Filmfest Dresden 2011: Kino unterwegs...


A wall is a screen

Dauernieselregen bringt routinierte Kinoliebhaber normalerweise nicht aus der Ruhe. Im dunklen Kinosaal ist immer ein gleichbleibendes Niveau von Bequemlichkeit gewährleistet: Er sitzt ja im Polsterstuhl und hat ein Dach über dem Kopf. Und genau das haben die Teilnehmer des heutigen Stadtrundgangs nicht. Ausgerüstet mit tragbarem Generator, Beamer, Laptop und Lautsprechern sowie zwei Trollywagen mit Bierkisten wird die Gruppe „A Wall is a Screen“ heute verschiedene Hauswände der Neustadt bespielen. „Bei uns interagieren die Filme mit dem was drum herum ist“, erklärt Peter Stein das Erfolgskonzept.

Über einem Kantineneingang: Ein totes Huhn verselbstständigt sich nach Elektroschocks und zahlt daraufhin seinem Peiniger die Schmach heim. In einem der für die Neustadt charakteristischen Dresdner Hinterhöfen: Der gleichzeitige Einblick in vier Zimmer verbildlicht die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Nachbarn ...

Derzeit verfügt die Gruppe über ein Repertoire von 800 Filmen, aus denen sie dann den jeweils passenden für die jeweilige Umgebung und Hauswand aussucht. „Und jedes Jahr machen wir dann eine Abrechnung mit den Filmemachern oder deren Vertrieblern“, betont Peter Stein, selbst Filmemacher, „insofern ist das alles legal, wir melden ja auch die Strecke an.“ Er führt die Zuschauer mit Megafon von einer Station zur nächsten und freut sich „mit so vielen Leuten durch die Stadt zu ziehen“. Über Asphalt, Matsch, Kopfsteinpflaster und durch Pfützen... Der Regen hat aufgehört. Ein kleiner Wehrmutstropfen für‘s internationale Publikum sind die Ansagen, die fast ausschließlich auf Deutsch gemacht werden. Da bleibt nur das Warten auf den nächsten Film, der hoffentlich ohne Sprache auskommt und stark genug motiviert zum nächsten Vorführung zu wandern.

Zu der seit acht Jahren bestehenden Gruppe zählen sechs Mitglieder. Die Idee begann damals im Rahmen des Hamburger Kurzfilmfestivals. Die eigentlich nur einmalig geplante Technikveranstaltung wurde im internen Kreis im Vorfeld belächelt. Doch dann wurde sie schlagartig zum meist besuchten Event. Die Hamburger Festivalleitung zog auf diesem plötzlichen Erfolg die Konsequenz: dass die Techniker diese Veranstaltung nochmal wiederholen MÜSSEN. Seitdem ist die Gruppe europaweit gefragt.

In Dresden wirken Peter Stein, Sarah Adam und Sven Schwarz bei dem, was sie tun, sicher: Generator anschmeißen, Geräte verkabeln Beamer mit dem Ziel einer geringen Bildverzerrung ausrichten, Ton auspegeln … „Wir konnten gestern wegen des schlechten Wetters keinen Probelauf an den Wänden machen, das ist also heute eine Premiere“, sagt Sarah Adam. „Mindestens drei aus unserem Team müssen bei einer Veranstaltung die Schlüsselaufgaben übernehmen – alles andere kann man anleiten.“ Die Helfer in gelben Warnwesten bauen blitzschnell die Ausstattung ab und am nächsten Projektionsort auf. Die Menge geht mit den Filmen mit, unterhält sich darüber und neugierige Passanten gesellen sich zum Menschenzug. Sven Schwarz charakterisiert das Kulturangebot: „Ohne Eintritt, jeder soll kommen. Es ist ein Gegenentwurf zur Kommerzialisierung.“



Nun hält die Menge vor einer durchgehend mit bunten Flächen angemalten Hausseitenmauer ohne Fenster. „Der folgende Film funktioniert nur auf dieser Wand“, kündigt Sarah Adam an. Und schon entstehen Köpfe, die in neue Kopfformen übergehen. Die dargestellten Teile variieren von harmonisch bis aggressiv - allesamt mit einfacher Linienführung, genau wie die Trennlinien der Farbflächen auf der Mauer, auf der die bewegten Bilder erscheinen. Die Wand erwacht tatsächlich zum Leben.

„Das hat richtig Spaß gemacht“, resümiert Sven. Auch dem Wanderpublikum hat’s gefallen. „Beeindruckend!“ Mit den 400 Besuchern hatte selbst die Filmfestleitung nicht gerechnet. Die Menschen verlassen mit Applaus und strahlenden Augen den letzten Screening-Ort und erzählen verspätet eintreffenden Freunden, was sie da gerade verpasst haben. Mit dieser Mund-zu-Mund-Propaganda auf der Straße erfreut sich das Filmfest wirksamer Werbung. Für die Zuspätkommer bleibt nur noch der Hinweis, dass im Kino im Rahmen des Festivals Kurzfilme zu sehen sind - aber eben ohne Stadtrundgang, Gespräche in der Menge und „nur“ auf der weißen ebenen Leinwand.


Text u. Fotos: Raphaela Helbig