Sie wissen sicher, dass es in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern eine junge Tänzerin gab, die dann eine große Schauspielerin wurde und ebenfalls ein paar Lieder selbst sang. Audrey Hepburn. Vielleicht werden Sie ja die nächste Audrey Hepburn!

SD: [lacht]

TG: Ich mochte bei “My Fair Lady” nie, dass man sie nicht selbst hat singen lassen. Meiner Ansicht nach wäre der Film mit ihrem eigenen Gesang wesentlich besser gewesen, was meinen Sie?

SD: Auf jeden Fall, denn solche Dinge haben immer eine eigene Kraft und da ist mehr als reine konforme Perfektion. Ich glaube, heute geht es nur noch um das perfekte Maß und die richtigen Schritte, aber Leidenschaft ist das, worauf es wirklich ankommt. Man hat’s oder hat’s nicht, und das ist alles, was zählt. Es geht um Liebe zu dem, was man tut. Und darum hätte sie selbst singen sollen.