Hofer Filmtage 2011 - Das Gute zum Schluss

Natürlich will ich nicht den Eindruck erwecken, die Filme in Hof seien irgendwie so lala, bestenfalls. Nein: Ein Filmfestival, das im ganzen Ort Resonanz findet, kann natürlich nicht schlecht sein. Auf dem Fußweg von einem zum anderen Kinogebäude kommt man an einem Laden vorbei, der letztes Jahr noch unter dem Beate Uhse-Label firmierte. Inzwischen hat er sich von der Kette abgehängt - doch noch immer, wohl aus Überzeugung, hängen während der Filmtage im Schaufenster Werbeplakate, Fotos von früheren Festivalgästen und Poster aktueller Filme - nein: keine Erotik! - im Schaufenster aus. Hochsympathisch, dass in Hof eigene Interessen hinter der Kultur als Allgemeingut hintanstehen (nur ganz klein das Schild mit dem Hinweis auf Dildoabende: "Einfach mal ohne Mann kommen".)

Die Titelfigur der französisch-belgischen Komödie "La Fée" ist auch selbstlos für alle da, eine Frau, die dem tolpatschigen Nachtportier Dom das Leben versüßt. Und einigen anderen auch. Zauberhaft, wie sie hineinschwebt ins Foyer, wie sie duldsam seinen Unwillen erträgt - sie ist die ca. zehnte Störung, will er doch eigentlich nur im Fernsehen Musik sehen -, wie plötzlich für sie der Aufzug wieder funktioniert, wie sie den Portier vor dem Erstickungstod rettet und ihm zudem drei Wünsche gewährt... Motorroller und lebenslange Benzinversorgung sind gar kein Problem für sie. Den dritten Wunsch muss sich Dom noch überlegen, sicher ist er aber, dass er die Fee liebt.
Zauberhafte Komik bestimmt den Film, ein Tanz unter Wasser oder auf dem Dach ist der direkteste Ausdruck der grundsätzlichen Musikalität, die "La Fée" innewohnt. Ein englischer Hotelgast, der seinen Hund in einem (ständig fortlaufenden) Köfferchen versteckt, ein quasiblinder Kellner in einer Kneipe, ein fliegender Mann, depperte Polizisten; ein vortrefflich ausgeführter Schuhraub aus einem Laden, eine findige Entführung aus einer Klinik, der inbrünstige Gesang einer Rugbyspielerin an der Theke - der Film findet stets einen weiteren bizarren Weg, um die Liebe, die Individualität, die Gemeinschaft zu feiern. Und ist immer unter der Folie des Clownesken inszeniert, als eine Art filmisches Straßentheater mit Comedy, Artistik, Tanz, Buntheit. "La Fée" spielt in Le Havre - und zusammen mit Kaurismäkis Film wirkt er beinahe als Touristikwerbung für die an sich triste Hafenstadt; zumindest für Menschen, die skurrilen, absurden, liebenswerten Humor mögen.

Eine Entführung aus dem Krankenhaus - das ist ein Motiv, das auch in Valerie Donzellis "La Guerre est Declarée" vorkommt (bei dem lustigerweise die Regisseure von "La Fée", Dominique Abel (der den Portier spielt) und Fiona Gordon (die Fee) neben mir saßen). Witzig ist der Film auch, aber nicht für sich, sondern weil seine Figuren ihren Witz behalten - inmitten des Dramas, in dem sie stecken. Romeo und Juliette - werden sie ein schlimmes Schicksal erleiden? Sie verlieben sich auf einer Party, bald ziehen sie zusammen, bekommen ein Kind, sind glücklich - doch das Kind erbricht sich oft, ist verschleimt, es kann mit 18 Monaten noch nicht laufen, eines Tages ist die rechte Gesichtshälfte gelähmt. Diagnose: Hirntumor. Doch anders als demnächst in Andreas Dresens "Halt auf freier Strecke" (einem im übrigen hervorragenden, beklemmenden, direkten und sehr berührenden Film) ist in "La Guerre est Declarée" die Hoffnung mit der Diagnose nicht gestorben; doch der Weg ist schwer. Juliette und Romeo beginnen den Kampf, und auf subtile Weise flicht Donzelli eine Kriegsmetapher in ihren Film. Die Diagnose: Am Tag des Beginns des Irakkriegs. Spezialisten entwerfen einen Schlachtplan, die Familie wird zur Unterstützung mobilisiert, die Ärzte in ihren weißen Uniformen sind Generäle, die den Kampf aufnehmen.
Der Film konzentriert sich auf die Eltern, er ist mindestens soviel wie ein Krankendrama auch ein Liebesfilm. Und er ist humorvoll, und er ist emotional. Und er ist ehrlich: Die Regisseurin greift auf eigene, autobiographische Erlebnisse zurück. Dass sie dies nicht naturalistisch-realistisch tut, mit Betroffenheitsattitüde und Larmoyanz, sondern sehr frei, locker, leicht - das ist belohnt worden. Der Film ist der französische Oscar-Kandidat für 2012.

Wer das Pech hatte, 2002 "Kiss and Run" gesehen zu haben (Regie: Annette Ernst), der wird den Namen der Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin Maggie Peren nicht vergessen haben. Die z.B. auch "Napola" schrieb, der mit ein paar Schnitten und in schwarz-weiß beinahe auch aus den 40ern hätte stammen können; oder "Liebes Spiel" von 2005 - wieder mit Peren auch in der Hauptrolle -, ein Drama über Spielsucht, inkl. Liebesgeschichte; konventionelle Kost. In ihrer zweiten Regiearbeit (nach eigenem Drehbuch) hat sich Peren aber jetzt als tatsächlich gut herausgestellt, trotz des schwierigen Themas, das eine Menge Sentimentalitäts- und Betroffenheitsduselei-Fallen bereithält. Afrikanische illegale Flüchtlinge auf den Kanaren: Darum geht es in "Die Farbe des Ozeans", und speziell um José, einen der Zollpolizisten; um ein deutsches Touristenpärchen; um Vater und Sohn, die nach strapaziöser, fast tödlicher Überfahrt ins Flüchtlingslager gesperrt und auf die Abschiebeliste gesetzt werden; und denen die Flucht gelingt.
Wie sich die verschiedenen Wege kreuzen, wie sich die Figuren über den Weg laufen mit ihren verschiedenen Zielen, wie sich dabei die mitunter böse Ironie des Schicksals entfaltet: das ist perfekt orchestriert. José, der eine Abneigung gegen all die Schwarzen entwickelt hat, die da anstürmen, Zynismus, der aus Erfahrung gespeist ist; Nathalie, die Deutsche, die einfach nur helfen will, mit ein paar Flaschen Wasser, mit ein paar Kleidern, mit 500 Euro; Zola und sein Sohn, die ein besseres Leben wollen und tief in der Klemme stecken. Dass daraus kein verkrampftes Aufrüttel- und Gefühlskino geworden ist, liegt an Perens einfühlsamer Regie, die mit Zwischentönen, mit Ambivalenzen, mit Subtiliäten arbeitet. Und daran, dass der Film einerseits authentisch wirkt, andererseits aber an den richtigen Stellen das Filmische, das Dramaturgische zu seinem Recht kommen lässt, indem sie verdichtet, peronalisiert, zusammenfasst. Nur in einem lehnt sie sich etwas zu weit aus dem Fenster: José hat eine Junkie-Schwester, die offenbar nur dazu dient, um ihm am Ende der Handlung die ihm zugehörige Läuterung zukommen lassen zu können.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2011 - Unterirdisch

Der Keller: Das ist zunächst mal der Vorratsraum des Hauses. Das ist der Raum, aus dem sich der Alltag oben speist - ein inoffizieller Raum, ein heimlicher Raum, den Gästen verwehrt - sie sollen nicht wissen, ob der Wein, der kredenzt wird, tatsächlich der beste im Haus ist, oder ob die Erbsen-mit-Möhrchen-Dose MDH-mäßig schon lange abgelaufen ist. Im Keller holt man sich, was man braucht. Was bei Perversen zum Beispiel was anderes ist als die reine Speisung des Leibes oder das Waschen schmutziger Wäsche. Der Keller ist auch ein Vorratsraum, aus dem man sich etwas holen kann für die eigene Seele, für die eigene Lust; etwas, das verborgen bleiben soll. Deshalb ist in "Bastard" der entführte Junge, der sterben soll, in einem Keller eingesperrt. Und deshalb hat die Figur des Autors in Roland Rebers "Die Wahrheit der Lüge" zwei Frauen in seinem Keller, damit er sie quälen kann und an die Grenze treiben, auf den Gipfel, von wo aus sie - und er - die Wahrheit zu schauen erhoffen.

Was sich krude, unausgegoren, kindisch und exploitativ anhört, ist exploitativ, kindisch, unausgegoren und krude - und herrlich doof. Roland Reber - wir kennen ihn von "Engel mit schmutzigen Flügeln" 2009, zwei Frauen - Engel - rekrutieren eine dritte, um sie einzuführen in die Welt der Vollkommenheit, sprich: der Morallosigkeit, der unbedingten Selbsterfüllung, sprich: Sie soll sich überall durchficken, um sich selbst zu finden. Herrlicher Stoff für eine Mitternachtsvorstellung, unglaublich billig gemacht, mit miesen Schauspielern, offensiven Beinahe-Porno-Bildern und wahnsinnig schlechten - weil unbedingt philosophisch sein wollenden - Dialogen. Ein Film wie Stalingrad überlebt zu haben - man kriegt ihn nicht aus dem Kopf.

Ähnlich, aber noch dialoglastiger - also philosophischer, also noch doofer - ist "Die Wahrheit der Lüge", wo Frauen für das höhere Ziel, ein Buch über Grenzerfahrungen, gefoltert werden: Waterboarding, Pranger, diverse SM-Apparaturen; in den Ofen gesperrt, ans Kreuz gefesselt, in Abu Ghraib-Pose... der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, ja: die Grenze soll ja gesucht und erfahren werden, von wem, warum und welche Grenze überhaupt ist im Gesamtkontext egal. Hauptsache, Reber kann Lackleder-Motorrad (und SM)-Klamotten unterbringen und Frauen beim Pinkeln filmen - was offenbar zwei seiner Leidenschaften sind -, und Hauptsache, er kann seinen eigenen aktuellen philosophischen Stand der Dinge auf die Leinwand bringen; wobei interessanterweise Gedanken wie die obigen über Kellerräume - rasch hingepfuscht, um analytisch-theoretisches Denken vorzutäuschen - fehlen. "Wo ist die Grenze, wer ist der Zöllner?", heißt es einmal bedeutungsschwanger im Film, und: "Schreibe ich, oder werde ich geschrieben?", so zweifelt der Autor im Film an seinem seltsamen Projekt.

Was Reber im anschließenden Q&A auf sich selbst bezog: Irgendwann schriebe sich das Drehbuch von alleine, er wisse dann nicht, was alles bedeute. DASS es etwas bedeutet, daran hat er wohl keinen Zweifel. Was ein bisschen schade ist, weil der Film, wenn er so mit gedanklichem Ernst - selbst wenn die Gedanken nirgendwohin führen und/oder völlig banal sind - plötzlich nur noch halb soviel Wert ist. Es ist halt alles unglaublicher Schmonzes, was da auf der Leinwand zusammengetragen wird, der Autor hat eine Verlegerin, die unbedingt sein Buch will (warum auch immer), die ihn immer weiter treibt im Weitertreiben der Frauen, die auf immer bizarrere Weise körperlich und seelisch gequält werden. Was nur dadurch aus der Ecke der chauvinistischen Unmoral gezogen, also legitimiert ist, dass die beiden oft nackten Weibsen so schlechte Schauspieler wie alle sind, und dass sie alle mitsammen den Film gemeinsam produziert haben: WTP International ist wohl so eine Art Billigphilosophiefilmkommune. Alles hat den Appeal von Exploitation-Frauenfoltercamp-Filmen aus den 70ern, nur ohne Dschungel, in bunkerähnlichen Kellerräumen gedreht.

Grenze, Gipfel, Wahrheit sind Stichworte, und zwischendrin gibt es einen ernstgemeinten und einen comic-relief-Song. Letzterer: "Ich hab ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner. Denn Döner macht schöner", gesungen in einer Kneipe. Ersterer: Ein unglaubliches Reimdichoderichfressdich-Liedchen mit total nachdenklichem Text, ich hab ein paar Fetzen mitgeschrieben: "Die Wahrheit der Lüge aus zartem Gefüge", "Aus liebenden Fragen wolln wir uns vertragen", "Ich lehr dir [sic!] das Beugen vor Scham fremden Leuten", "Wir schwingen in Tiefen wenn wir uns verliefen", "Was echt ist und nicht entscheidet die Sicht". Also alles Fragen, die die Menschheit seit Jahrtausenden bewegen, das alle in einem seltsam hedonistisch-De Sadeschen philosophischen Kosmos gewendet sind wie ein Schnitzel in Ei und Mehl, damit die Gedanklichkeit schön knusprig wird, und das Ganze als eine Art Selbsterfahrung gesehen, wenn man Reber richtig verstanden hat nachts um Viertel nach Zwei. Der der Bedeutung seines Films hinterherhechelt, und sie vielleicht irgendwann einholt auf seiner Harley.

Wir freuen uns jedenfalls schon auf die nächsten Werke, in der Pipeline sind unter anderem ein Film über die Hells Angels-Bandidos-Rockerszene und als Opus magnum der Film über den Zahnbürschdlmann.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2011 - Viva la Revolución!

Zugegebenermaßen habe ich meinen letzten Blogeintrag über "Bastard" nach dem Tippen und vor dem Hochladen nicht nochmal durchgelesen, dies aber jetzt nachgeholt und einen furchtbar gönnerhaften Satz, für den ich mich jetzt noch schäme, wieder rausgeschnitten. Meine Prognose aus der Filmtage-Vorankündigung dagegen hat sich am ersten "richtigen" Festivaltag gestern schonmal bestätigt: Krise und damit der Wunsch nach Umwälzung der Verhältnisse ist angekommen im Filmschaffen.

Irgendwie zumindest, wenn wir uns jetzt mal auf Konstantin Ferstls "Trans Bavaria" stürzen wollen, ein HFF München-Abschluss-Debüt, das zu Anfang recht charmant daherkommt - wenn auch grob- und großpixelig digital gedreht und projiziert. Wobei die schlechte Auflösung des Filmmaterials sich auch inhaltlich wiederfindet...

Wir lernen zu Beginn Quirinalis kennen, der sich nach dem römischen Senator nennt, um dem Spitznamen Quirl zu entgehen. Und dessen Berufswunsch Revolutionär ist, was sich sehr lustig in allerhand imaginären und imaginativen Bildern ausdrückt: Treffen mit Che, Wunschvorstellungen von Lenin, Gedanken ans Römische Reich (dem letzten funktionierenden Staat auf bayrischem Boden) - hier schöpft Ferstl gekonnt und originell an derselben Quelle wie Rosenmüller in "Wer früher stirbt...", lässt seinen Quirinalis auch überaus eloquent und literarisch-poetisch seine Weltsicht verbreiten, in der sich eine fundamentale Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und der unbedingte Wunsch nach Veränderung ausdrücken. Was ja in der Tat vollkommen berechtigt ist, nicht nur, weil wir seit vier Jahren in einer unendlichen Weltwirtschaftskrise stecken.

Revolution ist die einzige Option, und der Film - bei all seinem Witz, bei all seinen gelungenen visuellen und pointierten Einfällen - geht bei diesem Wunsch, Gedanken, Ziel - zunächst - durchaus mit. Und zeigt auch, wie unmöglich Revolution sein kann, wenn die Eltern liberale Pädagogen sind und man feststeckt in der Provinz, und sich wenn dann noch das Schicksal gegen einen verschwört und eine Aktion bei der Abiturzeugnisverleihung völlig in die Hose gehen lässt. Die Lösung, die der Film aufzeigt, ist natürlich keine - ist aber immerhin ein Weg, auf dem sich eine Lösung, eine Loslösung von den repressiven Verhältnissen finden lassen könnte: Eine Reise nach Moskau, wo Fidel Castro, der letzte lebende Revolutionär, auf dem Roten Platz sprechen wird. Bis hierher könnte der Film also durchaus noch hinführen zu einem Roadmovie, das sich anlehnt an die Motorradreisen des jungen Che, in deren Anschluss ja tatsächlich der Umsturz, die Verwirklichung der Ideale stand.

Aber: Ferstl bewegt sich auf den Standpunkt von Quirinalis' Freundin zu, die in Castro den alten Deppen im Jogginganzug sieht. Und lässt die Reise vor allem zur Umkehr des Helden weg von den Fantastereien hin zu mehr Realitätssinn, zum Erwachsensein werden. Was natürlich - und darüber hat Ferstl wahrscheinlich gar nicht nachgedacht - eine völlige Denunzierung der Hauptfigur bedeutet, die in der ersten halben Stunde durchaus sympathisch mit ihren Spinnereien war, völlig integer und mit sich selbst im Reinen, die ihren Idealen nachhing und versuchte, diese Ideale im künftigen Leben verwirklichen zu können...

Lustig - wir sind ja in einer Komödie - sind die beiden Kumpels, der zigarrenrauchende, schnöselige Dandy Joker und der dickliche, bisschen prollige Metzgerssohn Wursti. Überzeichnet? Ja. Konventionell-bizarre Sidekicks? Ja. Aber: Mitrevolutionäre, und tatsächlich teilen sie ja den Wunsch nach einem Leben im Idealismus und nach einem Sein im richtigen Bewusstsein. Was der Film aber mehr und mehr als pubertären Quatsch abtut, als etwas, das aus der grundsätzlichen Verunsicherung in der Umbruchzeit zum Erwachsenwerden - kurz: aus dem Privaten und eben nicht aus dem Politischen - hervorwächst. Weshalb Ferstl den Weg der Läuterung seiner Figuren einschlägt, einer Läuterung, wie er sie versteht: Revolution, heißt es irgendwann mal, das bedeutet: sich mit den Freunden gut verstehen, die Eitelkeiten ablegen, die Heimat toll finden. Sprich: Für Ferstl - wie er es in seinem Film propagiert - bedeutet Revolution Anpassung, und vielleicht darf man sich mal heimlich über doofe Autoritäten lustig machen. Was natürlich ausgemachter Quatsch ist, aber typisch deutsch, wo ja, nach einem alten Bonmot, beim revolutionären Stürmen eines Bahnhofs vorher noch eine Bahnsteigkarte gekauft würde.

Konservativer, konterrevolutionärer Quark also, dieser Film - vermutlich aber vor allem, weil einem bayrischen Publikum keine Revolutionsagitation, auch nicht in Form einer Komödie, zugemutet werden darf, weil es einen Zwang zum Happy End gibt, das sich vor allem als Bestätigung des Status quo versteht, und weil "Trans Bavaria" unbedingt publikumsaffin sein will. Wobei sich die Frage stellt, was schlimmer ist: Eine grundsätzlich reaktionäre Grundhaltung zu haben, die Revolution als Unsinn denunziert, oder gar keine Haltung zu haben und lediglich dem Publikum lustigen Honig ums Maul zu schmieren zu versuchen.

Anders der österreicher Paul Poet, der mit seinem Dokumentarfilm "Empire Me - Der Staat bin ich!" den grundsätzlichen Verweigerern nachspürt, die selbst die Staatlichkeit, also das, was als Basis an sich gelten kann, in Frage stellen. Spinner sind das natürlich, sektenhafte Esoteriker oder künstlerische Punks - aber haben sie deshalb unrecht?

Poet steigt hinein in sechs Mikronationen, unabhängige Kleinststaaten, die quasi Privatnationen sind in Abkehr und Verweigerung der "normalen" Groß-Nationen. Auf einer Betonplattform vor Großbritanniens Küste - im Zweiten Weltkrieg als Artilleriestandort in die Nordsee gebaut - residiert die älteste Mikronation Sealand, gegründet in Internationalen Gewässern und seit Mitte der 60er Jahre eigenständiger, unabhängiger Staat. Anzahl der ständigen Bewohner: 2. In Australien hat sich die Hutt River-Nation losgelöst, nennt sich das zweitgrößte Land auf dem Kontinent, huldigt seinem Fürsten - und Gründer -, hat eigene Briefmarken und eigene Pässe und lebt von den Touristen, die diese Merkwürdigkeit eines Spinners besuchen wollen. In Norditalien hat sich eine seltsame Esoteriksekte eine Nation erschaffen, mit Ganzheitlichkeit, präatlantischem Leben, Außerirdischen und musizierenden Pflanzen; in Belzig, Ex-DDR, hat sich nach der Wende die Lebensgemeinschaft Zegg - Zentrum für experimentelle Lebensgestaltung herausgeschält, wo's vor allem um freie Liebe geht. In Kopenhagen hat sich mit Christiania ein besetztes Stadtviertel vom Rest der Stadt losgesagt, Hippies wohnen dort, Obdachlose und, nun ja, Dealer. Poet filmt das Leben dort - und eine Polizeiaktion gegen diese ständige, auch politische Provokation. Schließlich gibt es ein Kunstprojekt der schwimmenden Städte von Serenissima, selbstgebaute Flöße, die wie Schrotthaufen aussehen, auf denen die Punkkünstler leben. Kunstaktion, politische Aktion und eigene Nation in einem.

Eine Menge mehr solcher Mikronationen gibt es, einigen wird im Abspann gedankt, auch wenn sie gar nicht im Film auftauchen. Poet gelingt ein Einblick in die Abkehr, in die verwirklichte Revolution, in der sich Unbehagen, Individualismus, obskures Weltbild und/oder Vision für ein neues, anderes, besseres Leben ausdrücken. Ohne darauf herumzureiten, zeigt Poet die verschiedenen Beweggründe, die politisch, esoterisch oder exzentrisch sind, die aber alle etwas mit der Realisierung von Idealen zu tun haben: Was Ferstl filmisch in den Mülleimer kickt, unterstützt Poet mit seiner gelungenen Doku. Wobei in beiden Filmen - in ersterem ex negativo - ein vages, diffuses, brodelndes Gefühl für Aufbruch und Umbruch zu spüren ist. Und irgendwann wird es dann auch soweit sein.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2011 - Zur Eröffnung Psychospiele

Carsten Ungers Debütfilm "Bastard", der die diesjährigen Hofer Filmtage eröffnete, sieht super aus: Cinemascope, 35 Millimeter, ausgeklügeltes Setdesign mit kaltem Ambiente und sterilen Innenräume, aus denen Psychostörungen wachsen, und stimmungsvoll-symbolische Nacht- und Regenszenen, dazu eine kluge, leicht verstörende Kameraführung. Und der Film lässt sich auch inhaltlich sehr gut an, mit ein paar episodisch scheinenden Einblicken in Handlungsstränge, die sich erst später zusammenfügen sollen:
Da wird ein Junge in einem stockdunklen Keller eingesperrt, hämisch gefilmt mit Nachtsicht-Videokamera; ein lolitahaftes Mädchen baggert im Schwimmbad einen Familienvater an, mit einer bitchigen "Ich will"-Attitüde; und Martina Gedeck als Polizeipsychologin Claudia Meinert bahnt sich ihren Weg durch Matsch und Regen, wenn ihr auch ein tapsiger Polizist auf den Füßen rumtrampelt - Schirm und Gummistiefel fordert sie, zieht blitzschnell Schlüsse aus dem Inhalt eines aufgefundenen Schulranzens, klar, deutlich, geradlinig, professionell - nur eine persönliche Bemerkung: "Mit Kindern kann ich nicht."

Mit Kindern bekommt sie es aber zu tun. Da ist ein 13jähriger Junge, der seinen Namen verweigert, der sich den Eltern verweigert, der sich allem verweigert. Und Mathilda, das Mädchen aus dem Schwimmbad, das alles will und sich alles nimmt, mit allen Mitteln. Er: Aus reichem Hause, verwöhnt mit allem, nur nicht dem Nötige. Sie: Plattenbau, versoffene Nuttenmutter, Not und Elend im untersten Hartz-4-Milieu. Reichtum wie Armut erzeugen Vernachlässigung, emotionale Leere, deshalb tun sich der Junge und das Mädchen zusammen: Sie wollen das Opfer im Keller töten, kurz vor der Strafmündigkeit des kindlichen Entführers. Drei Tage noch.

Denn schnell ist klar: Der fremde Junge ohne Namen hat das Kind, Nikolas, entführt, und wegen Strafunmündigkeit leugnet er auch nicht. Nein: Er will Terror verbreiten, will alle in der Hand haben, die eigenen Eltern, die Eltern des Jungen, die Psychologin, die Polizei - und nun kommt der Film zu dem Punkt, an dem es spannend wird: Wenn Psychologin Meinert mit einsteigt in dieses Spiel. Der Täter und Mathilda nisten sich bei den Eltern des Opfers ein, spielen mit ihnen ein Spiel namens Familie - das geht beiden ja ab, das wollen beide erzwingen: ein Zusammensein, Bindung, Herzlichkeit. Erzwungen durch Angst und Erpressung. Meinert setzt sich dazu, spielt mit, nimmt das Heft in die Hand. Und enthüllt so langsam die tieferen Unter- und Hintergründe des bösen Jungen, der seinen Namen, seine ihm gegebene Identität verweigert.

Während sehr spannend ist, wie Meinert, die "Gute", das böse Spiel mitspielt, die Psychoterror-Sperenzchen selbst sicher beherrscht und die vernachlässigten Täterkids, die "Bösen", mit deren eigenen Waffen zu schlagen versucht, verwirrt sich der Film dann doch in allzuviel Küchenpsychologie. Reiche wie arme Kinder habens schwer, sie suchen ein Ventil, und sie suchen Anschluss; und wenn dann noch ungeklärte Geburtsumstände dazukommen und sich die eigene Existenz als Lüge herausstellt - dann wirds eben, wies ist, sagt der Film; und mitunter verirrt sich Unger in seinem eigenen emotionalpsychologischen Gebäude, versucht (vergebens) Mitgefühl mit den Tätern zu erzeugen, deren Handeln ja nun verständlich ist, und gerät bei diesem Verständlichmachen beinahe noch in diesselbe verdreht-gestörte Argumentationslinie des bösen Täterjungen, der andere - die Eltern, die Mutter - für sein Sein verantwortlich macht...

Zudem wird die Aufdeckung der wahren genetisch-elterlichen Verhältnisse beinahe wie ein Geheimnis offenbart; und man weiß nicht, wie ernst es Unger damit ist, die Hintergründe als Rätsel aufzubauen. Nunja: Das war's eben nie, der Zuschauer ahnt die Zusammenhänge bald - zumal ja der Filmtitel "Bastard" da recht hilfreich ist...

Der Film hat große Momente als Psychothriller, wenn er sich tatsächlich auf das Genre einlässt; wenn Martina Gedeck die Dämonen zähmen will, indem sie sich selbst auf dämonische Spiele einlässt etwa - eingedenk des an Nietzsche angelehnten Satzes, der einmal fällt: dass wer sich mit Ungeheuern einlässt selbst zum Ungeheuer werden kann.

Schön eingeflochten sind in diesen "Bastard"-Film auch kleine Momente, die an Tarantinos "Basterds"-Film angelehnt sind: Wenn der Eindringling ins Familienhaus betont freundlich - und deshalb umso bedrohlicher - ein Glas Milch erbittet; oder wenn das "Wer bin ich"-Spiel mit Zetteln auf der Stirn gespielt wird.
Wäre ich zuhause, würde ich an dieser Stelle aus Seeßlens weitgespannten Bastard-Meditationen in seinem letzten Tarantino-Büchlein zu "Inglourious Basterds" zitieren. Muss aber auch so gehen, ist ja hier nur spontaner Blog.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2011 - Morgen geht's los!

114 Filme insgesamt – plus vier Sondervorstellungen – laufen dieses Jahr in Hof, die zuvor nicht öffentlich gezeigt wurden. Vom 25. bis 20. Oktober wird die Kleinstadt, die fast schon Tschechien ist, wo Döner und Bratwurst herrlich billig sind, ganz im Zeichen des Films stehen. Insbesondere des deutschen Films, der Schwerpunkt liegt wie immer auf deutschen Produktionen, oftmals Erstlingswerken – Hof ist immer sowohl Leistungs- als auch Möglichkeitsschau des deutschen Films, mit kleinen und größeren, mit Mainstream- und Abseitsproduktionen. Handverlesen ausgesucht vom ewigen Festivalleiter Heinz Badewitz.

Wenn ein erster, kurzer Überblick über das Programm – traditionell benutzerunfreundlich auf die Homepage geklatscht – nicht trügt, ist die Krise im Kino voll angekommen. Nachdem auf dem Münchner Filmfest im Sommer Ben von Grafensteins „Kasimir und Karoline“ Premiere feierte, läuft in Hof mit „Mary & Johnny“, eine Schweizer Produktion unter der Regie von Samuel Schwarz und Julian Grünthal, eine weitere Adaption des Ödön von Horvath-Stückes. Ursprünglich verfasst im Zuge der Weltwirtschaftskrise nach 1929, ist nun die Zeit gekommen, die tragisch-verfluchte Liebesgeschichte der Frau, die nach Höherem strebt, und des Mannes, der unter die Räder gekommen ist, auf die Leinwand zu bringen, die weltwirtschaftlichen Umstände verlangen es.

Ein fünfteiliger Musikfilm – eine filmische Symphonie vielleicht – von Klaus Wyborny trägt den bezeichnenden Titel „Studien zum Untergang des Vaterlandes“; und auch in der metaphorischen Form der Epidemie verbreitet sich das krisenhafte Unheil. David Mackenzie, dem die diesjährige Retrospektive gewidmet ist, bietet seinen vorletzten Film „Perfect Sense“ – in diesem Jahr produziert – ein Liebespaar, um das herum die Welt still und leise untergeht, weil seuchenartig ansteckend alle Sinne absterben. Eine Epidemie auf leisen Pfoten – anders als bei Niki Drozdowski, der in seiner deutschen Horrordystopie „Extinction – The G.M.O Chronicles“ ein Virus auf die Menschheit loslässt, das wahllos Gene kreuzt und Mutationen hervorruft – ein Gegengewicht zu Soderberghs „Contagion“.

Ein Gegengewicht zu von Triers „Melancholia“ bietet Mike Cahills Debütfilm „Another Earth“, den ich schon vorab sehen konnte: ein neuer Planet taucht am Himmel auf, aber nicht, um die Erde zu verschlingen – Earth 2 ist vielmehr eine genau Kopie unseres Planeten (oder unserer eine des anderen…?). Vor diesem Hintergrund – Mond und Erde am Firmament – entfaltet sich die traurige Story von Rhoda, die ein schlimmes Trauma mit sich schleppt. Die Zerstörung einer Familie büßt sie mit vier Jahren Haft, mit 21 Jahren, bei ihrer Entlassung, ist nichts mehr von ihren Lebensplänen – ein M.I.T.-Studium der Astrophysik übrig, und sie verdingt sich als Putzfrau. Nähert sich so, unerkannt, an William an, dessen Leben sie in Leid verwandelt hat, der dauerbetrunken in seiner vernachlässigten, verlotterten Wohnung rumgammelt. Putzt für ihn, macht ihm das Leben ein wenig schöner. Natürlich kommen sie sich näher, und Earth 2 ist so was wie der gute Stern, der über ihrer Beziehung steht – wenn sie auch auf Lüge aufgebaut ist, ist mit der zweiten Erde am Himmel immer auch die Möglichkeit einer Hoffnung, einer Alternative gegeben.

Eine kleine Geschichte ist das, nicht unüblich für Independent-Filme, es geht um Wunden und um Heilung, um Isolation und ums Zusammenkommen – doch Cahill verknüpft dieses Drama geschickt mit einem Science-Fiction-Aspekt, der dem Film eine neue, erweiterte Dimension verleiht – eine existentielle, sozusagen, weil stets die Frage im Raum steht, was anders verlaufen wäre, wenn ein kleiner Moment anders verlaufen wäre; und was wohl die Menschen da oben tun, getan haben, tun werden, getan hätten oder tun würden – die da oben sind nämlich wie wir da unten, aber vielleicht ist da ein kleines Bisschen, das sie und ihren Lebensweg doch unterscheidet…

Zu sehr schwelgt Cahill in dissonanter Musik, zu sehr in einer extra verwackelten Kamera, die Unmittelbarkeit und Nähe präsentieren soll, aber dann doch eher auf minimalistische Art manieristisch wirkt – fast wie bei von Trier, der die Schönheit seines Weltuntergangs auch mit zittrigen Bildern verschmutzen wollte, aber noch etwas mehr. Insgesamt aber ein beachtenswerter Erstling, unterhaltsam, emotional, philosophisch und – gerade weil im großen Ganzen vom ganz Kleinen erzählt wird – schlicht schön.

All meine Eindrücke von den Hofer Filmtagen finden Sie auf unserem Screenshot-Festival-Blog, täglich gefüllt von

Harald Mühlbeyer

RACHIDA (2002)


C/O Berlin, International Forum for Visual Dialogues präsentierte begleitend zur Fotoausstellung „unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ und in Kooperation mit dem Babylon Kino eine Filmreihe zum Thema Terror und Terrorismus. Konzipiert hat diese die Filmjournalistin und Kunsthistorikerin Sonja M. Schulz. Am 8. Oktober wurde dort der algerisch-französische Film RACHIDA (2002) von Yamina Bachir-Chouikh gezeigt. Von C/O Berlin eingeladen, hat Bernd Zywietz dazu einen kleinen Einführungsvortrag gehalten. Hier der ausführliche und leicht umstrukturierte Text dazu, wie er von er uns von unserem Partnerdienst Terrorismus & Film zur Verfügung gestellt wurde.

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I. Einleitung
Eigentlich sollte am Mittwoch, den 12. Oktober, Wang Bings Film THE DITCH (DAS ERDLOCH/JIABIANGOU) von 2010 über die „Umerziehungslager“ unter Mao die Filmreihe „unheimlich vertraut“ abschließen. Weil dieser Termin jedoch entfallen musste, ergab sich zufällig eine originelle Symmetrie: Am 11. September startete die Reihe mit Gillo Pontecorvos wegweisendem LA BATTAGLIA DI ALGERI (SCHLACHT UM ALGIER) aus dem Jahr. Mit einem weiteren Film zur Gewalt in Algerien schloss sie nun am 8. Oktober – mit Yamina Bachir-Chouikhs RACHIDA von 2002.

Es ist aufschlussreich, stellt man beide Filme einander gegenüber – als zwei Filme zu unterschiedlichen Formen von Terrorismus, in puncto Frauenrolle, aber auch als zwei Werke an unterschiedlichen Punkten der historischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Algeriens. Und nicht zuletzt sind es zwei Filme, die aus einer gegensätzlichen Position heraus und mit höchst unterschiedlichen Perspektiven und Anliegen entstanden.

LA BATTAGLIA DI ALGERI zeigt den Untergrundkampf der FLN (Front de Libération Nationale) in der algerischen Hauptstadt gegen die französische Kolonial- und Militärherrschaft. Von 1954 bis 1962 dauerte der Algerienkrieg, an dessen Ende Frankreich den Maghreb-Staat unter großen Schmerzen nach 132 Jahren notgedrungen in die Unabhängigkeit entließ. Pontecorvos Film entstand auf Betreiben der FLN nach diesem Sieg, ist vor Ort gedreht, mit historischen Kämpfern, die sich – wie Saadi Yacef – praktisch selbst spielen. In und mit LA BATTAGLIA DI ALGERI feiern sich die Gewinner des Freiheitskampfs selbst, es ist ein filmgewordener Gründungs- und Heldenmythos, ein Meilenstein der Kinogeschichte mit seinen dynamischen Schwarzweißaufnahmen im Stil des Neorealismus, aber auch ein Lehrbeispiel in Sachen urbanem Untergrundkampf: Andreas Baader und der Auftragsterrorist „Carlos, der Schakal“ sollen ihn sich, so wird kolportiert, angesehen haben, und das US-Militär nutzte ihn als Anschauungsmaterial, um sich auf die Invasion im Irak vorzubereiten.

RACHIDA ist da ganz (etwas) ander(e)s und steht doch in Beziehung zu LA BATTAGLIA DI ALGERI, nicht zuletzt, weil der RACHIDA sich mit dem unruhigen Land befasst, das Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit aus Algerien geworden ist.

Ein kurzer Blick in die Geschichte: Nach der Unabhängigkeit 1962 kam es zu Machtkämpfen um Personalien und die politische Ausrichtung innerhalb der FLN; Präsident Ahmed Ben Bella, Gründer der FLN, wurde bei einem Putsch von Houari Boumedienne gestürzt. Dessen Nachfolger wurde 1978 Bendjedid Chadli, der angesichts der sozialen Aufstände als Reaktion auf eine daniederliegende Wirtschaft, auf Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit in dem bis dahin sozialistisch orientierten Land Ende der 1980er Demokratisierungsmaßnahmen einläutete. Eine Verfassung trat in Kraft und freie Parlamentswahlen wurden zugelassen. Letztere gewannen 1991 im ersten Durchgang die Islamische Heilspartei (FIS), woraufhin das Militär einschritt, den Notstand ausrief und die FIS verbot. Es folgte ein Bürgerkrieg zwischen Islamisten, vor allem jenen der radikalen, kompromisslosen Groupe Islamique Armé (GIA), auf der einen und der algerischen Armee auf der anderen Seite. In manchen Regionen Algeriens dauert der blutige Kampf bis heute an. Legitimes Ziel für einige der Extremisten ist dabei jeder, der mit Repräsentanten der öffentlichen Herrschaft unter Präsident Abelaziz Bouteflika „kollaboriert“ oder sie unterstützt. Dabei wurde der algerischen Gesellschaft quasi der Krieg erklärt, unter Berufung auf den Apostasie-Vorwurf, also dem Abfallen vom wahren Weg des Islams, so dass das Töten von Zivilisten als eine Art Reinigung der Gesellschaft gerechtfertigt wird. Entsprechend ist es in dem Konflikt zu einer Vielzahl von Morden und grausamen Massakern an der Zivil- und vor allem Landesbevölkerung gekommen, z.B. jenem in Benthalha im September 1997 mit je nach Quelle über 200 Toten. Zum nationalen Kampf gesellt sich neuerdings auch der internationale dschihadistische, zumindest formal: So benannte sich die Splitterpartei Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat – GSPC), 1998 gegründet, im Jahr 2005 in „Organisation al-Qaida des Islamischen Maghreb“ um und versucht so, den Konflikt mit der algerischen Regierung in einen größeren Kontext zu stellen. Doch auch die Regierungsparteien geraten in die Kritik. So kommt es immer wieder zu Anschuldigungen, die GIA sei vom Militär unterwandert und gelenkt. Und insbesondere die Gräueltaten legitimieren die Regierung und lässt sie im Ausland als notwendiger Garant der Stabilität im Land erscheinen...


II. RACHIDA
Rachida (Ibtissem Djouadi), die titelgebende junge Frau, lebt mit ihrer Mutter Aïcha (Bahia Rachedi) zusammen und arbeitet als Lehrerin in Algier. Zu Beginn des Films sehen wir, wie sie Lippenstift aufträgt, für die Klassenfotos, die an diesem Tage geschossen werden. Rachida trägt moderne westliche Kleidung, Hosen oder knielange Röcke, einen Blazer, das braune Haar offen – keinen hijab. Ihre Kollegin, mit Kopftuch, will nicht mit aufs Foto: Sie wolle deswegen ihre Kinder nicht zur Waisen machen – und sei sie froh, dass ihr Mann sie überhaupt arbeiten lasse.

Kein Problem, ihren Platz im Bild nimmt die Schulleiterin Yasmina ein; und als ihr Rachida die Musik aus ihrem Walkman vorspielt, lacht die eben noch besorgte Erzieherin plötzlich ausgelassen auf. Man hat sich eben arrangiert in Algier, mit den religiös-kulturellen Einschränkungen wie mit den Versorgungsengpässen: Ein Schuhverkäufer preist im Lehrerzimmer seine begehrte Ware an, ehe Yasmina in davonjagt, und daheim warten Rachida und ihre Mutter, bis das Leitungswasser wieder fließt – in der Küche stehen die Plastikflaschen für den nächsten Tag schon bereit. Es ist ein lebendiges Leben, das bei aller Not stattfindet. Auf dem Dach hält ein Nachbar mit einem Stein in der Hand Wache. Gegen Einbrecher oder Radikale? Beides?

Doch die Gefahr ist tatsächlich schon nahe, überall: Rachida wird auf dem Weg von der Schule nach Hause beobachtet, von jungen Männern verfolgt, keine langbärtigen Finsterlinge, sondern hittistes – „unemployed, angry, and idle male members of Algeria’s extremely young population“ (Chakravarty Box 2011, S. 8, Fn. 3). Einer baut eine Bombe, verstaut sie in eine Tasche. Am nächsten morgen fangen sie Rachida ab, umringen sie. Sie soll die Tasche in die Schule mitnehmen. Mit weitaufgerissenen Augen starrt sie die jungen Männer an. Einer davon, so wird später mehrfach erwähnt, ist ein ehemaliger Schüler. Die Männer verfolgen sie in eine Seitengasse, es ist taghell, eine Frau schaut zu. Rachida weigert sich erneut. Die Kinder. Der Älteste zieht langsam eine Pistole aus dem Hosenbund. Rachida schüttelt entsetzt den Kopf. Ein Schuss. Sie stürzt zu Boden. Die Männer stellen die Tasche neben der bewusstlosen Lehrerin und ihrem Walkman ab, wir sehen ihre Füße ohne Eile aus dem Bild gehen.



Ein Bombenkommando entschärft die Bombe, Aïcha eilt herbei, wird zurückgedrängt. Im Krankenhaus dann wartet sie auf dem Flur. Ein Arzt schickt die Mutter mit kühler Autorität im Vorbeigehen nach Hause. Natürlich bleibt sie. In ihrem haïk, dem Ganzkörpertuch, setzt sie sich im Flur auf den Boden und wirkt wie ein archaisches Gespenst in diesem modernen Klinikambiente. Rachidas Verlobter Tahar (Azzedine Bougherra) kommt – mehr verärgert als besorgt. Er hat sowas ja kommen sehen.

Rachida überlebt den Bauchschuss, doch die junge, selbstbewusste Frau ist traumatisiert und grimmig zugleich. Als die Mutter die Fensterläden in ihrem Zimmer öffnet, um das gleißende nordafrikanische Licht und das Leben wieder herein- und zuzulassen, springt sie ärgerlich auf, knall sie wieder zu.

Gemeinsam mit Aïcha verlässt Rachida die Stadt. Yasmina verfügt über ein Haus in einem Dorf auf dem dörren, staubigen Land, dort kommen die Frauen unter. Auch eine Anstellung in der örtlichen Schule besorgt Yasmina Rachida. Doch Gewalt gibt es aber auch hier, allerdings offener, urtümlicher und – man möchte fast sagen: – banaler.

Wenn man Rachida als den Figurentypus der Educator-Heroine herunterbricht (s. Chakravarty-Box 2011), sind die Gewalttäter, die das Dorf unregelmäßig heimsuchen, wie Bullies auf eine Schulhof oder Banditen in einem Western, gegen das Hollywood die Glorreichen Sieben anheuern würde. Am hellichten Tag kommen sie zu dritt, finster dreinblickend, mit Sturmgewehren und Pistolen, gewöhnlicher gekleidet in Jeans und Hemd oder höchstens mit Weste und Stiefeln leicht milizionärisch. Schnellen Schritts kommen sie Straße entlang; die Kinder werden ihnen schnell aus dem Weg gezogen. Im Laden kassieren sie ihren Teil, holen sich Lebensmittel, im Café, bei anderer Gelegenheit, fegen sie die Tische leer, fuchteln mit den Waffen, als ein älterer Mann leise muckst, und kassieren das Schutzgeld.

Später wird der alte Mann tot sein.

Wie in Algier, stehen auch hier nächtens Wachen auf den Flachdächern. Die Jungen sammeln Patronenhülsen, fachsimpeln gar über die Schüsse in der Ferne – um welche Waffe es sich da handeln mag.

RACHIDA erzählt in fast nüchternem Ton und mit mehreren Figuren von einem belagerten Dasein, mit dem man sich auch hier mal mehr, mal weniger arrangiert hat. Hinzukommt eine grundlegende Art Druck für die Frauen, die Regeln und Normen des traditionellen Patriarchats. Auch davon erzählt RACHIDA, und davon, dass beides nicht dasselbe ist.

Die einzelnen Figuren und ihre jeweiligen Geschichten ergeben zusammen jedoch kein Ensemblefilm mit verwobenen Stories und einer in sich distinkten Polyperspektive. RACHIDA ist nicht Robert Altmans SHORT CUTS (1993) oder, in Sachen Terrorismus, der indische MUMBAI MERI JAAN (2008) von Nishikant Kamat. Der Blick in des und des Film(s) RACHIDA ist eher der eines Flaneurs und neutralen Beobachters, der Film durch das Dorf schreitet, sich mal hier, mal da Figuren heraus pickt und lose, unfertige wiewohl in sich komponierte Splitter und Miniaturen der Dorfgeschichte, ausgearbeitet zwar, bedeutungshaft und poetisch konstruiert, trotzdem ausschnitthaft und Teil eines Ganzen. Sachlich ist dieses Kamera-Auge, manchmal auch holprig, aber nie uninteressiert, herzlos oder kühl.

Da ist zum Beispiel der junge Mann, der ein Mädchen – Hadjar – liebt. Ihrem Vater passt das Interesse des Jungen gar nicht, die Tochter ist schon vergeben, und trotzdem lässt sich der Liebende nicht davon abbringen, seine Herzensdame täglich aus der örtlichen Telefonzelle anzurufen, mag sich der Papa noch so aufregen.

Eine andere, tragische Geschichte: die von Zohra (Rachida Messaoui En). Von den Terroristen entführt und vergewaltigt, ist sie nun schwanger zurückgekehrt – und wird als eine, die ihrer Familie Schande gebracht hat, vom Vater verstoßen. Die Frauen der Familie und des Dorfes lassen sie gleichwohl nicht fallen. Mit ihnen begibt sie sich später, vor der Hadjars Hochzeit, traditionell ins Badehaus, wo die Frauen ihren Freiraum haben, offen über ihre Männer lästern können – wohin sich Rachida aber nicht traut: Als Ledige befürchtet sie, ihre Schusswunde, könne für einen Kaiserschnitt gehalten werden. Und auch Zohra verfolgt die Wertregeln bis hinein ins Bad: Wie besessen schrubbt sie ihren blessierten, nun auch von ihr verachteten Körper, dass es einem beim Zuschauen schmerzt. Aïcha redet ihr gut zu, vergebens.

Schließlich, während der Hochzeitsfeier, überfallen die Banditen-Terroristen das Dorf, verwüsten es. Der Film, wie auch sonst fast aufreizend unspektakulär, zeigt das nicht, nur die Folgen am Morgen danach. Die Braut Hadjar haben sie mitgenommen, und der junge Mann, der sie einstverehrte und nicht haben konnte, sitzt am nun in den Trümmern der Telefonzelle schnippt seine Münzen vor sich in den Staub. Und hier findet sich eine zutiefst unheimliche Szene. Wie eine Geistergestalt geht Zohra, die Schwangere, Verstoßene, durch den verheerten Ort, der weniger erscheint, als haben einige Bewaffnete gewütet, denn ein kleiner Krieg. Leichen liegen da, verdeckt unter Tüchern (auch ein Kind), eine Bestattung. Und Zohra, als habe das Schicksal sie gerecht, zeigt für einen Augenblick ein kaltes kleines Lächeln, das einen frösteln lässt.

Rachida aber, die sich zuvor noch mit ihrer Raï-Musik die Furcht aus dem Leib zu tanzen versuchte wie Zohra sich die Schande grob abzuwaschen versuchte, die versteckt anhören muss, dass die lüsterne Verbrecherbande nach ihr Ausschau hält, sie ergibt sich diesmal nicht der Furcht, führt die Kinder zum Unterricht, schreibt an die Tafel, wendet sich um und blickt fest und lange in der letzten Einstellung in die Kamera und ins Publikum.


III. Zur Perspektive in RACHIDA
RACHIDA ist der erste und bislang einzige Spielfilm der 1954 geborenen Regisseurin Yamina Bachir-Chouikh. Zuvor arbeitete sie als Cutterin, dreht danach den Dokumentarfilm HIER… AUJOURD’HUI ET DEMAIN (2010); verheiratet ist sie mit dem algerischen Regisseur Mohamed Chouikh (EL KALAA – LA CITADELLE [1988]). Zu RACHIDA, der im Dezember 2003 von der Evangelischen Filmarbeit als „Film des Monats“ ausgezeichnet wurde und unter anderem den Satyajit Ray Award des London Film Festival 2002 und den Friedensfilmpreis Osnabrück 2003 gewann, sagte sie:

Ich wollte auf meine persönliche Art ein Zeugnis ablegen von der Situation in meinem Land. Denn es gibt so wenige Bilder. Und die Bilder, die es bereits über dieses Drama gab, die Bilder die es im Fernsehen zu sehen gibt, ärgerten mich, ja sie machten mich richtig wütend. Ich litt mit den Opfern und empörte mich gleichzeitig über die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, mit jenen, die täglich umgebracht werden. Ich wollte von der Alltäglichkeit dessen erzählen, wie die Leute diese ständige Gewalt erfahren. Ich wollte diesen Menschen ein Gesicht geben“ (Bachir-Chouikh zit. n. Wolpert 2004).

Die Gesichter in RACHIDA kann man freilich schnell verwechseln; es fordert ein aufmerksames Sehen, um die Figuren in ihren Verhältnissen zuzuordnen. Das hängt auch zusammen mit der Kamera, die mehr dokumentiert als zeichnet. Diese (man kann angesichts ihres Gestus‘ und der Verbreitung fast sagen) Weltkinosprache ist nicht ohne Finesse oder Effizienz, aber an vordergründiger Eigenästhetik nicht interessiert. Und mehr noch dient sie nicht der und den einzelnen Figurendramen – diese selbst stehen in einem höheren Auftrag: dem, eine Stimmung einzufangen.

Der Film RACHIDA wirkt in seinem Duktus selbst im besten Sinne irritierend, da zugleich empört und gleichmütig in einem. Und so bedrückend die geschilderte Lage ist, so offen erscheinen die Räume und der Film mit seinen Sprüngen und fehlenden Expositionen selbst. Von dem Dorf, in das sich Rachida mit ihrer Mutter zurückzieht, bekommt man keinen topografischen Gesamteindruck. Einzelne verstreute Häuser, breite Wege und Straßen. Aber keine Totale auf das Ganze. Das Leben findet draußen statt, alles ist sonnenhell, in diesem algerischen Hinterland, in dem sich die Gangster-Terroristen in ihrer schrecklichen Natürlichkeit herumtreiben, in der sie kommen und gehen, sich mit dem Militär beharken oder sonst etwas anstellen, wenn sie aus dem horizontal organisierten Bild sind; was genau? – man weiß es nicht und erfährt es nicht. Sie sind einfach da.

Algier ist, so wie so, dieser dörflichen Gegend nicht fern, denn die Räume fließen in RACHIDA ineinander. Einmal fahren Rachida und ihre Mutter in die Großstadt. Unterwegs werden sie fast von den „Rebellen“ gestoppt; aus der Ferne dann sehen die Frauen, wie andere Wagen mit unglückseligen Insassen ihnen in die Falle gehen. In Algier verbringen sie anschließend mit Rachidas Verlobten einen Tag am Meer (an dem Privatstrand eines Hotels?), unbekümmert, in moderner Badekleidung (doch auch hier schwimmt eine Frau im Ganzkörpergewand), in einer Art Parallelwelt.

RACHIDA stört dahingehend unsere Sehgewohnheiten. Wir kennen den Kino-Terrorismus weitgehend als fremdartige, monströse Gewalt, die in den zivilen Alltag hereinbricht wie ein Wesen aus einem Horror- oder Science-Fiction-Film oder aber gebunden an die Heimstädten eines Krisengebiets oder sonstiger Einzelterrains, in dem sich jede Ordnung weitgehend aufgelöst hat, im Irak, in Afghanistan, auf dem Balkan. In RACHIDA ist die Terror-Gewalt auch schrecklich, aber ihrer Absolutheit beraubt. Damit sind auch die Menschen, die zwischen die Fronten der hier nicht näher behandelten permanenten Gefechts geraten, zwar Opfer der Willkür oder Spielball zwischen Repression und Gegenrepression, aber sie sind eben nicht immer und nicht ausschließlich das: Opfer.

Dieses „Nicht-nur“, das Verweigern der Reduktion der Gewalt auf Schockbilder, ohne jedoch Furcht und Schrecken zugleich aufheben zu wollen, ist ins ästhetische, erzählerische Prinzip des Films RACHIDA ganz tief eingeschrieben. Das angelegentliche Ungelenke wie das Elegante in ihrer merkwürdigen Eintracht lässt sich daraus erklären.

Denn manches ist betont, nahezu überdeutlich und gesucht wie beispielsweise die prononcierte frontale Darstellung des Fotokameraobjektivs in Großaufnahme, die beim Klassenfototermin auf die Schüler und die Lehrerin gerichtet ist wie eine Waffe (oder der berühmte male gaze). Ein ausliefernder, verdinglichender Blick, der im finalen entschiedenen Zurück- und Aus-dem-Film-Blicken Rachidas (s)einen Konterpart oder aber: Konkurrenten um die Sehhoheit findet (beide sind schließlich und in letzter Instanz auch auf uns, das Publikum, gerichtet).

Das ist cleveres visuelle Motiv, aber auch – wie der junge Mann in der zertrümmerten Telefonzelle gegen Ende des Films – ausgedacht oder sehr herausgegriffen und insofern ohne viel Feinheit, als der Film sich in seinem kühlen, effizienten Erzählen selbst nicht den Charakter für derartige sinnbildliche Betonungen zugesteht. So erscheint automatisch und zwangsläufig das dargestellte Kameraobjektiv ebenso wie Rachidas finaler Blick als zu lange ausgespielt, und man ist, unberechtigterweise oder angesichts der nur psychologischen Schwerfälligkeit, versucht zu denken: Yamina Bachir-Chouikh mit ihrer Erfahrung als Cutterin hätte es doch besser wissen müssen.

Anderes wiederum erscheint wunderbar unbewusst, en passant gefunden oder einfach von selbst vorhanden wie der immer wieder aufgegriffene Walkman mit seiner „funktionalen“ Bedeutung für die Figuren, die mit seine Symbolik in der Erzählung Hand in Hand geht.

Auch im Krankenhaus findet sich zwar die – hier kraftvoll sinnbildliche, entsprechend inszenierte –, jedoch eben auch wieder „hingesetzte“ oder „frontale“ Mutter Aïcha – daneben allerdings ebenfalls eine unscheinbare und umso mehr bemerkenswerte Einstellung, die sich ganz aus der Haltung des Films und der Kamera gegenüber dem (oder den) Gezeigten ergibt:

Die bewusstlose Rachida wird von Ärzten versorgt. Von beiden sehen wir jedoch nur Details; nicht das Wer, sondern das Was beansprucht die Aufmerksamkeit des Films in diesem Moment. Die Infusionsbeutel werden überprüft, das Schlauchventil geöffnet, der Sitz der Nadel in der Vene kontrolliert. Auf der anderen Seite, am anderen Arm, wird gerade die Blutdruckmanschette fertig angelegt … Die Kamera schwenkt dabei die einzelnen medizinischen „Stationen“ ab, „überquert“ dabei auch Rachidas Oberkörper – ohne aber ihr Gesicht auch nur zu streifen. Erst zuletzt, nachdem das Kontrollgerät eingeschaltet wurde, schwenkt die Kamera ein Stück nach rechts und fokussiert das horizontal „liegende“ Profil der „schlafenden“ jungen Frau.

Man kann diese Blickkonzentration auf unterschiedliche Weise lesen: Dass nach den jungen Terroristen und den Bombenentschärfern einmal mehr über den Körper der Frau von Männer qua deren herausgehobenen Status und ihrer Profession verfügt wird. Ein Körper, der missbraucht werden soll und attackiert wird, der gefährlich oder anfällig und kaputt erscheint (mit Zohra und ihrem Vater, die beide Zohras geschändeten, unreinen und damit nun fremden Körper abweisen, wird der Film diesen „Gedanken“ fortgeführt und ans Traditionelle und Archaische zurückbinden).

So einfach ist es aber dann doch nicht, denn für die Rachida professionell versorgenden Ärzte ist Rachida kein bloßes Ding (und ebenso wenig für die Kamera): Nachdem die Blutdruckmanschette angelegt ist, hebt einer der Ärzte Rachidas Hand kurz an, führt einen Schlauch drunter durch, und legt sie dann, mit einem überraschenden, vorsichtigen Zögern fast zärtlich wieder ab. Auch die Kamera verweilt für einen Sekundenbruchteil länger als nötig auf dieser zerbrechlichen, schönen, ganz menschlichen Hand.

RACHIDA ist mit dieser zurückgenommenen Aufmerksamkeit kein politisch präformiertes Sehen, sondern ein neugieriges phänomenologisches Betrachten. Auch den Vater, der seine Tochter in ihrer Notlage verstößt, macht er nicht zu einem bösen, herzlosen Mann, inszeniert in abfällig oder dergleichen. Stattdessen gesteht sie ihm eine ganz eigene Verzweiflung zu, und was man von den Regeln und Normen um Familienehre und Väter- bzw. Männerdominanz auch halten mag, RACHIDA urteilt darüber nicht. Kein
politisches Programm, kein Bestreben, gesellschaftlich-geschlechtlicher Mechanismen und Ungleichheiten zu enthüllen oder sichtbar werden zu lassen, motiviert das Beobachten des Films RACHIDA, sondern ein eigenständiges Interesse an der gesamten Sphäre des Gewaltopfers, das als solches und in diesem Sinne zwangsläufig zum Objekt wird (der Furcht, der Politik, der Schande, auch der Trauer), ohne jedoch dabei völlig aufzuhören, Mensch und gar Individuum zu sein.

Natürlich klagt RACHIDA auch an, verweist auf fundamentale Missstände, aber nur indirekt. In den einfach nur beobachtenden Momenten und mit dem darin enthaltenen Gestus ist der Film denn auch am vorzüglichsten, gelingt ihm doch ein entscheidender Balanceakt, an dem viele Film zu und über politische Gewalt (wenn auch nur in letzter Instanz) scheitern: sich den Opfern von Terror und Terrorismus anzunehmen, ohne sie in deren Logik und zu einem ähnlichen Zweck zu einem Ding zu machen, auszustellen und auf das reine Opfer-Sein zu reduzieren. Daher wird, bis auf die Attacke auf Rachida, die Gewalt weitgehend und konsequent ausgespart. Was zunächst kein Kunststück ist, doch in RACHIDA, und das ist selten, bekommt man nicht das Gefühl, das damit etwas in der Wahrnehmbarkeit fehle.

Bachir-Chouikh tat dies ganz bewusst:
Die ganze Situation war so heftig‚ auch so absurd. Hätte ich versucht, die Gewalt auch noch direkt darzustellen, dann hätten die Zuschauer von Anfang bis Ende nur geheult und mit gelitten – das würde aber nicht weiterhelfen. Ich wollte den Menschen, von denen ich erzähle, ihre Würde lassen. Und ich wollte diese Gewalt für den Zuschauer gleichzeitig spürbar machen, wollte dass er sich identifizieren kann. Man muss dazu keine getöteten Menschen sehen. Es gibt andere Methoden, um diesen Grad der Gewalt spürbar zu machen“ (zit. n. Wolpert 2004).



Dass Rachida zum Gegenstand des Blickes wird, wie innerhalb des Films zum Objekt für die Männerwelt und ihre jeweilige „Pflicht“ (und auch die Terroristen im Dorf suchen schließlich nach „Rachida“, sondern „der Lehrerin“), ist unvermeidlich – die Frage ist eben nur, welcher Art der Blick und seine Einstellung ist. Dementsprechend zeichnet RACHIDA nicht die ungewohnte Distanz in der Betrachtung aus, sondern eine bemerkenswerte Blickachse.


IV. Frauenrechte in Zeiten des Krieges
Nicht nur, dass er von der nicht-offiziellen und alltäglichen Situation von „kleinen Leuten“, die in und mit der Gewalt leben, handelt, macht RACHIDA zu einem Gegenentwurf zu LA BATTAGLIA DI ALGERI – einem Film, der einen asymmetrischen Krieg zwar nicht feiert, ihm aber als historischen Erfüllungsauftrag gedenkt: Auch, wenn es um ihre Rollen, Rechte und Positionen der Frauen geht, präsentieren die beiden Filme unterschiedliche Ansichten.

Dass Frauen in Bürgerkrieg und Terrorkonflikten besonders leiden, als Mütter, Schwestern und Ehefrauen, die Kinder, Bruder, Mann verlieren, als Sexualobjekte, die geschändet werden (oder aus Furcht davor, weggesperrt), das ist im Grunde banal, und so gesehen rennt RACHIDA bestenfalls offene Türen ein. Spannend wird es hingegen, verdeutlicht man sich die Situation in den 1990ern und 2000ern als eine Zeit dreißig bis vierzig Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg.

Frauen sind und waren in allen Freiheitsbewegungen symbolisch und taktisch von großer Bedeutung (z.B. in Irland, vgl. u.a. Zywietz 2012). Für die Ehre der Frau oder im Namen der Frau wurde gekämpft – oder die gesellschaftlichen Regeln des Konzepts Weiblichkeit zum eigenen Vorteil genutzt. So zeigt LA BATTAGLIA DI ALGERI, wie sich FLN-Kämpfer in Ganzkörperschleier hüllen, um so unantastbar und unsichtbar vor der Polizei zu entkommen.

Wie in Irland im Cumann na mBan, dem Frauenverband der Irish Republican Army, nahmen freilich auch im Algerienkrieg Frauen aktiv teil, und „[i]t should be mentioned that the women’s movement has been the major component of civil society in Algeria, a status rooted in the legacy oft he Mujaheedatis (Algerian women independence fighters)“ (Cheref 2006, S. 61).

Charakteristisch für Unabhängigkeitsbewegungen über die Ländergrenzen hinweg sind jedoch ebenso die Lippenbekenntnisse für die Emanzipationsforderungen der Frauen bzw. das Vertrösten auf die glorreiche Zeit nach dem Sieg. In Irland spaltete Anfang der 20. Jahrhunderts der Streit, ob die geschlechtliche Gleichberechtigung zugunsten der Realisierung der Republik zurückgestellt oder als gleichranging mit der großen nationalistischen Idee verfolgt werden sollte, die Frauenbewegung. Auch später in Nordirland wurde der Feminismus mit dem Verweis auf ihre Beitragspflicht zur „Sache“ unter daraus abgeleiteten traditionellen weiblichen Rollenbildern begraben.

In Algerien war es nicht anders, wobei hier Frauenrechte überdies zwischen Staat und Islam (beide männerdominiert) zum Verhandlungsgut wurden: Der unter Bouteflicka eingeführte staatliche Algerian Family Code von 1984 schließt Elemente der Scharia mit ein – der Vater der Braut kann die Hochzeit verhindern, auch darf eine Muslimin keinen Nicht-Muslim heiraten. Vor allem wird der Status des Ehemanns als Familienoberhaupt, dem Respekt entgegenzubringen ist, zementiert (vgl. dazu wie zu dem Thema Staat und Frauenrechte im anderen Maghreb-Staaten Charrad 2001). Gegenüber den überlieferten Regeln der Stammestradition war die Bestätigung des Patriarchats zudem ein beschwichtigendes Zugeständnis angesichts der ökonomischen Krisen und politischen Ungerechtigkeiten.

Dieses Verkauftwerden der Gleichstellungsrechte nicht zuletzt deshalb traurig, weil nach der Unabhängigkeit Algerien lange als modernstes Land der arabischen Welt galt. Heute verhüllen sich laut dem Algierer Frauenzentrum CIDDEF neunzig Prozent der erwachsenen Algerierinnen – ein Drittel der Männer würden dies gerne zur Pflicht machen (vgl. Semouri 2011). Dalila Djerbal von Frauennetzwerk „Qussila“ zeigt sich außerdem schockiert von dem Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Kindern – sowie von der großen Anzahl der Frauen, die von ihren Familien verstoßen auf der Straße landen. „Der Frau wird in der patriarchalischen Gesellschaft deutlich zu verstehen gegeben, dass ihr Platz nicht im öffentlichen Raum ist, sondern dass sie zur Reproduktion da ist“ (Djerbal zit. n. Semouri 2011).

Der hijab gilt heute durchaus als etwas, mit dem man sich (notgedrungen?) arrangiert hat: der Schleier als Zugeständnis nicht gegen, sondern für die Freiheit, insofern der Islam verschleierten Frauen einen höheren Stellenwert einräumt (vgl. ebd.). Das Argument hat einen schalen Beigeschmack. In Zeiten des Bürgerkriegs war und ist an Emanzipation dementsprechend noch weniger zu denken, denn nicht nur sind die radikalen Islamisten leicht zu provozieren, es greifen auch die typischen Argumentations- und Beschwichtigungsmuster:

Zur Zeit des Terrorismus in Algerien haben die Frauen gesagt: Angesichts der Toten und der Bomben ist das jetzt nicht der richtige Moment, um gleiche Rechte für uns einzufordern. Es ging damals ja um Leben und Tod. Aber einige Frauen haben auch damals schon gesagt: Doch, das ist eine prioritäre Frage, denn die Terroristen wollen ja den Frauen ein Lebensmodell aufzwingen, und denen muss man sofort deutlich widersprechen“, so Chérifa Bouatta, Professorin und Direktorin des algerischen PsychologInnenverbands SARP (zit. n. Kempis 2011).

In LA BATTAGLIA DI ALGERI schminke(t)n und (ver-)kleide(te)n sich noch drei Frauen im Dienste der FLN westlich und modern, um so unbehelligt in ihren Taschen Bomben durch die Straßenkontrollen in den französischen Teil der Stadt zu tragen und unter anderem in einer belebten Café-Bar zu deponieren. In RACHIDA hingegen ist es die von sich aus - also selbstbestimmt - westlich, moderne, ungezwungene auftetende Frau, die gezwungen werden soll, eine Bombe in die eigene einzuschmuggeln. Von einem Kampf mit Frauen und für ihre Freiheit, ist eher einer gegen sie und ihre Selbstbestimmung geworden. Berücksichtig man allerdings die historische Realität, mag sich auch der Kampf gegen die Franzosen von dem innerhalb des algerischen weltlichen Staat in vielem deutlich unterscheiden. Frauen als Frauen hatten und haben jedoch in beiden Kriegen, so scheint es, letztlich nichts zu gewinnen.


V. Terror und Terrorismus in RACHIDA
Für Laura Chakravarty-Box ist halbwegs klar, was die Gewalttäter in RACHIDA antreibt:

„The film makes it clear that the terrorists it depicts cherish violence for its own sake. In the Algeria of Rachida, the mosque is a muted voice, and the terrorists are vicious youths who steal, rape, and murder indiscriminately, citing religion as their excuse. The film suggests several ways in which these youths have become what they are. For example, the primary pastime of the little village boys is identifying and trading ammunition shell casings“ (Chakravarty-Box 2011, S. 9/10).

Chancenlosigkeit, Armut, Langweile, eine Ehr- und Männerkultur, all das kann man aus dem Film heraus- oder in ihn hineinlesen. RACHIDA aber selbst hält sich betont zurück. Das ist schade, denn so wird die Gewalt leicht zu einer Art Naturgewalt. Zugleich ist der Film nur konsequent in seiner Verweigerung, der ein dezidierter, moralischer Standpunkt zugrunde liegt:

Vor allem zu Beginn des Terrors wurde, sobald jemand umgebracht worden war, schon bald von Gründen gesprochen, die vielleicht zu dem Mord geführt hätten. Dies empfand ich fast schon als Entschuldigung für den Mörder und als Beschuldigung des Opfers. Und was die Gründe für die Gewalt angeht, so finden sich Gründe für das Blutvergießen, die im Film auch unterschwellig erkennbar werden. Aber ich habe nicht den ‘Schlüssel’, um diese Barbarei zu verstehen. Ich kann sie nicht verstehen und ich will sie auch nicht verstehen! Denn wenn ich versuchte, sie zu verstehen, versuchte ich damit auch schon, sie zu rechtfertigen. Aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Es gibt keine Umstände, die zu beachten sind, wenn sich jemand entschließt, einen Menschen zu töten“ (Bachir-Chouikh zit. n. Wolpert 2004).

Ob Verstehen automatisch gleichbedeutend mit Rechtfertigen ist, ist freilich sehr rigoros und darf bezweifelt werden. Außerdem werden gerade so allzu eilfertige und simple Schlüsse befördert. Denn insbesondere das Patriachat bedeutet hier auf kultureller und sozialer Ebene eine zusätzliche Bedrückung für Frauen in Algerien, und oft ergänzt es den Schrecken und Repression der Terrorgewalt, doch beide sind nicht gleichzusetzen oder auf einen gemeinsamen Kern zurückzuführen. Die Ehre und Herrschaft des Vaters, die Beschützerrolle des Ehemanns oder Verlobten wird vielmehr selbst zunm Ziel, gedemütigt und attackiert. Was Frauen freilich nur noch mehr zum bloßen Unterpfand, zum Bauernopfer und zur Verfügungmasse degradiert. Letztlich aber, und das nimmt den Islam als eine ansonsten oft gehandelte Religion unter Gewaltverdacht wohltuend heraus, werden die Schüsse und Bomben nicht auf Sitten- und Glaubensfragen rückgeführt. Wie einfach das hier geht, ohne dass ein liebgewonnenes Erklärungsmodell fehlen würde, erstaunt und regt zum Nachdenken an. Auch Rachida gerät in Algier nicht wegen ihres liberalen Auftretens ins Visier der Extremisten, sondern in erster Linie aus taktischen Gründen – um die Bombe in die Schule zu tragen. Das Perfide dieses Plans allerdings provoziert an sich schon die Frage nach dem Warum umso mehr, und sei es nur, um die kranke Strategie dahinter eben restlos und endgültig als das von sich zu weisen, was es ist: barbarisch.

Indem Bachir-Chouikh die Bedingungen nicht ausblendet, sich aber ihnen auch nicht weiter annimmt (oder zumindest kein Interesse daran bekundet), belässt sie es bei einer (An-)Klage von Verhältnissen, hinsichtlich deren Veränderung sich außer pauschale Gewaltablehnung, der Apell ans abstrakt Zivilisatorische und Menschliche oder (im Film nicht ausgesprochen, aber immer mit zu bedenken, zumal aufgrund dem Fehlen jedweder aktiv schützender Staatsmacht:) einer autoritäre antiterroristische Kampagne der Härte, keine Lösungs- oder Zukunftsperspektive auftut. Das Heilende und Symbolische des Weiblichen und Mütterlichen allein, das RACHIDA immer wieder inszeniert, wie die Schleier, die die Frauen der gerade aus dem Wald zurück ins Dorf vor ihren Peinigern geflohene Zohra zum Bedecken stiften, scheint zu wenig.

Dass sich vor diesem Hintergrund die Grenzen zwischen Terror und Terrorismus auflösen, macht den Film bemerkenswert, wenn auch die Gründe hinter diesem Auflösen simpel geraten. Terror bezeichnet die Schreckensgewalt von „oben“, zur Festigung oder Durchsetzung bestehender Vormacht, Terrorismus die Provokationsgewalt von „unten“ gegen eine solche (weitgehend staatliche) Herrschaft. In der Hauptstadt Algier agieren die jungen Radikalen noch aus dem Untergrund heraus, die Banditen auf dem Land hingegen haben sich als Terrorherrscher etabliert, kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, und sie können das, weil kein gleichwertige bewaffnete Handlungsmacht sich ihnen in den Weg stellt. Warum eben das Militär oder die Polizei keine oder nur eine reaktive, stets verspätete Rolle spielen, ob aus Gleichgültigkeit, einer perfiden Strategie wegen oder aufgrund von Überforderung, greift RACHIDA schlussendlich auch nicht auf.

Zwischen dem urbanen und dem ruralen Algerien mag damit insofern keine Grenze bestehen, als hier wie da Brutalität, Willkür und Furcht zu finden ist. Doch macht es in Erscheinung und Herausforderungen wie auch in der psychologischen und symbolischen Wirkung durchaus einen Unterschied, wo und welcher Art die Gewalt ist, wie sie auftritt und welche zivilen, auch sozialen, Ressourcen und Ordnungsstrukturen ihr gegenüberstehen. In Algier stammen die Gewalttäter aus der Mitte der Gemeinschaft. Ins Dorf hingegen dringen sie quasi von außen ein, werden damit zu Fremden. RACHIDA mag sich vielleicht bewusst einer Antwort versperren, woher sie hier wie da gekommen sind, dass die Räuber-Terroristen aber ehemalige Schüler Rachidas sind oder sein könnten, lässt der Film einen schlussendlich nicht glauben.


VI. Zur aktuellen Lage in Algerien
2006 schrieb Abdelkader Cheref:
‚Critical Oppositional Women‘ like (die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin – B.Z.) Salima Ghezali and (die Führerin der Arbeiterpartei, Frauenrechtsaktivistin und erste algerische Präsidentschaftskandidatin – B.Z.) Louisa Hanoune and ‚Functional Women Activists‘ like (die Feministin und algerische Kultur- und Kommunikationsministerin – B.Z.) Khalida Messaoudi are viewed by all political players as the symbols of Algeria as a nation – a nation with a schizophrenic identity.
Yet women are organizing in informal social and political associations, looking to their past roles in the revolution for inspiration. But they are not getting any support from traditionalist men and women, and the Algerian government is far more concerned with maintaining its absolute rule rather than economic and sociopolitical progress for all
“ (Cheref 2006, S. 80).

Auch 2011 engagierten sich Frauen bei den Demonstrationen im Zuge des „Arabischen Frühlings“, der, von Tunesien ausgehend, so viele Länder erreichte – darunter auch Algerien. Die dortigen Proteste gegen die ständig steigenden Preise oder die ökonomische Perspektivlosigkeit (ein Drittel der Algerier ist arbeitslos, 70 Prozent unter 30 Jahre alt) wurden durch das harte Vorgehen des Militärs klein gehalten. Eine zentrale Forderung erfüllte die Regierung jedoch: die Aufhebung des seit neunzehn Jahren (also seit 1992) geltenden Ausnahmezustands und der entsprechenden Notstandsgesetze – wobei dies, so Adlène Meddi, Chefredakteur der algerischen Wochenzeitung El Watan Vendredi, lediglich ein Propagandatrick der Regierung sei.

Der größte Unterschied zwischen den soziokulturellen Bewegungen in Algerien und in den anderen arabischen Ländern ist, daß die Algerier traumatisiert sind vom brutalen Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten in den 90er Jahren. […] Algerien ist ein Pulverfaß, daß jederzeit explodieren kann“ (Meddi zit. nach Lejeune 2011).

Was dabei mit den Frauen in der algerischen Gesellschaft wird, welche Rolle ihnen (wieder) zukommt und ob ihre Freiheitsrechte und Gleichberechtigung einmal mehr von taktischem Wert sind, um hinterher wieder vergessen zu werden?

Wir werden sehen.


Bernd Zywietz


Literatur:

Chakravarty Box, Laura (2011): The North African Educator-Heroine on Film: Yamina Bachir-Chouikh’s Rachida. In: International Journal for Arab Studies, 2. Jg., Nr. 1, S. 1-21. Online unter: http://www.ijasjournal.com/PDF/Article_1_I2.pdf (letzter Zugriff: 30.09.2011)

Charrad, Mounira M. (2001)
: States and Women’s Rights: The Making of Postcolonial Tunisia, Algeria, and Marocco. Berkeley, CA: University of California Press.

Cheref, Abdelkader (2006): Engendering or Endangering Politics in Algeria? Salima Ghezali, Louisa Hanoune and Khalida Messaoudi. In: Journal of Middle East Women’s Studies, 2. Jg., Nr. 2, S. 60-85.

Kempis, Stefan (2011): Algerien: Das Gesicht der Revolution ist weiblich. Radio Vatikan, 24.02.2011. Online unter: http://www.radiovaticana.org/TED/articolo.asp?c=464927 (letzter Zugriff 30.09.2011).

Lejeune, Martin (2011): „Es ist ein Propagandatrick der Regierung“ . Durch die Aufhebung des Ausnahmezustands in Algerien hat sich die Lage kaum gebessert. Gespräch mit Adlène Meddi. (Aus: Junge Welt, 3. März 2011) AG Friedensforschung, online unter: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Algerien/ausnahme.html (letzter Zugriff: 30.09.2011).

Semouri, Abida (2011): Verhüllen in der Öffentlichkeit. 48 Jahre Unabhängigkeit haben algerischen Frauen kaum Freiheiten gebracht. (Aus: Neues Deutschland, 8. März 2011) AG Friedensforschung, online unter: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Algerien/frauen.html (letzter Zugriff: 30.09.2011).

Wolpert, Bernd (2004)
: „Ich habe nicht den Schlüssel, um diese Barbarei zu verstehen“
Yamina Bachir Chouikh (Regisseurin von "Rachida") im Gespräch mit Bernd Wolpert (EZEF). In: Zeitschrift Entwicklungspolitik, 4 / 2004. Online unter: http://www.gep.de/ezef/index_303.htm (letzter Zugriff: 30.09.2011)

Zywietz, Bernd (2012)
: Men in Troubles – IRA-Männer und Männlichkeit in Filmen zum Nordirlandkonflikt. In: Sylvia Schraut (Hg.): Terrorismus – Geschlecht – Erinnerung. Münster: LIT.

DVD: "Deep End" - Liebeswahn im Swinging London

Ein junger Mann, eine junge Frau und die Wirrungen der Liebe: In seiner ersten Arbeitswoche als Wärter in der öffentlichen Badeanstalt muss sich der 17jährige Mike gleich von einer blondierten Wuchtbrumme sexuell bedrängen lassen, gespielt von der früheren Sexbombe Diana Dors. Mikes Kollegin: Das ist Jane Asher, im wirklichen Leben kurz zuvor von Paul McCartney getrennt. Sie ist die verführerische, verwirrende, freche Kollegin Susan, in die sich Mike zunächst nur ein bisschen verliebt – und die ihn dann ganz verrückt macht. Sie hat einen Verlobten, sie hat zudem einen Liebhaber: ausgerechnet Mikes früheren Sportlehrer. Mehr und mehr verliert er sich in Obsessionen, folgt ihr in einen Club nach Soho, isst eine Menge Hot Dogs während des Beschattens und erobert sich das lebensgroße Plakat einer Stripperin – sieht die nicht aus wie Susan?

Jerzy Skolimowski verbindet diese Geschichte pubertären Liebeswahns mit einer großen Portion Komik, die nicht zuletzt auf den Improvisationen der spielfreudigen Darsteller während turbulenter Kabbeleien und frech-verliebten gegenseitigen Neckereien beruht. Dazu gibt es eine großartige Film im Film-Parodie auf deutsche Sex-Aufklärungsfilme und den Trick, wie man einen verlorenen Diamanten im Schnee wiederfindet.
Auf dem Soundtrack singt Cat Stevens „But I Might Die Tonight“, und die Krautrockband Can liefert einen fantastischen Jam: diese Musik, die Leichtigkeit der Inszenierung und das Eintauchen in jugendliches Lebensgefühl erzeugen das Zeitgeist-Feeling des niedergehenden Swinging London.

Dabei wurde der Film zu großen Teilen in München gedreht, und diese Drehorte sind ein Schwerpunkt in Robert Fischers hervorragender, 75minütiger Dokumentation über „Deep End“. Dazu versammelt er fast alle damals Beteiligten für Interviews, in denen sie durchaus unterschiedliche, subjektive Eindrücke zum Film und zu den Charakteren offerieren. In einer weiteren Featurette stellt Fischer anhand von Erinnerungen und Drehbuchausschnitten geschnittene Szenen vor, die nicht mehr erhalten sind. Darunter auch ein erweitertes Ende, das den Film vielleicht weniger abrupt, aber nicht weniger bestürzend und sicherlich weniger durchschlagend hätte ausklingen lassen.

Harald Mühlbeyer


"Deep End". GB/BRD 1970. Regie: Jerzy Skolimowski. Extras: "Startin Out - Making of Deep End" (75 Minuten), Deleted Scenes-Featurette, Trailer. Länge: 89 Minuten. Anbieter: Koch Media.


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26. Mannheimer Filmsymposium: Wo steckt der Regisseur in seinem Film?

Was ist der Regisseur? Befragt wird nicht seine Tätigkeit, sondern seine Funktion an sich, seine Stellung im Rahmen des Films als Kunstwerk – sein Status als Gegenüber des Zuschauers, als virtueller, erzählender Ansprechpartner beim Betrachten eines Films. Wie drückt sich der Regisseur in seinem Film aus, wie kann er sich ausdrücken? Ist er der Autor des Kunstwerkes? Wie bringt er sich ein in der kollektiven Arbeit einer Filmproduktion, zwischen Drehbuchautor, Kameramann, Produzent, Ausstatter und, sagen wir, Kabelträger? Im Mittelpunkt des 26. Mannheimer Filmsymposiums im Cinema Quadrat (14. bis 16. Oktober 2011) standen diese und ähnliche Fragen – kurz: das Thema der „Regiehandschriften zwischen Genre, Stil und Handwerk“, so der Titel des Symposiums.

In bewährter Manier boten Vorträge, Werkstattberichte und Diskussionsrunden, verbunden mit fünf Filmvorführungen, einen breiten Überblick über die Thematik – und viele Einblicke in einzelne Aspekte der Fragestellung. Dass die jeweiligen Beiträge nicht nur einfach für sich stehen blieben, sondern stets in den Gesamtkontext der Veranstaltung eingebunden waren, ist ein Verdienst der klugen Organisation wie auch der Referenten, die aufeinander eingingen, sich mit den anderen auseinandersetzten und für Fragen aus und Gespräche mit dem Publikum stets offen waren.

Einzelne Regisseure wurden gewürdigt: Ralf Michael Fischer, Kunsthistoriker, spürte den Themen und Motiven im Werk von Anthony Mann nach, indem er Biographisches und Werkgeschichtliches referierte. Gerhard Midding, Filmkritiker, stellte das Œuvre von Nicholas Ray in den Kontext der Rezeption und der überschwänglichen Resonanz, die dessen Filme in der französischen Filmkritik der „Cahiers de Cinema“ erfuhren. Jennifer Borrmann, Filmwissenschaftlerin, untersuchte Fatih Akins Filme nach Gemeinsamkeiten, was Sprache und Religion, Politik und Musik angeht. Und erklärte dabei, dass sich Akin dagegen wehrt, als Autorenfilmer gesehen zu werden. Allein diese Vorträge von theoretisch-betrachtender Seite waren geeignet, den Regisseur als solchen im Spannungsfeld von Wollen und Dürfen, von Anspruch und Bedingungen, von Kunst und Kommerz zu zeigen – und seinen Umgang mit den Zwängen, die ihm auferlegt, mit den Beschränkungen, die ihm von produktionstechnischer – zum Beispiel im US-Studiosystem –, finanzieller, logistischer, genrekonventioneller Seite aufgebürdet waren. Wie sich der Regisseur entfalten kann in einem System, an dem er sich reiben muss: Das war letztlich der Kern der Diskussionen, dem sich die Referenten und die Zuhörer an diesem Wochenende annäherten.

Er sei ein Autorenverfilmer, kein Autorenfilmer, erklärte Dominik Graf – er werde sich immer bemühen, die Ideen seiner Autoren getreulich umzusetzen. Die Verpflichtung: „Wenigstens der Autor soll sagen: genauso hab ich’s mir vorgestellt.“ Das ist einerseits ein klares Bekenntnis zu Handwerklichkeit, zum Einsetzen des eigenen Talentes im Rahmen kollektiver Kreativität – und ist andererseits natürlich ein kokettes Sichkleinmachen, ein Spiel mit der eigenen Bescheidenheit. Denn Graf weiß ganz genau, dass er einen eigenen Stil hat, der eine gewisse Wahrhaftigkeit in seine Filme hineinbringt – Seitenblicke auf kleine Details etwa, oder das Übereinanderstülpen vieler kleiner Tätigkeiten im Rahmen einer größeren Mission: Die Details des Büroalltags inmitten hektischer Ermittlungsarbeiten seien ihm die liebsten Szenen, wenn es ums Inszenieren von Polizeikrimis geht… Und Graf weiß, dass er einen Ruf hat bei den Fernsehanstalten, dass sie genau wissen, was sie wollen, wenn sie einen Dominik-Graf-Film bestellen – auch von den Themen und Motiven her, die Graf interessieren: Spannende Szenen, spannende Plots und nicht irgendeine humanistische Botschaft interessierten ihn, betonte Graf in seinem Werkstattbericht über seinen Film „Der Skorpion“ von 1997 – ein meisterhafter Thriller, der Vater-Sohn-Geschichte, eine abgründige Liebesstory und Serienkillerkrimi zugleich ist. Im Übrigen sind Graf die Reibungen, die sich an den zeitlichen und finanziellen Grenzen ergeben, die ihm von Produktionsgesellschaften und Fernsehanstalten vorgegeben werden, wichtig: Innerhalb bestimmter Schranken sich zu entfalten kann die inszenatorische Kreativität um das entscheidende Maß befeuern.

Wie verhält es sich, wenn den Filmemachern freie Hand gegeben wird? Dirk Wilutzky hat 13 Filmemacher versammelt, die ohne Einschränkungen filmen konnte, was ihnen zur Lage der Nation einfiel: „Deutschland 09“ ist ein Experiment, das insgesamt wunderbar gelungen ist. Und das bei Teilen der Kritik in Ungnade gefallen und an der Kinokasse mit lediglich 29.000 Zuschauern durchgefallen ist. Die Namen der beteiligten Regisseure sind zugkräftig: u.a. Graf, Tykwer, Levy, Akin, Wolfgang Becker, das Konzept interessant – 13 unabhängige Kurzfilme, geeint in der Thematik, sich mit dem aktuellen Status von Deutschland auseinanderzusetzen –, und der Unterhaltungswert des Films ist hoch – auf eine schwächere Episode werden sicherlich mehrere stärkere folgen. Interessant ist, wie die Filmemacher mit der Freiheit umgehen, die ihnen der Produzent bei diesem Projekt zugestand: von kleinen, gar minimalistischen essayistischen Aberçus bis zur größer angelegten phantastisch-satirischen Story ist alles dabei. Der freien Entfaltung des Autorenfilms stand nichts entgegen – doch ist dieser Begriff ohnehin so unscharf, so weit gefasst, dass immer wieder in Frage gestellt wurde, wer und was damit verbunden werden kann.

Ist Brigitte Bertele eine Autorenfilmerin? Bisher hat sie zwei Langspielfilme gedreht, und tatsächlich sind in den Geschichten um einen Afghanistanheimkehrer in „Nacht vor Augen“ (2008) und um ein Vergewaltigungsopfer in „Der Brand“ (2011) thematische Gemeinsamkeiten – die Verarbeitung eines Traumas etwa, oder die Ignoranz des Umfeldes – gegeben. Die aber auch damit zusammenhängen können, dass beide Filme mit Johanna Stuttmann dieselbe Drehbuchautorin aufweisen…
Bertele jedenfalls hat sich inszenatorisch in ihren beiden Spielfilmen immerhin gesteigert – „Nacht vor Augen“, der beim Symposium gezeigt wurde, leidet an allzu vielen Offensichtlichkeiten, an gewissen Unbeholfenheiten in Dramaturgie (die Rückblenden!) und Psychologie (ausgestellte Ignoranz, Naivität, Gleichgültigkeit bei Eltern, Kumpels, Geliebter) sowie an fehlendem Einfühlungsvermögen in die Figuren. Andererseits war dieser Film – und Berteles Werkstattbericht – ein prägnantes Beispiel für die Anfänge einer Regiekarriere. Bertele plauderte aus dem Nähkästchen der Filmhochschulen, der Ausbildung, der ersten Schritte auf dem Markt.

Inwiefern Filmhochschulen die Eigenständigkeit ihrer Regieabsolventen fördern, wie originell die Jungfilmer sein dürfen, sein sollen, sein müssen, um einerseits auf sich aufmerksam zu machen, um andererseits aber auch in die Muster von Fernsehen und Mainstreamkino zu passen, wieweit eine eigene Handschrift des Filmemachens hilfreich ist, um sich als Filmhochschulabsolvent gegen hunderte Mitbewerber im Gerangel um Filmaufträge durchzusetzen – das ist im Grunde dieselbe Frage wie die nach den Eigenheiten von Hollywoodregisseuren im restriktiven Studiosystem vor einem halben Jahrhundert; nur anders gewendet, anders gestellt in einem heutigen, zwar freieren, aber auch selbstverantwortlicheren und durchökonomisierteren System der Filmproduktion. Antworten konnten natürlich auf dem Symposium keine gegeben, nur Ansichten und Einsichten ausgetauscht, Debatten geführt und Einzel- und Gesamtaspekte durchdiskutiert werden.

Doch wie sehr sich die Gespräche an den Kern der Fragestellung annäherten, zeigt sich auch daran, dass das Grundsätzliche – spielerisch – in Frage gestellt werden konnte: Denn was genau suchen wir eigentlich, wenn wir dem Geist des Regisseurs, der vielleicht durch seinen Film weht, auf der Spur sind: Ist es tatsächlich seine Handschrift, eine Metapher, die bei genauem Hinsehen und tieferem Nachdenken doch ins Stolpern gerät? Und welche Perspektiven auf denselben Gegenstand ergäben sich, wenn man ihn umschreiben würde mit Weltsicht, inszenatorischem Zugriff, Persönlichkeit? Mit Stimme, Weltsicht oder Seele gar?

Harald Mühlbeyer

FILMZ des Monats: "Nosferatu - Phantom der Nacht"

Werner Herzog und Klaus Kinski - diesmal nicht im Herz der Finsternis des Dschungels, sondern mitten im Herz des Bösen. Kinski als Nosferatu - eine grandiose Rolle, zumal Herzog in seiner Hommage an Murnaus Symphonie des Grauens von 1922 weiter geht als das Vorbild - das an sich schon weit besser war als der Lugosi-Dracula neun Jahre später... (wobei er auch die Tod Browningsche Version gerne zitiert - freilich niemals postmodern-augenzwinkernd, sondern, um aus dem Besten der Filmgeschichte den ultimativen Vampirfilm zu drehen.)

FILMZ zeigt Herzogs Horror-Stück "Nosferatu - Phantom der Nacht" am 2. November 2011, wenige Wochen vor Beginn des Festivals des deutschen Kinos in Mainz, um 20 Uhr im Residenz & Prinzess Filmtheater; in dem zudem Isabelle Adjani als femme fragile das Grauen erwartet; und sogar Bruno Ganz ist top, weil er nicht wie in all seinen Rollen der letzten Jahre überspielt - liegt vielleicht am Blutverlust im Lauf der Handlung...

Bruno Ganz als Jonathan Harker reist nach Transsilvanien, um den Grafen Dracula einen Immobilienkaufvertrag zu verhandeln. Als der das Medaillon mit dem Bildnis von Jonathans Verlobten in die fingernageligen Krallen bekommt, ist der Deal gegessen. Am nächsten Morgen bemerkt Jonathan merkwürdige Einstiche im Hals, der Graf lädt Särge auf einen Wagen, und Jonathan, von Fieber geschwächt, ahnt Schlimmes. Dracula, der Nosferatu, reist auf einem Totenschiff nach Wismar, und er hat die Pest an Bord...

Kinski ist der unheimliche, böse, todtraurige, verfluchte Vampir par excellence - im Übrigen kann man mal mitzählen, wie oft Kinski im Lauf des Films blinzelt. Die richtige Lösung einschicken und abwarten!


FILMZ des Monats zeigt monatlich Klassiker des deutschen Kinos der letzten Jahrzehnte, um die Vorfreude zu steigern auf die neuen deutschen Filme, die bei FILMZ - Das Festival des deutschen Kinos Ende November laufen.

Harald Mühlbeyer

Das wilde Off/short-Festival: Einfach kommen, einfach screenen

Der Spätsommer drehte über Europa noch einmal alle Regler von Wärme und Farbigkeit ungeahnt weit auf. Nur weit im Westen Frankreichs, an der Manschette des Ärmelkanals, sind die Farben pastos. Flache grüne Schafswiesen, Meer und Kieselstrand gehen hier eine ungeahnte Verbindung von atlantischer Kargheit und kontinentaler Milde ein.
Cayeux-sur-mer ist eine pittoreske, kleine Küstenstadt, die ihre Authentizität mit nur minimalen touristischen Lockdrogen versieht, wie etwa dem nüchternen Casino. Nur einen rollenden Kiesel vom Meer gelegen, weidete hier auf einer grünen Wiese vom 23. bis 25. September ein kleines, feines Filmfestival namens Off/short. Es erstrahlte unter dem breiten Lachen der Sonne bereits zum 5. Mal in seinem bescheidenen Charme des unglamourös Einzigartigen,. Dort, gerade so über der Flutmarke, gab es kuriose Kurzfilme, Performances, Kino-Konzerte und Ateliers zu finden. Das Off/short will "tout sauf un festival" – alles andere als ein Festival - sein, und es ist in der Tat ein Außergewöhnliches.

Dies liegt bereits im Konzept der kostenlosen, werbefreien Veranstaltung verankert, denn hier kann jeder kommen und screenen. Es gibt, nach Angaben der Organisatoren, auch keine Selektion der Filme und anderen Vorführungen, also keinerlei Ausschlussverfahren. Jeder Aussteller, "Envahisseur" (etwa: "Invader", "Eindringling") genannt, muss desweiteren für sein Vorführ-Etablissement selbst sorgen, und sei es das eigene Camping-Zelt. Und dieses Konzept geht auf, spätestens wenn die Sonne untergeht und den Projektoren endlich die Lichtstärke und Farben übergibt.
Denn nachts schimmern hier die selbstentworfenen Spiegel aus erdachten Strukturen, es ist eine Szenerie von Projektionslichtern und Klanggewirr, die definitiv sehr gut ohne rote Teppiche, Galas, Stars, Glitter, Blitzlicht, überlangen Limos und gar ohne zentralen Kinosaal auskommt. So ist das Off/short ein audiovisuelles Fest zwischen filmenden Machern und projizierenden Rezipienten, die hier, im Gespräch um das Gesehene, den Bogen zu den Ideen dahinter schlagen und sich darüber austauschen können.
Ein bunter kleiner Zirkus der privaten Medienfreiheit und -reflexion also, der konservierten Geister in beleuchteten Gläsern, und das in vielen Facetten. Der Fokus liegt hier, in guter französischer Avantgarde-Tradition, stark auf der Qualität der Narration und weniger auf technokratisch-ästhetischer Perfektion. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier keine cineastischen Bilder zu sehen sind.

Während man dem Off/short-Gelände näher kommt, entrollt sich vor den staunenden Augen eine innere Weltausstellung individueller Geschichten, eine Werksschau innerer Befindlichkeiten. Tagsüber eine Art frankoeuropäisches Campingtreffen mediensozialisierter Generationen der 70er bis 90er Jahre, mit schnatterndem Fernseher auf der Wiese, überblendet die Dämmerung den Schauplatz hin zu der Verquickung eines Friedhofes der Träume in leuchtenden Grabkerzen mit einer minimalistisch-experimentellen Mission auf dem Meeresboden.Um eine Kubrick-futuristische Basisstation namens "le Dome" herum flackern aus 33 kleinen Palästen und dunklen Höhlen mal geborgene Schätze, mal entziehen sich die sich zierenden Geheimnisse. Diese kleinen, illuminierten Privatprojektionsstätten leuchten und irrlichtern auf dem Weg über das Gelände, um ihn zu erleichtern, zu erschweren, aber meist zu bereichern: Alors, profitéz-en!

Hier liegt es nun vor einem, das Spiel bunten Projektor-Lichtes im Dunkeln; und es liegt wie bei nur wenigen Film-Erlebnissen im Auge des Betrachters, was sich denn erschließt, und ob und wie er es genießt: Live-VJing privater Party-Aufnahmen, auch mal zur Selbstbedienung per Kinderkeyboard, lockt bei "Les culottes chaudes" frivol, hinter Wäscheleinen voll bunter Höschen. Filmtheater des Absurden von "Les Bombes Akomik" tanzt auf der medialen Wüste eines abgeernteten Feldes. Ein Hochdachkombi-an-Hochdachkombi-Kino namens "Nous sommes tous de passage" (etwa:"Wir sind alle im Vorübergehen") beherbergt wildes TV-Sampling des Institute National des Archives. In liebevoll handgemachten Interieurs mit dem holzigen Geruch alter Zeiten, den "roulottes", oft ehemalige Zirkuswagen oder umgebaute Reisebusse, laufen meist story-intensive Kurzfilme, von Jedermann-Qualität bis Weltklasse; und die Vorführer lieben ihre Ansagen.

Zu Geschichten geflochtene Zusammenschnitte aufgefundener Privataufnahmen aus der Zeit, als Hochzeiten noch mit Filmkameras verewigt wurden, wie auch Live-Filmmusik mit Cello und Glockenspiel schillern im Perlenglanz vergangener Zeiten. An einem Stand werden gerade spontan Szenen gedreht, á la KinoKabaret. Diverse Film-Studenten umgarnen die Betrachter mit aktuellen Visuals, Experimenten und Semesterarbeiten. Bei "Cinéma Numerique Ambulante" wird das Video-Fada-Projekt an die Bildfläche gehoben, bei dem in einigen Ländern Afrikas, auf den Straßen, von jedermann der dort Anwesenden, die Storys gesucht werden können – der an diesem Projekt beteiligte Boris Bado ist kürzlich in Burkina Faso aus ungeklärten Ursachen gestorben.

Um das Verschwinden und das Verbinden in verschiedenen Variationen drehten sich einige der gezeigten Filme, wie etwa “untitled stories” (Norwegen 2007) der Regisseurin Margarida Paiva. Die Videoarbeit zeigt verlassene Lebensräume, während eine junge, halb abwesende Frauenstimme aus dem Off Geschichten voller Verzweiflung erzählt. Sie bricht dabei immer wieder ab. Sie erzählt weiter, wie sie Geräusche aus allen Zimmern ihres Hauses zur selben Zeit vernimmt, und sich, an einem unbekannten Ort, fühlt, als sei sie schon immer dort gewesen. Schließlich löst sie sich durch ihre Erzählung auf. Jeffrey Schers "Milk of Amnesia" (USA 1992), eine raffinierte Experimental-Animation, in einem unglaublich aufwendigen Prozess von Hand erstellt, ist nichts für Epileptiker. Frameweise wechselnde, abphotographierte Graphiken und Gemälde, in filmischer Frequenz abgeschossen, werden zu kaleidoskopischen Bildern und scheinen die Figuren zu einem Erzählinhalt zu verbinden: Eine Frau, ein Mann, Tiere, palimpsestische Werbebotschaften. Die Story wird, unter neuronalen Blitzen, die vielleicht wirklich bis ins Unbewusste reichen, vom Betrachter wesentlich mitgestaltet. Zu Tango führt sie, schwirrend wie ein Kolibri, durch den gezeichneten Stadtdschungel und endet in jedem Fall bei einem Liebespaar.

Auch außergewöhnliche Ausstellungen von Ateliers, etwa die Torsos aus Computerteilen von "Le Callimaque & Family", ziehen in Bann, ebenso wie die Jongleure des "Le Maison qui Bouge", die, wie die mobilen Kino-Vehikel, auch das restliche Jahr durch Frankreich reisen, um der Medienlandschaft kleine Freuden und etwas Reflektion entgegenzusetzen. Aber es gibt noch weit mehr, das bei den Betrachtern Reaktionen auslöst, etwa die Maskenbildner des "Atelier Maquillage-FX", an deren Zelten diverse Körperteile hängen, die nichts von ihrer plastikfleischlichen Kunstfertigkeit verbergen wollen - welche sogar die Wespen täuscht.
Die Ohren vernehmen bei all dem eine komplexe Klangcollage unter anderem aus trocken-klirrenden Rufen von Fahrradklingeln, streitenden Paare, ein mickeymousendem Honky Tonk-Piano, aufgedrehtem Kinderstimmengewirr, verloren fallenden und verhallenden Yann Tiersen-Klängen.

Der kleine Medienzirkus des Off/short lebte auch dieses Jahr wieder vom distanziert-intimen Flammenschein um die kühlen Medien-Feuer und den sich bildenden und lösenden winzigen Menschenkreise in seinem Inneren. Es geht um die Offenbarung eigener Erfahrungen und um den Umgang mit diesen, sofern die Macher anwesend: Und das sind in jedem Fall sowohl die Regisseure und Aussteller als auch die Betrachter. Der Zuschauer vor dem Bildschirm erkennt in einer freiwilligen Trance möglicherweise sich und seine Geister, so dass manchmal eine Art flüchtige Stammesvertrautheit mit der Gesamtheit der Anwesenden entsteht.
Und wer hier ist, auf dem Off/short-Un-Festival, muss es einfach: Träumen und Reflektieren, um aufzuleben. Hier und an den wenigen Orten, die in diesem Sinne hyper- und transmedial wirklich existieren, entsteht der Raum und die Perspektive, genau das zu tun. Es ist das temporäre Land der individuellen Träume, bei Tag wie bei Nacht. Ein Wochenend-Kontinuum de L`Image.

Als eine Art Medienkompetenzinitiative stellte auch die "Picardie en Ligne" ihre Arbeit vor, sie bieten Medienkurse in der Picardie an und stehen der Festivalorganisation nahe. Das Off/short wird im Auftrag des Département de la Somme und des Département de l´Oise organisiert: Das "Atelier 142" beschäftigt auch die Mitarbeiter, wobei vieles, etwa in der Küche, ehrenamtliche Arbeit bleibt.
Die Aussteller des Offshort kommen überwiegend aus dem Norden Frankreichs, es ist also systemfunktional eine Art Individiualmedienkulturfest der Verwaltung der Région, wobei zugleich ausdrücklich internationale Offenheit besteht. Und aus England, Belgien, der Hauptstadt oder Deutschland fanden sich auch einige Gäste ein.
Das vielleicht überraschenderweise durch Kulturpolitik entstandene, aber weitgehend sich selbst überlassene Geschehen ist also nur auf einer Meta-Ebene organisiert und beläßt den Ausstellenden und Besuchern weitgehenden Spielraum, den Inhalt des Wochenendes selbst zu gestalten. Tageszeitabhängig in unterschiedliche Blautöne gekleidete Gruppen von Polizisten durchkämmen jedoch stets das Gelände, ohne dass es je einen Zwischenfall gegeben hätte.

Das Jedermann-zu-Hause-Filmkünstler- und Seele-in-Einmachgläser-Konzept des Festivals erklärt sich vielleicht auch etwas durch französische Sozialkonventionen. Es ist eine Messe der Medien, man lebt auf im Lichte des Tages und der Vorführungszeit am Abend. Die Menschen machen also die vielen Gesichter des Off/short-Festivals, es gibt durch die Art der Organisation keine zentrale Figur, kein menschliches Trademark - kein Mitarbeiter des Organisationsteams vom letztem Jahr war zu sehen. Zudem sind Aussteller wie Besucher, deren bescheidene Zahl sich zeitweise deckt, größtenteils diejenigen, die die angestrandete Medienmission beleben.
Die Menschen geben den medialen Welten eine Plattform, sie sind selbst ein Interface, das soviel mehr ist als nur eine audiovisuelle Schnittstelle. Man trifft sich dort, möglicherweise mediaphysisch transzendiert, zu einem Festival der Gleichzeitigkeit und Omnipräsenz von verschiedensten menschlichen Bestrebungen, Zeiten und Orten. Das Off/short ist eine fabelhafte, nachtbunte Veranstaltung, voll originärer Arbeiten, jedoch nur zu verordneten Geschäftszeiten glühend, denn nachts geht der Strom aus und die Leute dann schlafen. In diesen ruhigen Stunden hört man im Zelt das Meer und kann dessen Verwandtschaft mit dem Rauschen eines leeren Fernsehers erkennen.

Andreas Michel