Das wilde Off/short-Festival: Einfach kommen, einfach screenen

Der Spätsommer drehte über Europa noch einmal alle Regler von Wärme und Farbigkeit ungeahnt weit auf. Nur weit im Westen Frankreichs, an der Manschette des Ärmelkanals, sind die Farben pastos. Flache grüne Schafswiesen, Meer und Kieselstrand gehen hier eine ungeahnte Verbindung von atlantischer Kargheit und kontinentaler Milde ein.
Cayeux-sur-mer ist eine pittoreske, kleine Küstenstadt, die ihre Authentizität mit nur minimalen touristischen Lockdrogen versieht, wie etwa dem nüchternen Casino. Nur einen rollenden Kiesel vom Meer gelegen, weidete hier auf einer grünen Wiese vom 23. bis 25. September ein kleines, feines Filmfestival namens Off/short. Es erstrahlte unter dem breiten Lachen der Sonne bereits zum 5. Mal in seinem bescheidenen Charme des unglamourös Einzigartigen,. Dort, gerade so über der Flutmarke, gab es kuriose Kurzfilme, Performances, Kino-Konzerte und Ateliers zu finden. Das Off/short will "tout sauf un festival" – alles andere als ein Festival - sein, und es ist in der Tat ein Außergewöhnliches.

Dies liegt bereits im Konzept der kostenlosen, werbefreien Veranstaltung verankert, denn hier kann jeder kommen und screenen. Es gibt, nach Angaben der Organisatoren, auch keine Selektion der Filme und anderen Vorführungen, also keinerlei Ausschlussverfahren. Jeder Aussteller, "Envahisseur" (etwa: "Invader", "Eindringling") genannt, muss desweiteren für sein Vorführ-Etablissement selbst sorgen, und sei es das eigene Camping-Zelt. Und dieses Konzept geht auf, spätestens wenn die Sonne untergeht und den Projektoren endlich die Lichtstärke und Farben übergibt.
Denn nachts schimmern hier die selbstentworfenen Spiegel aus erdachten Strukturen, es ist eine Szenerie von Projektionslichtern und Klanggewirr, die definitiv sehr gut ohne rote Teppiche, Galas, Stars, Glitter, Blitzlicht, überlangen Limos und gar ohne zentralen Kinosaal auskommt. So ist das Off/short ein audiovisuelles Fest zwischen filmenden Machern und projizierenden Rezipienten, die hier, im Gespräch um das Gesehene, den Bogen zu den Ideen dahinter schlagen und sich darüber austauschen können.
Ein bunter kleiner Zirkus der privaten Medienfreiheit und -reflexion also, der konservierten Geister in beleuchteten Gläsern, und das in vielen Facetten. Der Fokus liegt hier, in guter französischer Avantgarde-Tradition, stark auf der Qualität der Narration und weniger auf technokratisch-ästhetischer Perfektion. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier keine cineastischen Bilder zu sehen sind.

Während man dem Off/short-Gelände näher kommt, entrollt sich vor den staunenden Augen eine innere Weltausstellung individueller Geschichten, eine Werksschau innerer Befindlichkeiten. Tagsüber eine Art frankoeuropäisches Campingtreffen mediensozialisierter Generationen der 70er bis 90er Jahre, mit schnatterndem Fernseher auf der Wiese, überblendet die Dämmerung den Schauplatz hin zu der Verquickung eines Friedhofes der Träume in leuchtenden Grabkerzen mit einer minimalistisch-experimentellen Mission auf dem Meeresboden.Um eine Kubrick-futuristische Basisstation namens "le Dome" herum flackern aus 33 kleinen Palästen und dunklen Höhlen mal geborgene Schätze, mal entziehen sich die sich zierenden Geheimnisse. Diese kleinen, illuminierten Privatprojektionsstätten leuchten und irrlichtern auf dem Weg über das Gelände, um ihn zu erleichtern, zu erschweren, aber meist zu bereichern: Alors, profitéz-en!

Hier liegt es nun vor einem, das Spiel bunten Projektor-Lichtes im Dunkeln; und es liegt wie bei nur wenigen Film-Erlebnissen im Auge des Betrachters, was sich denn erschließt, und ob und wie er es genießt: Live-VJing privater Party-Aufnahmen, auch mal zur Selbstbedienung per Kinderkeyboard, lockt bei "Les culottes chaudes" frivol, hinter Wäscheleinen voll bunter Höschen. Filmtheater des Absurden von "Les Bombes Akomik" tanzt auf der medialen Wüste eines abgeernteten Feldes. Ein Hochdachkombi-an-Hochdachkombi-Kino namens "Nous sommes tous de passage" (etwa:"Wir sind alle im Vorübergehen") beherbergt wildes TV-Sampling des Institute National des Archives. In liebevoll handgemachten Interieurs mit dem holzigen Geruch alter Zeiten, den "roulottes", oft ehemalige Zirkuswagen oder umgebaute Reisebusse, laufen meist story-intensive Kurzfilme, von Jedermann-Qualität bis Weltklasse; und die Vorführer lieben ihre Ansagen.

Zu Geschichten geflochtene Zusammenschnitte aufgefundener Privataufnahmen aus der Zeit, als Hochzeiten noch mit Filmkameras verewigt wurden, wie auch Live-Filmmusik mit Cello und Glockenspiel schillern im Perlenglanz vergangener Zeiten. An einem Stand werden gerade spontan Szenen gedreht, á la KinoKabaret. Diverse Film-Studenten umgarnen die Betrachter mit aktuellen Visuals, Experimenten und Semesterarbeiten. Bei "Cinéma Numerique Ambulante" wird das Video-Fada-Projekt an die Bildfläche gehoben, bei dem in einigen Ländern Afrikas, auf den Straßen, von jedermann der dort Anwesenden, die Storys gesucht werden können – der an diesem Projekt beteiligte Boris Bado ist kürzlich in Burkina Faso aus ungeklärten Ursachen gestorben.

Um das Verschwinden und das Verbinden in verschiedenen Variationen drehten sich einige der gezeigten Filme, wie etwa “untitled stories” (Norwegen 2007) der Regisseurin Margarida Paiva. Die Videoarbeit zeigt verlassene Lebensräume, während eine junge, halb abwesende Frauenstimme aus dem Off Geschichten voller Verzweiflung erzählt. Sie bricht dabei immer wieder ab. Sie erzählt weiter, wie sie Geräusche aus allen Zimmern ihres Hauses zur selben Zeit vernimmt, und sich, an einem unbekannten Ort, fühlt, als sei sie schon immer dort gewesen. Schließlich löst sie sich durch ihre Erzählung auf. Jeffrey Schers "Milk of Amnesia" (USA 1992), eine raffinierte Experimental-Animation, in einem unglaublich aufwendigen Prozess von Hand erstellt, ist nichts für Epileptiker. Frameweise wechselnde, abphotographierte Graphiken und Gemälde, in filmischer Frequenz abgeschossen, werden zu kaleidoskopischen Bildern und scheinen die Figuren zu einem Erzählinhalt zu verbinden: Eine Frau, ein Mann, Tiere, palimpsestische Werbebotschaften. Die Story wird, unter neuronalen Blitzen, die vielleicht wirklich bis ins Unbewusste reichen, vom Betrachter wesentlich mitgestaltet. Zu Tango führt sie, schwirrend wie ein Kolibri, durch den gezeichneten Stadtdschungel und endet in jedem Fall bei einem Liebespaar.

Auch außergewöhnliche Ausstellungen von Ateliers, etwa die Torsos aus Computerteilen von "Le Callimaque & Family", ziehen in Bann, ebenso wie die Jongleure des "Le Maison qui Bouge", die, wie die mobilen Kino-Vehikel, auch das restliche Jahr durch Frankreich reisen, um der Medienlandschaft kleine Freuden und etwas Reflektion entgegenzusetzen. Aber es gibt noch weit mehr, das bei den Betrachtern Reaktionen auslöst, etwa die Maskenbildner des "Atelier Maquillage-FX", an deren Zelten diverse Körperteile hängen, die nichts von ihrer plastikfleischlichen Kunstfertigkeit verbergen wollen - welche sogar die Wespen täuscht.
Die Ohren vernehmen bei all dem eine komplexe Klangcollage unter anderem aus trocken-klirrenden Rufen von Fahrradklingeln, streitenden Paare, ein mickeymousendem Honky Tonk-Piano, aufgedrehtem Kinderstimmengewirr, verloren fallenden und verhallenden Yann Tiersen-Klängen.

Der kleine Medienzirkus des Off/short lebte auch dieses Jahr wieder vom distanziert-intimen Flammenschein um die kühlen Medien-Feuer und den sich bildenden und lösenden winzigen Menschenkreise in seinem Inneren. Es geht um die Offenbarung eigener Erfahrungen und um den Umgang mit diesen, sofern die Macher anwesend: Und das sind in jedem Fall sowohl die Regisseure und Aussteller als auch die Betrachter. Der Zuschauer vor dem Bildschirm erkennt in einer freiwilligen Trance möglicherweise sich und seine Geister, so dass manchmal eine Art flüchtige Stammesvertrautheit mit der Gesamtheit der Anwesenden entsteht.
Und wer hier ist, auf dem Off/short-Un-Festival, muss es einfach: Träumen und Reflektieren, um aufzuleben. Hier und an den wenigen Orten, die in diesem Sinne hyper- und transmedial wirklich existieren, entsteht der Raum und die Perspektive, genau das zu tun. Es ist das temporäre Land der individuellen Träume, bei Tag wie bei Nacht. Ein Wochenend-Kontinuum de L`Image.

Als eine Art Medienkompetenzinitiative stellte auch die "Picardie en Ligne" ihre Arbeit vor, sie bieten Medienkurse in der Picardie an und stehen der Festivalorganisation nahe. Das Off/short wird im Auftrag des Département de la Somme und des Département de l´Oise organisiert: Das "Atelier 142" beschäftigt auch die Mitarbeiter, wobei vieles, etwa in der Küche, ehrenamtliche Arbeit bleibt.
Die Aussteller des Offshort kommen überwiegend aus dem Norden Frankreichs, es ist also systemfunktional eine Art Individiualmedienkulturfest der Verwaltung der Région, wobei zugleich ausdrücklich internationale Offenheit besteht. Und aus England, Belgien, der Hauptstadt oder Deutschland fanden sich auch einige Gäste ein.
Das vielleicht überraschenderweise durch Kulturpolitik entstandene, aber weitgehend sich selbst überlassene Geschehen ist also nur auf einer Meta-Ebene organisiert und beläßt den Ausstellenden und Besuchern weitgehenden Spielraum, den Inhalt des Wochenendes selbst zu gestalten. Tageszeitabhängig in unterschiedliche Blautöne gekleidete Gruppen von Polizisten durchkämmen jedoch stets das Gelände, ohne dass es je einen Zwischenfall gegeben hätte.

Das Jedermann-zu-Hause-Filmkünstler- und Seele-in-Einmachgläser-Konzept des Festivals erklärt sich vielleicht auch etwas durch französische Sozialkonventionen. Es ist eine Messe der Medien, man lebt auf im Lichte des Tages und der Vorführungszeit am Abend. Die Menschen machen also die vielen Gesichter des Off/short-Festivals, es gibt durch die Art der Organisation keine zentrale Figur, kein menschliches Trademark - kein Mitarbeiter des Organisationsteams vom letztem Jahr war zu sehen. Zudem sind Aussteller wie Besucher, deren bescheidene Zahl sich zeitweise deckt, größtenteils diejenigen, die die angestrandete Medienmission beleben.
Die Menschen geben den medialen Welten eine Plattform, sie sind selbst ein Interface, das soviel mehr ist als nur eine audiovisuelle Schnittstelle. Man trifft sich dort, möglicherweise mediaphysisch transzendiert, zu einem Festival der Gleichzeitigkeit und Omnipräsenz von verschiedensten menschlichen Bestrebungen, Zeiten und Orten. Das Off/short ist eine fabelhafte, nachtbunte Veranstaltung, voll originärer Arbeiten, jedoch nur zu verordneten Geschäftszeiten glühend, denn nachts geht der Strom aus und die Leute dann schlafen. In diesen ruhigen Stunden hört man im Zelt das Meer und kann dessen Verwandtschaft mit dem Rauschen eines leeren Fernsehers erkennen.

Andreas Michel