"Wir machen Musik" am 3. Juni in Wiesbaden

Gut: Helmut Käutners "Wir machen Musik" aus dem Jahr 1942 ist eigentlich schon ein anerkannter Klassiker und sicherlich der bekannteste Film der Reihe "Filmklassiker entdecken". Aber wann hat man ihn zuletzt gesehen? Wann hat man überhaupt in letzter Zeit mal Helmut Käutner, einen der besten deutschen Regisseure, angemessen gewürdigt? Richtig: letztes Jahr im April zu seinem 30. Todestag, auf 3Sat, wo ein paar seiner Filme mittags versendet wurden.
Da das jeder verpasst hat, bietet sich jetzt die Gelegenheit, zwei seiner Filme wiederzuentdecken:
Am Freitag, 3. Juni, läuft die pfiffige Musik-Ehekomödie "Wir machen Musik" um 18 Uhr im Wiesbadener Murnau-Filmtheater; am 8. Juli folgt dann "Romanze in Moll".
Harald Mühlbeyer wird die Vorführungen mit einer Einführung begleiten.


3. Juni 2011: Wir machen Musik (Regie: Helmut Käutner, 1942)

Viktor de Kowa hat sich der klassischen Musik verschrieben, muss aber zum Geldverdienen in einem Café Klavier spielen. Ilse Werner ist mit ihrer Damenkapelle begeisterte Schlagersängerin. Nun will er ihr bei Privatunterricht die „wahre“ Musik beibringen. Das gelingt zwar nicht, aber geheiratet wird trotzdem. Doch als sie beruflich erfolgreich ist und er mit seiner Opernkomposition durchfällt, scheint die Kluft zwischen E- und U-Musik allzu groß für dieses Liebespaar.

Helmut Käutner vermag wie kaum ein anderer seine Figuren zum Leben zu erwecken. So wird aus „Wir machen Musik“ viel mehr als das Musiklustspiel, das der bloße Inhalt mit seiner Gegenüberstellung von E- und U-Musik vermuten ließe. Mit großem Gespür gestaltet er seine Charaktere, die sich lieben und necken, und inszeniert eine Komödie, in der es nicht nur um Musik geht, sondern auch um Liebe und Ehe (und dem Unterschied zwischen beidem). Mit Sinn für Witz wie auch für die zeitgenössischen Befindlichkeiten des Kinopublikums inszeniert Käutner mit subtiler Subversion einen Film über Jazz und über Leidenschaft, flott, modern und – im wahrsten Sinne des Wortes – pfiffig.


Als letzter Film der "Filmklassiker entdecken!" Reihe läuft am 8. Juli:

"Romanze in Moll", Helmut Käutner 1943

SOURCE CODE: Ganz wunderbar verloren...


Ein Mann erwacht in einem Vorortzug Richtung Chicago. Wer die nette Dame (Michelle Monaghan) ihm gegenüber ist, weiß er nicht, auch nicht, warum sie ihn kennt, gerade in ein Gespräch mit ihm verwickelt ist. Ihn für jemanden anderen hält.

Jake Gyllenhaal spielt diesen verwirrten Mann, als wäre die Rolle für ihn gemacht, was allerdings auch heißt: er wird ihr - gezielt und beuwsst - nie gerecht, aber das ist ihr Konzept. Denn SOURCE CODE verschiebt die Ich-Ebenen, insbesondere die der Identität und des Bewusstseins der Hauptfigur, lässt sie sich selbst derart verloren gehen, dass nur ein perfekt unvollkommener Darsteller das meistern kann – einer wie Gyllenhaal eben, der immer noch zwischen DONNIE DARKO und JARHEADS, BROTHERS und ZODIAC, OCTOBER SKY und PRINCE OF PERSIA, LOVE AND OTHER DRUGS und BROKEBACK MOUNTAIN herumgeistert wie kaum ein anderer. Und der wie kaum ein anderer gut daran tut (siehe „hard-boiled“ Leonardo DiCaprio), nicht zuletzt weil wir so einen Anti-"Typen" gut gebrauchen können. Gyllenhaal ist der Mann, der nie ankommt zu sich selbst, und dabei fast einzigartig bleibt in Hollywood, trotz all seiner Drifters, Rebells etc. Was ihn so perfekt macht für SOURCE CODE.

Gyllenhaal spielt hier also Colter Stevens, der nicht einmal, sondern mehrmals in diesem Vorortzug aufwacht, um einen Terrorismusanschlag zu verhindern. Denn es gibt nicht nur eine Bombe - die, die den Zug zerreissen wird, zerissen hat, in dem Colter bzw. sein Alter Ego sitzt, saß, sitzen wird. Immer wieder wurde/wird Colter zurückgeschickt in der Zeit; und das Szenario erinnert an die TV-Serie – ach, ich komm nicht drauf – jene in der Mann eine Mann nur sieben Tage in der Zeit zurückschicken werden kann (ha!, „Seven Days“ heißt sie natürlich!).

Aber der unglücklich irreführend nach Computerthriller klingende SOURCE CODE ist nicht nur intellektuell, sondern auch emotional fordernder (oder zumindest reizender) und darüber hinaus ein erzählerisches gelungenes Experiment. Denn Colter muss nicht nur seinen Auftrag erfüllen, sondern auch herausfinden, was sein Auftrag ist, wie die Spielregeln aussehen – und wie es um ihn in der wie auch immer gearteten echten, wirklichen Realität steht.



Es ist ein doppeltes Kammerspiel, das Duncan Jones hier inszeniert, und wer wäre geeigneter dafür als der MOON-Regisseur? SOURCE CODE, der einen ganz schön fordern kann, wenn es um die Logik geht (und der sich das eine oder andere Plothole dabei durchaus leisten kann), spielt vor allen in zwei Räumen: dem Zug und der Kapsel, in der Colter liegt, bzw., noch zusätzlich oder in Ergänzung zur zweiten Kammer, in einer Kommandozentrale, wo Vera „Those Eyes!“ Faminga zwischen gestrengen und mitleidigem Offizier pendelnd für ihn zuständig ist, ihn anspornen, anleiten und beruhigen muss. Famingas Job ist es vor allem, in einem Art Webcam zu spielen und das macht sie toll.

Auf der anderen „Seite“ wiederum wartet die adrette Michelle Monaghan als Menschenkind (eine Routine-Rolle, nicht besser oder schlechter ausgefüllt als in EAGLE EYE). Sie eigentlich eine Immer-schon-Tote (weshalb sie vielleicht so "uninteressant" bleibt), eine unbewusst Ausgelieferte in einer Zeit, die zwar nicht für sie, aber für Colter zur Disposition steht. Und gerade hierin liegt das so wunderbar konstruierte Drama: das Ineinander-Gestaffelte des Rollenhaften, das Leben in einem vorherbestimmten oder aber sinnbelegten Spiel.

SOURCE CODE ist bei aller Cleverness und Bombenplot-Spannung ein rührend trauriges und darin ungemein existentialistische Tragödie. Eine, in der der Held der einen Welt nur das humane Wrack einer anderen ist.

Nur noch etwas zum Schluss. Der wurde in diversen Kommentaren – der Film startete in den USA schon vor einem Weilchen – gescholten. Zu Recht, auf der einen Seite. Auf der anderen erlaubt sich SOURCE CODE (ob aufgrund der Entscheidung des Autors, der Regisseurs und Produzenten oder in Folge eines Test-Screenings) einen Schluss, der nicht völlig absurd, aber auch nicht sonderlich konsequent ist – was den durchwebten, pessimistischen Ton betrifft. Gleichwohl funktioniert er wunderbar und adelt den Film mindestens ebenso wie das Platzpatronen-Wunder in L.A. CRASH.



Mehr noch, das Ende eröffnet eine weitere philosophische Ebene, und es ist eine große sympathische Geste, diesen sehr konsequenten, klugen und spannenden Film ein kleines Bisschen weniger konsequent und klug und düster sein zu lassen, wenn man es für die Hauptfigur, die hier durchaus viel durch- und mitzumachen hat, dran gibt. Man gönnt es diesem Helden, und hey, dafür lieben wir doch das Kino, dass es nicht so ist wie das Leben und man damit erzählen kann, was man will. Das allein ist schon wieder etwas, dass SOURCE CODE so sehenswert macht, als Popcorn-Kino – nicht vom Rasantesten, nicht vom Größten, aber vom Feinsten.


Bernd Zywietz

Chaplins Gesamtwerk im Berliner Babylon Kino


Wer in Berlin wohnt hat es gut. Denn der kann zu Hause demnächst das hier miterleben:

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BERLIN – BABYLON #2 Das StummfilmLIVEfestival präsentiert: CHAPLIN COMPLETE
Zum ersten Mal wird das Gesamtwerk Chaplins in Berlin präsentiert: Anlässlich der 80. Wiederkehr seines Berlin-Besuchs im März 1931 zeigt BERLIN-BABYLON #2 Das StummfilmLIVEfestival alle 80 Filme des cineastischen Universalgenies.

In Zusammenarbeit mit dem renommierten Filmfestival IL CINEMA RITROVATO, Bologna, und der ASSOCIATION CHAPLIN, Paris, kommen im Babylon alle großen Filmklassiker Chaplins auf die Leinwand:

Die abendfüllenden Langfilme Chaplins mit der von ihm komponierten Originalmusik werden in orchestraler Live-Begleitung aufgeführt. Begleitet von internationalen Stummfilmpianisten sind die Kurzfilme in 90-minütigen Programmen zu sehen. Ergänzt wird die Werkschau mit einem vielfältigen Begleitprogramm sowie einer Foyerausstellung zu Chaplins spektakulärem Berlin-Besuch. Als Ehrengast zur Festivaleröffnung wird Chaplin-Tochter und US-Schauspielerin
Geraldine Chaplin erwartet.

Mit achtzig Titeln aus den Jahren 1914 bis 1967 umfasst Chaplins OEvre ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte. Fast siebzig Kurzfilme, bei denen er ab 1914 auch Regie führt, darunter THE VAGABOND, EASY STREET und THE IMMIGRANT, entstehen in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Anfang der 20er Jahre werden Chaplins Filme umfangreicher: Sein erster Langfilm THE KID wird ein Welterfolg und in über 50 Ländern vertrieben, gefolgt von abendfüllende Meisterwerke wie THE GOLDRUSH (1925) und THE CIRCUS (1928).

Obwohl Ende der 1920er Jahre der Tonfilm in den Kinos Einzug hält, bleibt Chaplin weiter dem Stummfilm verhaftet. 1931 dreht er CITY LIGHTS und 1936 MODERN TIMES, für den Chaplin selbst die Musik komponiert.

Am 9. März 1931 trifft Charlie Chaplin auf seiner Europa-Reise in Berlin ein, um für CITY LIGHTS zu werben. Eine riesige Menschenmenge empfängt ihn mit stürmischer Begeisterung und säumt die Straßen vom Bahnhof Friedrichstraße bis zum Pariser Platz, wo der Hollywood-Star im Hotel Adlon logiert: Mit CHAPLIN COMPLETE kehrt Charlie Chaplin nun für 24 Tage nach Berlin zurück.

Das Festival steht unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, die Patenschaft hat der international renommierte Regisseur Volker Schlöndorff übernommen. Das Festival wird ermöglicht durch die Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds.


BERLIN-BABYLON Das StummfilmLIVEfestival #2 CHAPLIN COMPLETE

Vom 15. Juli – 07. August 2011
im Babylon, Rosa-Luxemburg-Platz 30, 10178 Berlin

Kartenvorbestellung und weitere Informationen unter: www.babylonberlin.de

--- so jedenfalls die Pressemeldung. Auf der Babylon-Website ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts zum Festival zu finden (vielleicht JETZT, wo Sie das lesen, schon). Aber zu schauen, was das Babylon ansonsten bietet, lohnt sich sowieso. Auch wenn man sich dann noch mehr wünscht, in Berlin zu wohnen (oder zumindest ähnliche Angebote in der Stadt zu haben...)

"Mr. Nice" in Frankfurt - der echte Hasch-König besucht die Verfilmung seines Lebens

"Mr. Nice" ist sowas wie "Blow", nur mit Hasch statt Koks, England statt USA, Rhys Ifans statt Johnny Depp.

Bernard Rose hat die wahre Geschichte von Howard Marks verfilmt, der Großbritannien in den 80ern mit Cannabis versorgte; unter anderem unter dem Pseudonym "Mr. Nice".
Am 23. Juni um 20 Uhr stellt zum Bundesstart des Films ebendieser Howard Marks persönlich den Film in den Frankfurter E-Kinos vor.

"Mr. Nice" ist die flotte Verfilmung eines Lebens, das ganz den Drogen gewidmet war; wobei sich Marks geschickt zwischen alle Stühle setzte, IRA und Geheimdienst, Polizei und Drogenlieferanten gegeneinander ausspielte. Rose setzte diese Geschichte mit Witz, Drive und allerlei kleinen, würzigen Zutaten in Szene.

Die offizielle Inhaltsangabe:

43 Decknamen, 89 Telefonanschlüsse, 25 Firmen, Kontakte zu Mafia und Geheimdiensten und über eine Million verkaufter Bücher: Kaum einer spielte mit dem Feuer des Verbrechens so ungeniert wie der Mann, der einst mit Hilfe der IRA und dem britischen Geheimdienst den Drogenhandel globalisierte. Howard Marks war Oxford-Zögling bevor er sich zum internationalen Drogenboss entwickelte, zum charmanten Staatsfeind und Herrscher über die Titelseiten. Alles begann in den 70ern, als der Joint Symbol einer besseren Welt war. Howard Marks will Lehrer werden, bis er vertretungsweise mit einer Ladung Drogen quer durch Europa rast – ein buchstäblich bewußtseinserweiternder Trip. Kurz darauf erobert sich Marks mit Hilfe eines IRA-Anführers den amerikanischen Markt und wird als Agent des MI6 angeworben – sehr zum Verdruss der internationalen Drogenpolizei. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit hält Mr. Nice ein ganzes Justizsystem zum Narren, ist mal unberechenbarer Geheimagent, mal schäbiger Geldwäscher. Und genießt ein Leben zwischen Cannabis, Cadillacs und viel viel Cash. Mr. Nice bleibt nicht zu fassen, wird zum Helden der Legalisierungsbewegung. Doch Craig Lovato von der US-Drogenbehörde hat genug von dem Katz und Maus Spiel. Er setzt alles daran, den begnadeten Trickser endlich dingfest zu machen. Doch der bleibt vor allem eins: Verbrecher. Und stolz darauf.

FILMZ des Monats: "Zur Sache, Schätzchen"

Der Countdown, bis im November FILMZ, das Festival des deutschen Kinos, stattfindet, geht weiter: Die von den FILMZ-Machern verantwortete Filmreihe mit deutschen Filmklassikern im Mainzer Residenz/Prinzess-Kino bringt am Mittwoch, 1. Juni um 20 Uhr May Spils' Szenekomödie "Zur Sache, Schätzchen" auf die Leinwand.

Uschi Glas - zuvor eher als Halbblut Apanatschi auffällig - bringt hier zusammen mit Werner Enke das Lebensgefühl des Swinging Schwabing rüber, mit gewitzten Pointen und schnoddrigem Ton, der weit entfernt ist von der gouvernantenhaften Betulichkeit und gönnerhaften Einvernahme von Jugend in anderen zeitgenössischen Komödien; man denke an die Paukerfilme, in denen die Glas dann in der Folge regelmäßig auftauchte... "Zur Sache, Schätzchen" ist da ganz anders; und gilt zurecht als einer der Kultfilme der deutschen Sechziger.

Inhalt:
Martin (Werner Enke) lebt im Münchner Stadtteil Schwabing ein Leben ohne große Ziele oder Sorgen. Erst an seinem Geburtstag bringt Freund Henry (Henry van Lyck) Schwung in die Sache, als er Martin dazu bringt, einen beobachteten Einbruch zu melden. Doch kaum hat Martin mal sein Bett verlassen, erwartet ihn schon Ärger mit der Polizei und anderen Zeitgenossen. Dann begegnet er auch noch der frechen Barbara (Uschi Glas) – und die wirbelt seinen Tag nun noch weiter fröhlich durcheinander...

Filmfest Dresden 2011: Abschlussbericht

Festival des Eierlikörs

„Ich komme nur, wenn ich nominiert bin“, sagte einer der Produzenten vor der Preisverleihung. Denn obwohl die Preisverleihung eigentlich den Höhepunkt darstellen sollte, ist sie bei vielen kleineren Festivals eher eine Pflichtveranstaltung für Preisträger; der eigentliche Höhepunkt – zumindest für Filmemacher – ist wohl die folgende Abschlussparty. So war es auch beim Dresdner Filmfest 2011. Manch ein Regisseur bevorzugte es vielleicht noch, kurz seinen Eierlikörrausch auszuschlafen. Das wäre zumindest eine Erklärung, wieso die Preisverleihung vor einem zu einem Viertel leeren Saal stattfand.

Den lautesten und längsten Applaus der Preisverleihung erhielten die Festivalleitungsdamen. Vor allem mit ihrem selbstgemachten Eierlikör nach einem Rezept der Vorfahren konnten sie das familiäre Ambiente des Filmfests betonen und bei den Gästen punkten.

Der Moderator im Smoking steigerte sich im Vergleich zur Eröffnungsveranstaltung und führte mit Charme und Witz durch das Programm. Nicht ganz so großen Anklang fand die im wahrsten Sinne des Wortes SCHRÄGE Performance von Polarkreis 18, Dresdens Popmusik-Exportschlager; am bekanntesten dürfte ihr Titel „Allein Allein“ aus dem Jahr 2008 sein. Während des schiefen Gesangs in den höchsten Tönen genoss im Publikum einer der anwesenden Filmemacher seine eigene Musik unter dem Schutz der Kopfhörer. Gestern habe die Band bis in die Morgenstunden das Ende ihrer Tournee gefeiert, gestand auch der Sänger der Band.

Umjubelte Gewinner

Die Preise gehen insgesamt an zehn Filme. Es ist erstaunlich, dass der Goldene Reiter des Publikums und der Goldene Reiter für den besten Kurzspielfilm im internationalen und im nationalen Wettbewerb jeweils an dieselben Filme gingen. Im internationalen Wettbewerb räumte „L’Accordeur“ von Olivier Treiner Preise im Gesamtwert von 10.500 Euro ab. Die Jury, bestehend aus Ismet Ergün, Paul de Nooijer und Martin Vandas, hob vor allem die hervorragende schauspielerische Leistung, die perfekte Bildgestaltung, die Musik und die ungeheure Spannung hervor. Im nationalen Wettbewerb entschied „Viki Ficki“ von Nathalie Spinell Jury- und Publikums-Preise mit einer Gesamtdotierung von 5.000 Euro für sich. Das Thema des Films: Es geht um Mutter-Tochter Solidarität und den gesellschaftlichen Umgang mit dem Beruf der Mutter - einer Pornodarstellerin. Die Jury, bestehend aus Anna Henckel-Donnersmarck, Thomas Frick und Ekkehard Knörer verwiesen auf die Art, mit der das Thema behandelt wird: Nicht auf die Mitleidstour, sondern mit Witz.

Der höchstdotierte Preis war der Förderpreis im Wert von 20.000 Euro und wurde von der sächsischen Kunstministerin vergeben. Er ging an Youdid Kahveci für ihr Kammerspiel „Radiostar“. Der Kurzfilm spielt komplett in der Wohnung eines jungen Pärchens. Die beiden Protagonisten kommen aus unterschiedlichen Kulturen. Problematiken, die in normalen Beziehungen auftreten, werden hier auf den kulturellen Unterschied geschoben. Die Jury zeigte sich vor allem beeindruckt von den lebendigen und vielschichtigen Szenen, in denen gesellschaftliche Realitäten ihren Platz haben und argumentierte damit genauso schwammig wie der Film.



Die Jugendjury des nationalen Wettbewerbs entschied sich für den Film „Yuri Lennon’s Landing on Alpha 46“. „Die Entscheidung ist uns nicht schwer gefallen, wir drei hatten eigentlich alle unabhängig voneinander den gleichen Favoriten.“, sagte Jugendjurymitglied Richard Lamprecht im Festivalcafé des Programmkinos Thalia. Der Schüler und Filmemacher gewann 2007 den Deutschen Nachwuchsfilmpreis. Damals beeindruckte ihn die Rolle der Jury, „weil man da auf den Stühlen lümmelt, Filme guckt und sie anschließend kompetent bewerten und belohnen darf. Das war mir sympathisch.“ Dann suchte das Filmfest in Richards Heimatstadt Mitglieder für die Jugendjury. Er bewarb sich sofort und setzte sich im Auswahlverfahren durch. Auch seine Zukunft sieht Richard Lamprecht im Bereich Film, ohne aber genaue Präferenzen für eine Berufsrichtung zu haben. Vielleicht half ihm bei der Entscheidungsfindung ja der Austausch mit jungen und erfahrenen Filmemachern auf dem Festival.


Über Preise freut sich jeder

„Gewinner werden wahrgenommen“, so Sascha Koebner vom Verband der deutschen Filmkritik (der mit seinen beiden Kollegen den Kurzfilmpreis der deutschen Filmkritik 2010 Stefan Eckel und Stefan Prehn für ihren „Go Bash!“ verliehen), weswegen Preise das Leben junger Filmemacher erleichtern. Die Goldenen Reiter und weitere Preise im Gesamtwert von 63.000 Euro sind nun vergeben. Und weil bei allem Jubel über die Filmemacher die Vorführungsstätten nicht vergessen werden sollten, wies Staatssekretär Dr. Henry Hasenpflug auf das Förderprogramm für sächsische Programmkinos hin. Um sie in den nächsten zwei Jahren bei der Digital-Umrüstung zu unterstützen, stehen insgesamt 400.000 Euro zur Verfügung. Ein wichtiger Schritt in Richtung Modernisierung, der auch beim Publikum der Preisverleihung erfreutes Gemurmel hervorruft.


Die Kurzfilme gehen auf Tour

Und dann ist das Festival auch schon wieder fast zu Ende – aber eben noch nicht ganz. Nach der Preisverleihung folgten eine rasante Party und schließlich die ausklingenden Vorstellungen am Sonntag. Unter dem Motto „Expedition Kurzfilm“ geht im Anschluss an das Festival ein Kurzfilmprogramm auf Nachspieltournee. In zehn deutschen Städten sollen auf diese Weise die Preisträgerfilme einem Publikum jenseits des Festivals mit seinen diesjährigen 16.500 Besuchern zugänglich gemacht werden. Und im Sommer folgt eine Open Air Tour – eine mit den Filmemachern gemeinsame Gastspielreise unter freiem Himmel.


Eine detaillierte Übersicht der Preisträger des 23. Filmfests Dresden finden HIER.

Christine Arnsmeyer u. Raphaela Helbig

Buchrezension: Zum 100. Geburtstag eine Biographie über Jean Harlow

Bettina Uhlich: Marilyns Idol. Das Leben der Leinwandgöttin Jean Harlow. Militzke Verlag, Leipzig 2011. 256 Seiten, 19,90 Euro.


James Deans kurze Karriere hat für den noch heute bestehenden Kultstatus genügt, bei Jean Harlow müssen nicht Filminteressierte schon mal ein bißchen überlegen. Doch auch ihre kurze Karriere (sie starb 1937 mit nur 26 Jahren an Nierenversagen) hat die Popkultur nachhaltig geprägt. So ließ sich beispielsweise Marilyn Monroe von Jean Harlow inspirieren – ohne Harlow hätte es „MM“ nicht gegeben. Gründe genug also, sich zu ihrem einhundertsten Geburtstag am dritten März dieses Jahres an diese einzigartige Frau zu erinnern.

Über Jean Harlow gibt es nun eine Biographie – und sie ist ebenfalls einzigartig. Nicht nur, weil es die erste original deutschsprachige Harlow-Biographie überhaupt ist. Sondern weil Autorin Bettina Uhlich eine Annäherung, nein: ein Eintauchen gelingt, das man als Quadratur des Kreises bezeichnen darf. Das Buch glänzt nämlich einerseits mit penibel recherchierter Faktentreue (und einer Akkuratesse in Fußnoten und Literaturverzeichnis, an der sich zu Guttenberg einmal ein Beispiel nehmen könnte). Andererseits spürt man in jeder Zeile Emphase, Frische, oft auch Humor, aber immer die Fähigkeit, sich in die Harlow und ihr Umfeld hineinzuversetzen. Uhlich ist keine Berichterstatterin, Uhlich ist eine Erzählerin. Beispielsweise gelingen ihr Schilderungen um den dramatischen (mutmaßlichen) Selbstmord von Harlows zweitem Ehemann Paul Bern, die mehr Prosa als Reportage sind. Der Leser liest nicht nur, sondern erlebt mit, zumal Uhlich sich nicht im Stile einer Klatschkolumnistin zu weit aus dem Fenster lehnt. Aber mit mutmaßlich sehr großer Menschenkenntnis und auf der Basis ihres umfassenden Wissens erläutert Uhlich so gut wie möglich, wie Harlow und die Menschen in ihrem Umfeld gewesen sein könnten. Das ist immer bestechend – und wenn Uhlich einmal mit einem Fragezeichen enden muss, ist das tiefer Respekt statt falscher Bescheidenheit.

Harlow, der „sexy clown“: Wenn Otto Waalkes Marilyn Monroe verehrt, weil es sehr, sehr selten sei, dass jemand schön und komisch zugleich sein könne, muss man konstatieren: Harlow konnte das auch, Jahrzehnte früher schon. Harlow war immer daran gelegen, nicht einfach auf das platinblonde Gift reduziert zu werden. In der rotzfrechen Komödie „Red-Headed Woman“ (1932) schläft Harlows Charakter sich nach oben, aber man verzeiht ihr, weil die Männer es im Grunde nicht anders verdient haben. In „Red Dust“ („Dschungel im Sturm“, 1932) hat sie ein Verhältnis mit Clark Gable, möchte aber das Prostituiertengeld nicht annehmen – um sich später diesen Mann zurückzuerobern, nicht nur des Spaßes, sondern auch der Liebe wegen. Dass die wahre Liebe und der knisternde Spaß kein Widerspruch sein müssen, konnte kaum jemand so gut darstellen wie Jean Harlow. In dem heute noch einigermaßen bekannten Ensemblefilm „Dinner at Eight“ („Dinner um acht“, 1933) schubst sie zwar ihren feisten Gatten (Wallace Beery) herum, um in „bessere Kreise“ aufzusteigen. Aber von ihrem Geliebten wünscht sie sich wahre Aufmerksamkeit und Liebe, während der zu seinem Fauxpas nicht stehen mag. Harlow war in ihren besten Filmen immer der Vamp, der sich nach Liebes-Würdigkeit im Wortsinne sehnt.

Uhlich gelingt es, durch eine Mischung aus Hintergrundinformationen und Interpretationen diese Filme beim erneuten Sehen doppelt interessant zu machen; viele kleine Details könnten dem Zuschauer sonst entgehen. Vielleicht aber noch wichtiger: Ihr Buch ist schon eine Biographie im klassischen Sinne, d.h. der Schwerpunkt liegt auf Harlows Leben, von der Wiege bis – viel zu früh – zur Bahre (und ein bißchen darüber hinaus, wie ihr Monroe-Schlusskapitel zeigt). Hierbei arbeitet Uhlich heraus, dass es Harlow vielleicht nicht viel anders ging als einigen ihrer Filmcharaktere: Sie wollte nicht auf den sexy vamp reduziert werden. Beispielsweise band sie sich oft an ältere Männer, die nicht gerade dem Typ des Gigolos entsprachen und ihre Schlagfertigkeit, ihren Witz, ihre Klugheit, ihre patente Kumpelhaftigkeit schätzten. Die Öffentlichkeit und viele aus dem Umfeld stempelten sie jedoch eher als Nur-Sexbombe ab, weil sie nur diese eine Seite in den Filmen sahen, um sie fälschlich auf das Leben zu übertragen. Man sah, was man sehen wollte. Uhlich hingegen blickt tiefer – in die Filme und in die Harlow, so weit dies jedenfalls möglich ist. Ohne dabei der devote Fan zu werden, der Jean Harlow auf Biegen und Brechen gegen den Moloch Hollywood verteidigt. Nein, auch bei Harlows Schattenseiten (z.B. Ansätzen eines Helferkomplexes und einer überzogenen Mutterbindung) ist Uhlich Harlow ganz nah. Und nimmt uns mit tiefem Einfühlungsvermögen und frischem Schreibstil mit, statt uns nur etwas zu zeigen. Man ahnt, dass es eine aufreibende Sisyphusarbeit war, das Buch zu schreiben – und wie schön, dass sich das nicht, aber auch gar nicht, auf das Lesen überträgt!

„Das Leben der Leinwandgöttin Jean Harlow“ – entgegen den vom Verlag angegebenen 240 Seiten - 241 Seiten (und mit Anhang 256), die nicht zu eng layoutet sind, aber Abstand von einem bedauerlichen Trend der Buchverlage nehmen, die Seitenzahlen künstlich aufzublähen, um einen höheren Preis zu rechtfertigen. Es enthält schöne Schwarzweißfotos, die stets im textlichen Zusammenhang abgedruckt sind. Hierbei handelt es sich teils um historisches Material, teils um Uhlichs eigene Fotografien, entstanden, als sie in Hollywood auf Harlows Spuren gewandelt war. Im Anhang finden sich das internationale Literaturverzeichnis und die Fußnotennachweise – hier zeigt sich besonders eindrücklich, dass das Buch alles andere als ein Schnellschuss war.

Ein Radio-Interview mit Bettina Uhlich über ihr Buch bzw. über Jean Harlow (16.3., Radio Eins, 16.20 Uhr) findet sich als Podcast HIER.

Tonio Gas


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Screenshot REGION: KURSDORF besonders wertvoll und mehr


Neues aus – pardon, von KURSDORF. Der Doku-Kurzfilm der Mainzer „Nachtschwärmer“ Michael Schwarz (Regie und Buch) und Alexander Griesser (Kamera) ist nicht nur von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet worden, was mit einer FFA-Referenzförderung für ein neues Projekt verbunden ist:

Just ist der Film über das kleine, aussterbende Dorf, das vom Flughafen Leipzig/Halle umzingelt oder „verschluckt“ wird, auch für den Deutschen Kurzfilmpreis, der wichtigsten Kurzfilmauszeichnung der Nation, vorgeschlagen worden.

Screenshot gratuliert!


(zyw)

Kinoseminar Filmpropaganda: „Ich klage an“, Wolfgang Liebeneiner 1941

„Ich klage an“, Wolfgang Liebeneiner 1941

19. April 2011, Murnau Filmtheater Wiesbaden. Einführung und Analyse durch Horst Walther, Institut für Kino und Filmkultur



In Wolfgang Liebeneiners „Ich klage an“ geht es an der Oberfläche um Sterbehilfe; aber in Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes, nämlich darum, in der Bevölkerung Akzeptanz zu generieren für eine unmenschliche Maßnahme des NS-Regimes – ohne dass das Programm zur Ausmerzung lebensunwerten Lebens zur Sprache kommen würde. An diesem Film kann exemplarisch Zielrichtung, erhoffte Wirkung und historische Verblassung propagandistischer Filmbotschaften betrachtet werden.

Inszeniert ist er auf eine Art, wie es heute bei den Filmen der Fall ist, die auf einen sicheren Darstelleroscar spekulieren. „Ich klage an“ ist perfektes Krankenmelodrama, und Heidemarie Hatheyer in der Hauptrolle als Hanna spielt eine der Rollen ihres Lebens – neben der „Geierwally“ ein Jahr zuvor. Hatheyer ist grundsätzlich die Frau fürs Drama, und sie ist die Frau von Nebenan – das kommt „Ich klage an“ zugute, mit leichtem bayrischem Akzent spielt bei ihr immer auch das publikumsum- und einfangende Alltägliche mit: Was hier passiert, könnte jedem passieren. Hatheyer ist geerdet, sie spielt keine der Frauen, wie sie nur in Filmen vorkommen können. Wenn sie sich freut, weil der Postbote einen wichtigen Brief bringt, dann freut sie sich ganz ausgelassen, vergisst, das Einschreiben zu unterschreiben, vergisst den Bleistift des Briefträgers, rennt ins Haus, umarmt die Haushälterin, oh, ein Schnaps für den Briefträger, schnell: das Telefon – solche mitreißende Begeisterung zu spielen in der ersten Szene des Films, die ganz natürlich wirkt und den Zuschauer mit hineinnimmt in das Hochgefühl des Glücks, das ist selten in Filmen dieser Zeit.

Das ist die hervorragende Qualität von „Ich klage an“: dass er so modern gestaltet ist. Das Spiel ist natürlich, die Charaktere nachvollziehbar, die Figurenkonstellation nicht ausgeformt, sondern subtil umschrieben, die Dramaturgie steigert sich ohne Längen, und das Thema ist ergreifend: Das anfängliche Glück ist natürlich nicht von Dauer, die lebensbejahende Fröhlichkeit liegt nahe am Tod. Das deutet sich schon an beim Sturz die Kellertreppe runter: das war vielleicht nur ein Stolperer –, und die Verkrampfung der linken Hand beim abendlichen Klavierspiel vielleicht nur eine Folge des Sturzes. Doch natürlich sind es erste Symptome, denen weitere folgen werden, ganz leise schleicht die Krankheit heran, so dass ihr Opfer es zuerst nicht bemerkt, es auch nicht wahrhaben will… Kontrastierung bietet der Film nicht nur im Krankheitsverlauf vom Glück ins Leid: Der Ehemann der Kranken, Dr. Thomas Heyt, ist medizinischer Forscher, das ganze soziale Umfeld setzt sich aus Ärzten zusammen. Der Brief zu Filmbeginn enthielt die Berufung Dr. Heyts als Professor an die Uni München, auf der Abschiedsfeier wimmelt es von Medizinern; doch keiner kann Hanna helfen.

Heyt stürzt sich in die Forschung, peitscht sein ganzes Labor auf das Finden eines Erregers der Multiplen Sklerose ein; Dr. Lang, Freund der Familie und praktizierender Arzt, behandelt Hanna und weiß um die Vergeblichkeit des Bemühens. Paul Hartmann spielt den fanatischen Forscher, der aus Liebe nächtelang von zuhause fortbleibt (und der aus Arbeitsdrang das Flirten seiner schönen, blonden Assistentin gar nicht mal bemerkt): einer, der das Mit-Leiden ummünzt in einen Kampf gegen den Tod, gegen die Zeit, und dafür beinahe die Fürsorge vergisst. Dr. Lang wird von Mathias Wiemann sanft, zielstrebig, prinzipienfest gespielt – wie immer eigentlich; ein Film, in dem Wiemann mitspielt, trägt mit höchster Wahrscheinlichkeit NS-Propagandabotschaften mit sich, ganz ähnlich wie bei Heinrich George oder Eugen Klöpfer. Lang wird zuerst von der leidenden Hanna gefragt: wenn es nicht mehr weitergeht, wenn der Tod immer näher rückt und das Leiden immer schlimmer wird, würde er ihr dann helfen – sprich: das Leiden vorzeitig beenden – sprich: sie töten? Und überzeugt von seinem ärztlichen Ethos, der alles untersagt, was dem Leben zuwiderläuft, lehnt er ab. Im Gegensatz zu Dr. Heyt… „Weil ich sie geliebt habe, habe ich sie nicht getötet“, wirft ihm Lang nach dem Gnadentod vor; und er entgegnet: „Ich habe sie mehr geliebt, deshalb habe ich es getan.“

Der Kranken- und Leidensgeschichte schließt sich der Gerichtsprozess gegen Dr. Heyt an: Ihm wird Mord vorgeworfen, die Verteidigung plädiert auf Tötung auf Verlangen; und verhandelt wird natürlich vor allem das Recht des Patienten auf ein Ende seiner Leiden. Auch dies ist – an der Oberfläche – zunächst nur ein Diskurs um Sterbehilfe, der auch in die heutige Zeit von Patientenverfügungen und organisierten Selbstmord-Hilfsorganisationen im Ausland passt; Clint Eastwood hat im „Million Dollar Baby“ Ähnliches behandelt. Nur in kleinen Momenten mischt die NS-Ideologie hinein (dann aber heftig): wenn der Pastor erklärt, dass Hannas Art des Sterbens seiner Kirche entgegenlaufe, er sie aber verstehen könne; und wenn einer der Geschworenen, ein strenggläubiger Christ, erklärt, dass auch Tötung auf Verlangen eine schwere Sünde sein, da das Leid den Menschen läutern und damit näher zu Gott bringen soll – Verunglimpfung der Kirche als eine Religion, die das Leid fetischisiert, was eine fälschliche, verleumderische Behauptung ist.

Die Passion Hannas ist emotional berührend; der anschließende Prozess nimmt den Zuschauer mit in die Aufarbeitung, nutzt die Gefühle des Mitleidens, um das geltende Recht – Töten ist unter allen Umständen falsch – als ungenügend zu kennzeichnen. Genau dafür plädiert der Film, indem die Figuren während des Prozesses dafür plädieren: In einem solchen Fall wie dem Geschilderten, in dem aus lauter Menschlichkeit getötet wurde, um Leid zu verkürzen: in einem solchen Fall müssen neue Gesetze her. Was das in der zeitgenössischen Wirklichkeit bedeutete, ist heute nicht mehr in ganzer Tragweite nachvollziehbar; und deshalb ist es wichtig, dass „Ich klage an“ als Vorbehaltsfilm nur mit einer obligatorischen Einführung und anschließender Analyse gezeigt werden darf: Insbesondere wenn Horst Walther vom Institut für Kino und Filmkultur den Film vorstellt, kenntnisreich, locker; und in diesem Fall mit subtilem Pathos. Denn wenn der Film ein Gesetz für Sterbehilfe fordert, erklärt Walther, also einen rechtlichen Rahmen für einen Umstand, der mit dem Begriff schöner Tod, Euthanasie, umschrieben wird, plädiert er zugleich und in der damaligen Zeit für jeden verständlich für das staatliche Recht zu töten, für die Vernichtung lebensunwerten Lebens: wofür die Nazis den Euphemismus Euthanasie verwendeten.

Seit 1939 war eine gesellschaftliche Debatte im Gange, die nicht in der von der NS-Führung gewünschten Richtung verlief. Seit 1939 gab es das Euthanasieprogramm: staatliche Stellen, besetzt mit Gutachtern, organisatorisch strikt von der Reichsführung, von Hitlers Staatskanzlei, getrennt, stempelten nach Aktenlage Patienten ab: ein + bedeutete den Tod, ein – das Weiterleben. Ärzte, Hebammen, Geburtsabteilungen in Kliniken waren angehalten, bei auffälligen Babys Formblätter auszufüllen, die vorgeblich eine künftige bessere Betreuung gewährleisten sollten, tatsächlich aber das Todesurteil bedeuten konnten: Behinderungen jedweder Art wurden eingetragen und in Berlin anhand der Formulare – nicht einmal anhand der Krankenakten – abgeurteilt. 5.000 Kinder wurden so staatlicherseits beseitigt. Das Programm wurde ausgeweitet, die Insassen von Pflegeheimen wurden ebenfalls erfasst, in Zwischenlager transportiert – bis hierhin konnten sie von Angehörigen begleitet werden –, sodann in Tötungsanstalten ermordet, mit Medikamentenüberdosen oder durch Gas.


Das Ganze war Teil der nazistischen Rassenhygiene. Da sich jedes Lebewesen und damit jedes Volk in einem ständigen Kampf ums Dasein befinde – wie Hitler in „Mein Kampf“ ausführt –, muss sich jedes Volk vor Schwächung hüten, muss die Reinhaltung der Rasse oberstes Gebot sein; vor allem für eine Herrenrasse wie das Ariertum. Dieses Ziel kann man positiv erreichen, indem man Frauen guten Blutes zum Kinderkriegen animiert – durch Muttertag und Mutterkreuz, Ehestandsdarlehen und die Ablehnung von Abtreibungen; und man kann andererseits das unerwünschte Leben entfernen. Hitler erklärte, dass „die Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung“ – so formulierte er es in seiner Parteitagsrede 1929, und mit dem Euthanasieprogramm staatlicher Ermordungen kam er diesem Ziel schon recht nahe.

Trotz diverser Verschleierungstaktiken konnte das Euthanasieprogramm nicht vor der Bevölkerung geheim gehalten werden; nicht vor den Angehörigen, nicht vor den Bewohnern im Umfeld der Tötungsanstalten. Und es regte sich Protest, in Kirchen wurde von den Kanzeln gegen die Massentötung mitten in Deutschland, staatlich sanktioniert, gepredigt, sogar ein Richter stellte Strafanzeige wegen Mordes, dem jede juristische Grundlage fehlte. In dieses Umfeld hinein wurde der Film produziert. Und dahin gingen Horst Walthers Ausführungen: zu zeigen, wie der Film über etwas spricht, über das er eigentlich gar nicht spricht.

Dr. Lang – Mathias Wiemann – hat es in einer Nebenhandlung mit der medizinischen Betreuung eines Babys zu tun. Die Freude bei der Geburt weicht der Sorge bei Krankheit, Diagnose Hirnhautentzündung, und Lang gelingt es mit allen Mitteln ärztlicher Kunst, das Kind zu retten. Um am Ende des Films zu erkennen, dass die Erhaltung des Lebens doch umsonst war. Blind und schwachsinnig lebt es jetzt in einem Heim, und sein Zustand muss grauenvoll sein: in angespannter Erwartung betritt Lang die Kinderstation, die Tür schließt sich, eine lange Minute bleibt die Kamera draußen, wartend; und mit sichtlicher Erschütterung verlässt Lang die Station nach Besuch des kleinen Patienten, tief aufgewühlt ausgerechnet er, der erfahrene Mediziner, dem nichts fremd ist. Hier wird sein Ethos erschüttert, und durch die effektive Inszenierung des Nicht-Zeigens wird auch der Zuschauer konditioniert: Wäre hier nicht eine andere Art der Hilfe besser, angemessener gewesen? Diese wenigen Szenen leiten den Diskurs von Sterbehilfe auf Verlangen über auf das Problem leidenden Lebens überhaupt, das unter schlimmsten Bedingungen dahinvegetieren muss. In ein paar anderen Szenen sehen wir Dr. Heyt in seinem Labor, fieberhaft nach einer Behandlungsmöglichkeit für die todkranke Frau suchend – natürlich mit Tierversuchen, mit weißen Mäusen, an denen experimentiert wird. Vollkommen akzeptabel, es geht um den Fortschritt medizinischer Wissenschaft; doch wenn die Mäuse ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie die Forscher einen Schritt weitergebracht haben und dabei selbst todkrank geworden sind: dann werden sie sanft getötet, von Heyts mitfühlender Assistentin: „Ich erlöse dich“…

Mit allen Mitteln des Emotionsdramas arbeitet der Film, und das funktioniert auch heute noch. Das Leiden der lebenslustigen Frau, die aus Lebensbejahung den Tod wählt: das ist eine zeitlose Fabel, die jeden Zuschauer ergriffen machen kann; die Wolfgang Liebeneiner perfekt inszeniert, mit großer Zurückhaltung, klar in der Sache, subtil in der Figurenzeichnung, mit ausgefeilten Backstories, die nie ausformuliert werden, mit dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den Charakteren, die sich nie in der Geschwätzigkeit ergehen, wie sie für den deutschen Film der 30er und 40er immer wieder typisch war. Dieses Gefühlskino war gemünzt auf das Mitleiden: und damit sollten die Zuschauer weichgemacht werden für die harte Wirklichkeit, wie sie die Verordnungen von ganz oben im NS-Staat vorsahen. Wo es um Sterbehilfe aus Mitgefühl geht, geht es eigentlich um ein Gesetz, das diese Sterbehilfe erlaubt. Und wo es um ein Gesetz zum erlaubten Töten geht, geht es um die staatliche Aktion der Vernichtung lebensunwerten Lebens.

Doch der Film kam zu spät. Eine Woche vor der Premiere am 29. August 1941 stoppte Hitler die bisherige klandestine Praxis der Euthanasie, der bis dahin weit über 70.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Die Experten für die Vergasung Behinderter wurden in die Vernichtungslager im Osten versetzt, wo sie ihre Dienste an anderen Opfern weiter verrichteten. Das Euthanasieprogramm wurde später dezentral und für die Bevölkerung weniger offenkundig weitergeführt.

Harald Mühlbeyer