Filmfest München 2010 – Zweimal sowas wie ein Making of

"Let me tell you how it will be;
There's one for you, nineteen for me.
'Cause I’m the taxman,
Yeah, I’m the taxman."



--- ah huch, nein, das sind nicht die Rolling Stones, das sind die Beatles 1966 - erst 1971 traf der Höchststeuersatz von 95 Prozent die Stones mit voller Wucht, die Folge: Exil im schönen Südfrankreich. Dort entstand in jenem magisch-geheimnisvollen Sommer das Doppelalbum "Exile on Main St.", eine Rückkehr zu rauem Blues, weg von der Hitmaschinerie, die die Stones inzwischen geworden waren. Nun sind viele Stunden Filmmaterial über jene Monate aufgefunden worden - oder vielleicht besser: die Stones haben sie freigegeben, und Regisseur Stephen Kijak hat daraus eine Art einstündiges Making of des Albums kompiliert: "Stones in Exile". Fotos, Film, die Musik und Interviews der Beteiligten geben einen Eindruck vom kreativen Prozess.

Im Keller von Keith Richards Villa nahmen sie die Songs auf, dazwischen gab es reichlich Parties, eine Menge Drogen, zwischendurch heiratete Mick seine Bianca, und weiter gings mit Drogen, Parties und ab und an Musikaufnahmen. Nunja: Die Drogen kommen vor, die Parties werden erwähnt - aber so richtig die Dekadenz dieser Band in diesem Sommer, die libertinäre Anything Goes-Einstellung der Rockmillionäre kommt nicht rüber - vermutlich wurde das wirklich freizügige, anstößige Material nicht benutzt. Das Weglassen des Anrüchigen ist natürlich legitim - es geht ja auch um die Neu-Promotion der Platte. Die Wirklichkeit dieser Zeit, die tatsächliche Atmosphäre dieses Stones-Sommers in Südfrankreich kann der Film damit allerdings nicht einfangen.

Dagegen konzentriert sich Kijak auf die Musik, die da entstand, dient damit wiederum dem Aufbau des Stones-Mythos - die ihre Songs einfach so erschaffen, aus dem Nichts heraus entwickeln, weiterbasteln, herumfeilen, bis sie perfekt sind. Toningenieur Andy Jones fasst es zusammen: Tagelang spielen die Stones ziemlich schlecht; dann, irgendwann, sehen sich Richards und Watts an, Wyman hebt seinen Bass um einige Winkelgrad an, und sie legen los: der Moment der Genialität.

Darum geht es auch Richard Linklater in "Me and Orson Welles". Das ist sozusagen ein fiktives Making of der legendären "Julius Caesar"-Inszenierung von Orson Welles mit seinem Mercury-Theatre in New York 1937 - erzählt aus der Sicht des siebzehnjährigen Highschoolschülers und hoffnungsvollen Jungschauspieler Richard (Zac Efron), der per Zufall eine kleine Rolle im Stück ergattert. Der Moment der Genialität und das lange, mühsame Ringen um diesen einen großen Augenblick beschreibt der Film - und sehr genau die Persönlichkeit des erst 22jährigen Welles, der imposant ist, eloquent, witzig, genial, schnell, clever und selbstbezogen, arrogant, hochfahrend, aufbrausend, anmaßend: eine schillernde Persönlichkeit, im Grunde wie der junge "Citizen Kane", mit der Richard sich auseinandersetzen muss. Um die Gunst, in dem Stück mitspielen zu dürfen, um die Gunst auch der schönen Sekretärin/Managerin Sonja (Claire Danes).

Linklater inszeniert mit viel Witz und Gespür für seine Charaktere - wie immer eigentlich -, und so gelingt es ihm tatsächlich, einerseits eine anrührende Coming of Age-Geschichte zu erzählen, andererseits Orson Welles zu zeigen, der auf einer Welle der Kreativität und der Selbstgefälligkeit reitet - mit vielen kleinen Anspielungen auf Welles' eigene spätere, tragische Karriere, als ihm nach "Kane" ungefähr alles von Produzenten und/oder Zeit- und Geldmangel behindert wurde.

Harald Mühlbeyer

Filmfest München 2010 – Thriller aus Polen


In aller gebotenen Kürze - da in einer Stunde die heutigen Pressevorführungen beginnen - sei auf "Dom Zly" ("The Dark House") von Wojciech Smarzowski hingewiesen, der wohl ziemlich einmütig in Polen als Film des Jahres 2009 ausgemacht wurde: ein Thriller, der im Polen der Jahre 1978 und 1982 spielt, auf zwei Zeitebenen also die Geschichte eines (bzw. mehrerer) Verbrechen aufrollt (wenn auch nicht so richtig aufklärt).

Zuerst sieht man Polizisten warten, im Schnee, aus einer Plastiktüte werden Zigaretten verteilt - die offenbar beschlagnahmtes Beweismaterial sind -, und wenn dann aus dem nächsten Polizeiwagen eine schwangere Polizistin steigt, ist das natürlich eine Verbeugung vor "Fargo". So viel Wodka, wie die Protagonisten, vor allem die Staatsdiener, in diesem Film kippen, das ist schon eine Geschichte für sich.

Die Polizisten wollen mit ihrem Verdächtigen eine Tatortbegehung durchführen, in einem kleinen Farmhaus, wo sich vier Jahre zuvor grässliche Morde abgespielt haben. Mit modernsten Ermittlungsmethoden - eine stumme Filmkamera! - wird rekonstruiert, was sich abgespielt hat, und da geht der Film dann in Rückblenden zurück und erzählt die Geschichte von Edward Srodon, der in regnerischer Nacht zu dieser Farm kam. In der folgenden feucht-tragischen Nacht werden unter anderem eine Menge selbst-/schwarzgebrannter Wodka, ein paar Geldbündel und eine Axt eine Rolle spielen... Wobei der Film höchst geschickt nur ganz langsam enthüllt, was eigentlich passiert ist, worum es geht, und die Informationen genau dosiert dem Zuschauer darbietet. Und geschickt zwischen den Zeitebenen wechselt: Das Verbrechen selbst und seine Rekonstruktion - wobei raffinierterweise in dieser Ebene die Aufklärung hintansteht, weil erstens Wodka, zweitens Vertuschung von gewissen Korruptionsaffären, drittens die Frage, ob das nun als reiner Kriminalfall oder nicht doch politisch zu sehen sei, viertens diverse Verleumdungen und Denunziationen im Kollegenkreis, fünftens auch noch persönliche Beziehungen/Probleme/Prügeleien zwischen den Polizisten - finden Sie selbst ein passendes Satzende.

Denn der Film würde nun auch wieder zu etwas anderem schneiden, das die Geschichte weiterbringt, er kennt kein Innehalten, keine Zeit für Langatmigkeit und redundante Erklärungen: das Verbrechen von 1978 ist schließlich auch für sich ein Fall, der einen ganzen eigenen Film hätte ergeben können - und der, das erklärte Regisseur Smarzowski nach der Vorführung, tatsächlich in gewisser Weise auf einem Fernsehspiel aus den 70ern basiert titels "Die Überraschung". Und er fügte noch ein paar Ebenen zu, was Geschichte, Dramaturgie, Zeit angeht - denn klar, die Vorgesetzten sind alle angespannt wegen der Solidarnosc-Bewegung, da darfs keinen Makel in den Ermittlungen geben - keinen, der kommunistische Funktionäre betreffen oder irgendein schlechtes Licht auf die offizielle Politik werfen könnte, weshalb einiges unter den Teppich gekehrt werden soll...

Ein durchweg vielschichtiges, höchst spannendes Werk ist das, ein Thriller, wie man sich ihn wünschen kann; der durchweg stringent erzählt ist, und bei dem zugleich gar nicht alles erklärt werden soll: denn eine Wahrheit gibt es nicht.

Harald Mühlbeyer

Studentischer Filmkreis der TU Darmstadt

Sei über 50 Jahren führt der Studentische Filmkreis der Technischen Universität Darmstadt Filme vor, diskutiert und realisiert eigene Produktionen.

Im Darmstädter REX Kino zeigen die "Filmkreisler" am 30. Juni um 20:45 Uhr den Schweizer Film BROKEN SILENCE von 1995 (Buch u. Regie Wolfgang Panzer) um einen Kartäusermönch, der für die Rettung seines Klosters hinaus in die ihm unbekannte, weite Welt und rund um den Globus muss.

Im Audimax der TUD wird schon am 29. Juni um 20:00 Uhr ENDSTATION DER SEHNSÜCHTE der FULL-METAL-VILLAGE-Regisseurin Sung-Hyung Cho zu sehen sein. Und an selber Stelle, am 3. Juli das WM-Spiel Deutschland-Argentinien übertragen.


Mehr Infos zum Studentischen Filmkreis der TU Darmstadt gibt es HIER.

Filmfest München 2010 – Filmische Anklagen

Filme können die Welt nicht verändern, aber sie können Anklage erheben. Mit der kleinen Einschränkung, dass man mit Vorwerfen und Anprangern von Missständen, auch wenn man es in unterhaltsame Form packt, ohnehin nur die eigene Klientel erreicht; und damit offene Türen einrennt, zumindest bei Vorführungen im Ausland. Denn natürlich wissen wir, die wir als mündige Bürger brav die Zeitung lesen, von Berlusconis Medienmacht, seiner Quasidiktatur, seinen Ausrutschern, Selbstbeweihräucherungen und geschmeidigen Wiederauferstehungen. Sabina Guzzanti fasst das alles noch mal prägnant zusammen in „Draquila – L’Italie che trema“, anhand des schrecklichen Erdbebens von Aquila im April 2009, das Berlusconi gleich zu heftigsten Propagandazwecken ausschlachtete. Guzzanti betreibt die Gegenpropaganda, und das ist ja auf jeden Fall gut und richtig. Korruption, Bürgerrechtsbeschneidungen, Prostitutionsaffären, Medienmacht: das, was in Italien unter Berlusconi schiefläuft, beschreibt sie mit besonderem Blick auf die Evakuierten von Aquila, die teils in Hotels, teils in Zeltlagern untergebracht wurden, denen viele schöne neue Wohnungen versprochen wurden, die aber nicht für alle rechtzeitig vor dem Winter fertig waren, der Zivilschutz scheint sich zu einem Staat im Staate ausgewachsen zu haben, der unter diversen Notfallverordnungen Gesetze außer Kraft setzen kann, Vorschriften umgehen und Rechte beschneiden; Mafia natürlich auch dabei, und Desinformation der Bürger, denen vor dem Erdbeben gegen besseres Wissen Sicherheit vorgegaukelt wurde.

Das erzählt sie mit frischem Ton und mit vollem Einsatz der Macht der Bilder – im Grunde die Mittel, die auch Berlusconi einsetzt, wenn er Witzchen reißt und ca. 100 Mal im Erdbebengebiet Opfer umarmt. Suggestion auf beiden Seiten also, und die nicht gestellte Frage lautet, ob diese Mittel die richtigen sind, wenn man gegen die Propagandamacht Berlusconis antreten möchte. Bei der Aufführung in Cannes immerhin gab es diplomatische Verwicklungen, offizielle Proteste der italienischen Regierung – aber es bleibt etwas problematisch: Guzzanti sagt einwandfrei die Wahrheit über Italiens Zustand – aber das mit den Mitteln der Lüge, mit suggestiven Interviews, , mit Personalisierungen, Vermutungen, Herstellung von Zusammenhängen – das sind die Mittel, die per se der Manipulation verdächtig sind, und daher auf den kritischen Geist (wie mich) zweifelhaft wirken.

Mit einem viel wichtigeren Thema beschäftigt sich Alexandre O. Philippe, eines, das die gesamte Menschheit angeht: „The People vs. George Lucas“ handelt von der Enttäuschung der Fans wegen George Lucas’ Erweiterungen und Fortschreibungen des Star Wars-Kosmos – Filme, die Sinn stifteten, die Inspiration kreierten, an denen sich Millionen von Jugendlichen aufrichteten – und die ihrem Gott nun Verrat vorwerfen, ja: Vergewaltigung ihrer Kindheit. Womit sie ja Recht haben. Lucas hat halt im Grunde schon in der „Rückkehr der Jediritter“ ziemlichen Endorschmonzes fabriziert; aber andererseits, und das macht Philippes Doku wertvoll und klug: die Fans haben ihn ja auch dazu getrieben, mehr und mehr „Star Wars“ zu produzieren, er kam ja gar nicht mehr raus.

Eine Menge Interviews hat er geführt mit allen möglichen Fans und Sammlern, die ihre „Star Wars“-Erweckungserlebnisse erzählen, ihre Gefühle zwischen Liebe und Hass, und dazu immer wieder, das ist wirklich bemerkenswert, Ausschnitte aus gefühlten tausenden von Fanfilmen, Animationen, nachgespielten Filmen: Kreativität, generiert durch George Lucas’ Filmen – und gedreht vorwiegend mit dem Merchandisingmaterial, das er gleich mitlieferte. Was dazu führt, dass ihm viele jetzt vorwerfen, milliardenschwerer Unternehmer zu sein, kein Künstler mehr – was er ja durch sie geworden ist. Und was weiter dazu führt, dass die enttäuschten Fans aus den miesen Episoden 1 bis 3 neue Filme schnitten, die besser sind; aus denen beispielsweise Jar Jar Bings verschwindet.

Es ist also eben kein polemischer Film, sondern ein Film, der „Star Wars“ als soziales, kulturelles, psychologisches Phänomen untersucht, obwohl er nur die eine Seite, die der Fans, zu Wort kommen lässt. Wie bemerkt einer der Interviewten: „Wir haben von ihm neue „Star Wars“-Filme gefordert, und das hat er geliefert. Wir haben ja nicht nach guten Filme verlangt.“

Harald Mühlbeyer

Filmfest München: Große Regisseure - Herzog, Solondz, Coppola, Scorsese

Schon am ersten Tag in München ging es von null auf 100 in 0,000 Sekunden: gleich vier Filme von renommiertesten Filmemachern standen auf dem Programm: Herzog, Solondz, Coppola, Scorsese.

Werner Herzog war letztes Jahr mit „Bad Lieutenant“ in Venedig, und als Überraschung hatte er „My Son, My Son What Have Ye Done“ auch gleich mit im Gepäck. Der lief jetzt hier, und er bestätigt Herzogs Faszination an amerikanischen Crimegeschichten. War „Bad Lieutenant“, das Ferrara-Remake, eine großartige Mischung aus Mainstreamkonvention und Herzogobsession, so steigt er in „My Son, My Son“ tief hinein in die Besessenheiten, in die Absurdität, die sein Werk immer wieder auszeichnet – und das vor dem Hintergrund eines True Crime-Falles. Michael Shannon spielt einen verkniffenen, brütenden, mit stierem Blick aus zusammengezogenen Augenbrauen die Welt mit innerem Wahn betrachtenden Sohn einer Mutter, wie sie sonst nur bei Hitchcock vorkommt, Willem Dafoe ist der Cop, der etwas hilflos mit dem SWAT-Team vor einer Situation steht: denn Shannon hatte seine Mutter per Samuraischwert getötet und sich mit zwei Geiseln zurückgezogen in deren rosafarbenes Haus zurückgezogen, und aus Rückblenden, die von seiner Verlobten und seinem Freund ausgehen, entwickelt Herzog das Porträt dieses Sohnes. Der eine innere Stimme hört, Gott vielleicht, der unter der Fuchtel der Mutter lebt, der, ja: verrückt ist, der in einer Theatergruppe sich verausgabt hat; der aber auch verrückt werden muss, in dieser Vorstadtidylle, die Herzog mit wenigen, effizienten Mitteln aushebelt. Mit leichter, latenter Skurrilität, mit Irrealismen, mit Überzeichnungen sticht er direkt ins Herz seines Films – wen wunderts, dass da David Lynch als Produzent fungierte.

Todd Solondz hat sich seinem Meisterwerk „Happiness“ (1998) wieder angenommen, erzählt in „Life During Wartime“ – mit neuen Darstellern – die Geschichte der drei Schwestern Joy, Trish und Helen weiter, die in ihrem Leben so viele Abgründe, so viele Perversionen kennengelernt haben; die nun zwischen Vergeben/Vergessen, Weltverbesserung, Verdrängung, Verstellung, Suche nach Glück, Lüge und Hoffnung auf Erlösung stecken: nacherzählbare Handlung gibt es da kaum, der Film lebt von seinen einzelnen Szenen, die er, oberflächlich gesehen, ohne besonderen Zusammenhang aneinanderreiht, die vor allem aus Dialogen bestehen – die aber intensiv unter die Haut gehen, jede für sich und alle zusammen, die das immanente Scheitern dieser Familie, das niemals aufhört, ganz genau auf den Punkt bringen.

Francis Ford Coppola hat wieder mal ein eigenes Drehbuch verfilmt, zum ersten Mal seit „The Conversation“ (1974), und man muss ihm zugute halten: „Jugend ohne Jugend“, vor ein paar Jahren ebenfalls in München gezeigt, war ein Film ohne Sinn und Verstand gewesen, jetzt, in „Tetro“, ist wenigstens wieder Sinn zu erkennen. Wenn auch dieser Sinn eigentlich keinen so richtig interessiert, wenn er nicht gerade besessen ist von Coppolas Familiengeschichte. Es ist die Geschichte zweier Halbbrüder: Benny besucht in Buenoa Aires Angelo, der sich jetzt Tetro nennt, der vor Jahren dem dominanten Vater, einem Dirigentengenie, geflohen ist, um Schriftsteller zu werden, und über zwei Stunden, weitgehend in Schwarzweiß, bohrt der Film hinein in die Verstrickungen und Machtverhältnisse der Familie Tetrocini – wobei es hilft, nein, vielleicht gar notwendig ist zu wissen, dass Coppolas Vater der renommierte Komponist Carmine Coppola war, der seinen Clan im Griff hatte – lustigerweise ähnlich, wie heute Francis seinen weitverzweigten Clan im Griff hat. Dieser Aspekt der Fortführung der Familiengeschäfte bleibt allerdings in „Tetro“ außen vor (will man das sehen, sollte man sich vielleicht den „Paten“ nochmals vorknöpfen), in „Tetro“ geht es um die Heilung vom familiären Trauma durch die Verarbeitung als Tanztheaterstück, und hier wird dann auch klar, was Coppola vorhatte: ein Gesamtkunstwerk als Film zu gestalten, in dem Musik (der Dirigent!), Literatur (der Schriftsteller!), Tanz (die in Farbe gestalteten Bilder innerer Traumata als Choreographien) und letztlich wohl auch Malerei (die ausgesucht komponierten Filmbilder) sich vereinen. Problem halt: es ist ein bisschen wie ein verklausulierter Zweistunden-Blick ins Fotoalbum einer fremden Familie, was für Außenstehende nicht so wirklich prickelnd ist – und zudem ertrinkt der Film in Redundanzen, in Doppelungen, alles wird, zwei, dreimal gesagt, und das ist halt das Problem, wenn eine Kontrollinstanz fehlt: Coppola hatte Drehbuch, Regie und Produktion in der Hand, und als Mitarbeiter viele seiner Familienmitglieder eingesetzt.

Von Martin Scorsese lief in deutscher Erstaufführung ein Dokumentarfilm von 1977, der nur für Festivals freigegeben ist – und das ist schon so was wie eine kleine Sensation. „American Boy“ lässt in 50 Minuten Stephen Prince in Kamera und Mikrophon Anekdoten aus seinem Leben erzählen, er war ein enger Freund von Scorsese, hatte ein paar Auftritte – in „Taxi Driver“ als Waffenhändler, in „New York New York“ wurde er rausgeschnitten –, und er kann stundenlang erzählen. Unterhaltsam, witzig, einnehmend: und das sind Geschichten, die eigentlich sehr tragisch sind. Wie er einmal knapp das Leben eines Kindes nicht hat retten können, das dann an Stromschlag gestorben ist; wie er mal überfallen wurde; wie er sich willig der Heroinsucht ergeben hat, als er Roadmanager war für Neil Diamond Anfang der 70er. Überhaupt Drogen!
Und Scorsese albert mit Prince herum, in dem Wohnzimmer, wo sie das alles aufgenommen haben, man merkt die Connection der beiden – das beleuchtet dann genauer die zweite Dokumentation des Abends „American Prince“ von Tommy Pallota.
Da wird über dreißig Jahre später Prince nochmals interviewt, hat von seinem Erzähltalent nichts verloren, wenn es um die Freundschaft mit Scorsese geht, wie sie zusammen gewohnt haben, Sex, Drugs and Rock’n’Roll zelebriert haben, an Filmen gearbeitet haben – prägnant, auf den Punkt, humorvoll präsentiert sich Prince, und die beiden Filme stehen dem in nichts nach.
Richard Linklater war einer der Interviewer in „American Prince“, Pallota ist Produzent von Linklaters Filmen, und in „Waking Life“ hatte er – als gezeichnete Figur – Prince schon mal auftauchen lassen, der die Geschichte erzählt, wie er einmal einen Mann erschossen hat, der mit dem Messer auf ihn zugerannt ist.

„American Boy“ hat einen legendären Ruf, zirkuliert als Bootlegfilm seit Jahren, hat viele inspiriert – Prince erzählt auch mal eine Story von einer Frau mit Überdosis, die nur mit einer Spritze mitten ins Herz wiederbelebt werden konnte. Tarantino hat das direkt übernommen in „Pulp Fiction“, eins zu eins – außer, dass Prince die Spritze wieder rausgezogen hat, nachdem die Drogenbeinahetote wiederauferstanden war, wie Prince gegenüber Pallota präzisiert.

PS: Der neue Film von Linklater, „Me and Orson Welles“, läuft auch in München; aber dazu später mehr, irgendwann.

Harald Mühlbeyer

Rückblick: IL CASO MORO (1986)

Die Aldo-Moro-Entführung im Film

Einführung

Terrorismusfilme sind nicht auf ein Genre begrenzt. Sie können ebenso intime Dramen sein wie laute Actionreißer oder engagierte Politthriller. Wie groß die Bandbreite sein kann, davon geben vier Filme eine Ahnung, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und zu verschiedenen „Zwecken“ – der Unterhaltung, der Kunst – einem Fall widmen, der zudem ein ganz realer war und ist: der Entführung und Ermordung des ehemaligen Premierministers und Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten Aldo Moro im Jahr 1978 durch die linksrevolutionären Roten Brigaden.



Noch bis heute ist – wie überhaupt hinsichtlich des Terrorismus der Roten Brigaden – vieles noch unaufgeklärt oder undurchsichtig: die Verstrickung der nationalen und internationalen Geheimdienste und der Polizei, Politklüngeleien und Geheimverbünde auf höchster Ebene, verschwundene Beweise, Morde. Die Ausgangslage, die Moro für manchen zur Zielscheibe machte, ist jedoch recht eindeutig. Moro als Führer der Democrazia Christiana, der ehemaligen katholischen Volkspartei, war Nato-Kritiker und verfocht den „Historischen Kompromiss“, ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei Italiens – was vielen in dieser Zeit des Kalten Krieges ein Dorn im Auge war und den linken wie rechten Ränder im Land weiter radikalisierten. Italien war ein Frontstaat, in dem sich nach dem zweiten Weltkrieg Alt- und Neufaschisten und etablierte Kommunisten, West und Ost ohne deutsch-deutsche Grenze und Berliner Mauer gegenüberstanden und die Furcht verbreiteten, das Land mal in die eine, mal in die andere Richtung kippen zu lassen.

Am 16. März wurde Moro auf dem Weg zu einer Sitzung in der Via Fani aus seinem Auto heraus entführt. Fünf Männer seines Begleitschutzes wurden dabei erschossen. Wie im Jahr zuvor in Deutschland im Falle Hanns-Martin Schleyers fanden schwarzweiße Bilder von Moro in seinem Volksgefängnis den Weg in die Öffentlichkeit, z.B. auf der Titelseite des Il Messagero, 17. März 1978: La foto di Moro nel carcere della brigate rosse. Ein Mann im Hemd, den Kragen offen, der Gesichtsausdruck erschöpft-fatalistischem oder aber fast lässig wirkend mit beinahe ironisch hochgezogenem Mundwinkel und dem etwas schräg gelegten Kopf. Hinter ihm eine Behelfsflagge, eckige Buchstaben darauf – BRIGATE ROSSE –, der fünfzackige eingekreiste Stern zwischen den Worten.

Die Brigadisten fordern die Freilassung von inhaftierten Genossen – fast die ganze Führungsriege, die erste Generation saß damals im Gefängnis. Moro schreibt Briefe in seiner Gefangenschaft, geht auch hart mit seinen Parteikollegen, darunter der schattenhafte Grandseigneur der italienischen Regierungspolitik Giulio Andreotti, ins Gericht. Doch während sich der Papst einschaltet, an die Menschlichkeit der Entführer appelliert und sich als Geisel anbietet, bleibt Andreotti hart. Es gibt kein Verhandeln, nur Großeinsätze der Sicherheitskräfte. Nach 55 Tagen wird Moro schließlich erschossen: Mit acht Kugeln „hingerichtet“ findet man ihm im Kofferraum eines roten Renaults in der römischen Via Michelangelo Caetani.

Il CASO MORO
Acht Jahre nach der Moro-Entführung drehte Giuseppe Ferrara IL CASO MORO nach dem investigativen Report Days of Wrath von Robert Katz. Ferrara hatte zuvor schon mit CENTO GIORNI A PALERMO (1984) einen nahezu klassischen Politthriller hingelegt – und dies war auch IL CASO MORO. Wobei „klassisch“ bedeutet, dass der Film wie Arbeiten Konstantin Costa-Gavras (z.B. ÉTAT DE SIEGE von 1972) oder aber Francesco Rosis LE MANI SULLA CITÀ (1963) nicht im eigentlichen, im hitchcock’schen Sinne „Thriller“ sind, insofern sie u.a. keiner Suspense-Dramaturgie folgen, sondern vielmehr den direkten Blick freigeben auf Hintergründe und Machenschaften, auf das Taktieren und Konspirieren. Entlarven und Aufklären steht bei ihnen im Vordergrund. Entsprechend gedreht ist auch IL CASO MORO: sachlich, nicht uneffektiv, jedoch unverkünstelt und auf den Punkt.



Moro wird gespielt von Gian Maria Volonté, ein bekanntes Gesicht des Genres. So spielte er 1971 den Bartolomeo Vanzetti in Giuliano Montaldos SACCO E VANZETTI über die beiden zu Märtyrern der Bewegung gewordenen Anarchisten in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er gab den Lucky Luciano in Francesco Rosis gleichnamigen Film von 1973 und hatte auch in Gillo Pontecorvos OPERACIÓN OGRO (1979) eine Rolle als ETA-Terrorist.

Die Besetzung Moros mit Volontés in IL CASO MORO hat einen unheimlichen Zug. Nicht nur, dass ihn eine frappante Ähnlichkeit mit dem realen Moro auszeichnete, er selbst hatte bereits in TODO MODO von Elio Petri einen dünn verschleicherten Moro („M.“) gespielt. 1976 war das, zwei Jahre vor der Entführung und Ermordung des Christdemokraten.

Der Blick des Schauspielers, vor allem auf der nachinszenierten „Aufnahme der Aufnahme“, dem berühmten Foto und der Reinszenierung ihrer Entstehung, ist allerdings stechender, eindringlicher, wie müde und resigniert Volontés Moro auch immer ist. Diese Wachheit macht ihn zur besonderen – und neben seiner Frau einzig – tragischen Figur in Ferraras Film, der eine Rekonstruktion der Ereignisse verteilt über alle Schauplätze liefert.

Zu Beginn sehen wir Moro im Kreis seiner Familie, wie er sich verabschiedet, von seinem Enkel, seiner Tochter, seiner Frau. Derweil bereiten die Terroristen, u.a. als Piloten und Flugpersonal verkleidet, den Überfall auf die Wagenkolonne vor. Nach dem blutigen Kidnapping wechselt der Film hin und her, zeigt den Krisenstab bei seinen Spekulationen und dem Planen und Ausführen von Straßenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Er zeigt die Politiker um Andreotti wie sie ihr Vorgehen, ein Nichtstun oder aber Hartbleiben abklären – was von der Familie Moros zunächst nicht geglaubt und schließlich verzweifelt verdammt wird.

Auf der anderen Seite: die Terroristen, wie sie planen und organisieren, die Entdeckung fürchten; eine Brigadistin, die ein Kommuniqué für einen Pressemann auf einem Fotoautomaten versteckt, Moros Briefe und Fotos, das politische „Verhör“ und Diskutieren mit dem Gefangenen in seiner kleinen klaustrophobischen Kammer. Jeder ist in diesem Film in Zugzwang: Die Terroristen, die immer mehr Gefahr laufen, von den Carabinieri, aber auch politisch eingekesselt zu werden. Die gegen Moros Willen einen Brief von ihm öffentlich machen.

Oder Moro, der immer mehr Briefe verfasst weil ihm auch sonst nichts zu tun übrigbleibt, der in seinen Schreiben appelliert, immer dringlicher und selbst in aller Ruhe immer verzweifelter wird und dabei sachlich mit den – ebenfalls nicht als blindwütig oder unbedacht gezeigten – BR-Entführern überlegt, was man noch tun könne. Auch die Terroristen debattieren und grübeln, wie sie bestmöglich aus der Sache rauskommen. Ein zähes Warten überall, derweil jeder auf allen Seiten fühlt, wie ihm die Zeit davonrennt.



Ferrara zeigt den Fall Moro als ein distanziertes Drama, eines, bei dem keiner gewinnen kann, bei dem auch keiner der Bösewicht ist. Vielleicht hat die Politik nicht alles getan, um Moro lebend wiederzubekommen – aber ist das nicht allzu leicht gesagt aus der Weisheit des Rückblicks? Und kann man das nicht immer behaupten, solange Terroristen nicht im vollen Umfang bedingungslos nachgegeben wird? Auch das Tun der Terroristen bleibt so schlüssig wie sinnlos. Ferrara jedenfalls enthält sich wohltuend einer Stellungnahme und überlässt sie den Parteien im Film (bzw. dem Zuschauer). Was er zeigt, war Mitte der 1980er vielleicht noch nicht vorbei, aber Geschichte.

In IL CASO MORO sind entsprechend das dramatische Gewicht und die Aufmerksamkeit verteilt, es ist ein Blick von oben. Lediglich Moro, passiv, eingekerkert, ist der tragische Mittelpunkt, der freilich aus der Not und Bedrängnis heraus zur Größe findet. Moro, der ruhig und überlegt seinen katholischen Glauben praktiziert – der bittet, alleingelassen zu werden oder einer von seinen Entführern auf Kassette aufgenommene Messe lauscht – und der bis ganz zuletzt noch einer stillen Hoffnung anhängt, die angesichts des Leidens der Familie, dem professionellen Kümmern der Sicherheitskräfte und ihrer Minister und dem angespannten Warten und Planen der Brigadisten als ein menschliches In-sich-Ruhen, als eine sonderliche Klarheit in all dem auch emotionalen Aktionismus, berührt.

Als schließlich der nervöse Anführer der Aktion Moro aus seinem Gefängnis holt weil man ihn nun freilassen werde und Moro mitspielt, dann ist das ein intensives zweiseitiges Wechselspiel aus Lüge und Selbsttäuschung, das sowohl sich wie auch den anderen schonen soll.

Wenn IL CASO MORO Stellung bezieht gegen das Machtkalkül der Regierenden, dann indem er Moro als Figur entpolitisiert und entpolitisieren muss. Vielleicht der merkwürdigste Zug des Politthrillers.

IL CASO MORO heißt der Film, der „Fall“ Aldo Moro also, was ihm und seinem Ansatz weit angemessener ist als der nach Verstrickung klingende deutsche Titel: DIE AFFÄRE ALDO MORO. Vieles wird noch zu erzählen sein zu diesem Fall: über üble Machenschaften und kaltes, eigentlich unmenschliches Kalkül, über rechten Antikommunismus und Terrorismusinstrumentalisierung, über die Loge P2 und die CIA. Bei Ferrara findet sich all das nicht – und muss es auch nicht.

(In Teil 2: John Frankenheimers YEAR OF THE GUN / VERLIEBT IN DIE GEFAHR (1991))

Bernd Zywietz
(Quelle: Terrorismus & Film)

Hans-Christian Schmid in Mainz

War vor kurzen erst Christian Petzold und Olivier Assayas zu Besuch in Mainz, darf man sich für kommende Woche erneut auf einen Regisseur von Rang freuen: Hans-christian Schmid, der zunächst mit NACH FÜNF IM URWALD und 23 - NICHTS IST WIE ES SCHEINT bekannt wurde.

Am Dienstag, den 29. Juni wird des im CAPITOL ein Gespräch zwischen dem Filmemacher dem Prof. Dr. Norbert Grob inkl. Filmvorfürhung von STURN (19.30 Uhr, Eintritt: 7 Euro / 6 Euro ermäßigt)

Noch bis zum 30. Juni läuft die Schmid-Retro mit folgenden Filmen und Terminen:

27.06. 20.00 Uhr Lichter
28.06. 20.00 Uhr Requiem
29.06. 19.30 Uhr Sturm (mit Filmgespräch - s.o.)
30.06. 20.00 Uhr Die wundersame Welt der Waschkraft


Infos und Programm HIER
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Heavy-Metal-Doku "Anvil!" im Biebricher Schloss, Wiesbaden

Am Freitag, 25.5., wird in der Filmreihe "Filme im Schloss" im Schloss Biebrich (Ostflügel), die hervorragende Dokumentation "Anvil!" über die gleichnamige Heavy-Metal-Band gezeigt, deren Geschichte eine des permanenten Scheiterns ist - ein Film, den wir nur empfehlen können: Harald Mühlbeyer hat den Film schon auf den Hofer Filmtagen gesehen und war begeistert.

Hingehen, headbangen, herzlich lachen!

Screenshot Classic: Krankenakte 007 - Wie der wahnsinnige James Bond seit 50 Jahren sich und die Welt narrt

von Bernd Zywietz


Wie konnten wir das all die Jahrzehnte übersehen? Hat er uns so betöret, dieser strahlende, originelle Held mit seinem Luxus, der Heroe der neuen, modernen Zeit, dass wir vielleicht noch erkannten, wessen (Zeit-)Geistes Kind er war – nicht jedoch, wie er uns und sich in seinem Irrsinn täuschte? Wollten wir uns etwa von diesem übermäßig virilen Auftreten blenden lassen, von seiner Edelgarderobe, den teuren Autos und seinen überwältigenden Jet-Set-Abenteuern voller Sex und Gewalt?

Menschenleben sind auf diesem Holzwege verloren gegangen und vor allem viele Frauen könnten noch am Leben sein, wenn man nur rechtzeitig bemerkt hätte, was in und um seine Filme herum so offensichtlich war! Vielleicht wollten wir es nicht sehen, weil er so mustergültig und archetypisch unsere Träume auslebte. Wollten nicht wahrhaben, dass es in Wahrheit Albträume waren, Phantasmen, Hirngespinste, an denen wir voller Wonne teilnahmen. Er lullte uns ein, wir sind mitschuldig.

James Bond 007, von Sean Connery bis Daniel Craig ist ein tragischer, gleichwohl gemeingefährlicher Psychopath. Sicher, ein Frauenfeind und Faschist wurde dieser britische Geheimagent bereits geschimpft, im harmlosesten Fall noch als Fantasiegestalt der Büromännchen, die da ins Kino gehen. Doch dass dies bestenfalls an der Oberfläche kratzt, hätte uns der Umstand klarmachen müssen, dass dieser Geheimagent eine der bekanntesten, populärsten Figuren der Erdballs ist!

Ich selbst nehme mich nicht aus; auch ich hätte die Zeichen lesen und Schreckliches verhindern können. Vesper Lynd (Eva Green) könnte so noch am Leben sein, auf jeden Fall aber eine gewisse Fields, die als eindeutig fetischisierte Wiederholungstat ihr grausiges Ende findet!

Deshalb schreie ich es heraus: Der allseits so bejubelte Geheimagent 007 im Dienste Ihrer Majestät James Bond ist eine gespaltene Persönlichkeit, die nicht nur als Superschurke sich selbst den ärgsten Feind gibt, sondern auch eigenhändig all die Frauen tötet, die ihm zu nahe kommen. Diese tragisch-diabolischen Taten schiebt seine gestörte Seele wiederum, um es zu bewältigen, seinem jeweiligen (meist Ernst Stavro Blofeld geheißenen) Widersacher in die Schuhe. Ob dieser – nur in Bonds Phantasie existente – Bösewicht von seinem Unterbewusstsein nur zu diesem Zweck kreiert wurde, oder ob dieser Mr. Hyde die Morde an all den schönen, langbeinigen Damen erst „erzwingt“ – was also Huhn und was Ei ist – vermag ich nicht zu sagen.

Klar ist nur, dass James Bond als heimlicher Schurke weniger einem Keyser Soze als einem Norman Bates gleicht. Ein tragischer, umso unerträglicherer Fall, der die erschreckenden Multiple-Persönlichkeits-Akten wie „Fight Club“ und ihr unzuverlässiges Erzählen im Kino lange vorwegnahm, ohne dass jemand es auch nur ahnte. (In gewisser Weise gilt dies auch hinsichtlich „Memento“ oder der hier absurden Interpretation des Bond-Falles „Angel Heart“).

Sie wollen es nicht glauben, verlangen Beweise; einen kleinen Einblick in die Krankenakte 007? Wohlan…


I. Prädisposition

In Mythos 007, dem von Andreas Rauscher, Georg Mannsperger, Cord Krüger und mir herausgegeben Werk zu James Bond als popkulturellem Phänomen, verwies ich darauf, ohne die ganze Dimension selbst zu erfassen. Bond ist krank qua Herkunft; seine Schizophrenie ist, zumindest als Anlage, vererbt.

007 ist quasi das Kind zweier Vorbelasteter, das des Sherlock Holmes (und anderer armchair detectives, vor allem aber diesem brillanten Schnüffler aus der Londoner (!) 221B Baker Street, der belegt, wie nahe Genie und Wahnsinn zusammen liegen) sowie des Helden der Hard-Boiled- bzw. der Film-Noir-Krimis.

Zunächst: Sherlock Holmes. Von diesem Papa hat James Bond nicht nur die Noblesse und den Hang zum Exklusiven geerbt, sondern auch den inneren Größenwahn, der sich seinen eigenen, angemessenen Gegner schafft. Was Bond sein Blofeld war Sherlock Holmes sein Prof. James Moriarty. „Kein Koks für Sherlock Holmes“ („The Seven Per-Cent Solution” von Herbert Ross, USA 1976, nach dem Roman von Nicholas Meyer) klärt auf, dass dieses ebenbürtige und – wie Blofeld – im Hintergrund die Ränke schmiedende Verbrechergenie, das bezeichnenderweise in den verfälschten Aufzeichnungen des Arthur Conan Doyle kaum und wenn, dann fast ausschließlich durch Holmes Bericht (!) in Erscheinung tritt (ein Umstand, den es auch hinsichtlich Bond in Gedächtnis zu behalten gilt) – dass dieser Prof. Moriarty nur von Sherlock Holmes erfunden wurde. Seine Schandtaten gingen in Wirklichkeit auf Holmes’ Konto. Erst Siegmund Freud konnte den Meisterdetektiv aus diesem drogeninduzierten Irrsinn erlösen.

Ähnliche Hilfe blieb James Bond bislang versagt, und es ist schon sehr beredt, wie herablassend 007 mit dem – natürlich weiblichen – Psychologen in „Goldeneye“ (1995) umspringt oder auf jede andere Gelegenheit der äußeren Heilung und für sein unentdecktes Alter Ego gefährlichen, innere Besinnung wie in „Thunderball“ (1965) bzw. „Never Say Never Again“ (1983) (Wiederholungszwang!) mit der Erfindung eines prompten Bedrohungsszenariums reagiert.

Gegenüber den eher passiven, beinahe noch edlen Nobel-Detektiven hat der Beamte Bond nun kaum noch die Rückzugsmöglichkeiten in den sozialen Stand als Korsett. Die Stütze des 007-Egos sind daher logischerweise überlebensgroße Schufte, denn nur sie bieten das richtige Maß in einer profanisierten Welt, in der es den Luxus aus dem Angestelltenverhältnis heraus erst zu erfinden und dann zu erhalten gilt. Als ein solcher „Gassenbulle“ stammt Bond wiederum von den Privatdetektiven wie James Spade oder Philip Marlowe ab. Von ihnen hat er das Raue geerbt, den schnellen, kalten Umgang mit den Frauen, das Physische, die Bewegung und das blanke Agieren (die Action) darin.

Doch auch diese Helden in ihrer Souveränität haben sich in der späten Phase des Film Noir als nicht nur seelisch, sondern nachgerade geistig kranke Männer erwiesen. Nicht nur als neurotisch entpuppten sie sich: Michael Sellmann zeichnet in seinem Buch (Hollywoods moderner "Film noir": Tendenzen, Motive, Ästhetik. Würzburg, 2001) nach, wie bis – ganz markant – David Lynchs „Lost Highway“ die Noir-„Helden“ Opfer einer pathologischen Subjektive und „ihre“ Filme als ihre Wahnvision, ihr mindscreen zu deuten sind. So liegt Lee Marvin als Walker tatsächlich nach dem Raub angeschossen auf Alcatraz und träumt sich das Geschehen von „Point Blank“ (1967) sterbend zusammen.

Dementsprechend fällt es schwer, die Welt des James Bond als eine völlig überzogene zu entlarven. Schließlich bietet sie keine Vergleichmöglichkeit mit der Wirklichkeit – wir bekommen alles durch die Brille von 007 (ob mit oder ohne Röntgenmodus) präsentiert. Doch schon ein Blick außerhalb des Films auf die realistische Arbeit der Geheimdienste und ihrer kleinen Agenten, wie sie John Le Carré bietet, macht deutlich, wie Bond mit seinem Liebes-, Todes- und Weltreiseabenteuern in seinem Kopf der grauen Welt des Büroalltags und der eigenen Bedeutungslosigkeit zu entfliehen versucht – dorthin, wo man als wenig anziehender Beamter auch sexuell der „Herr“ ist (sehen Sie hierzu meinen Text Zweierlei Arten Held. Die Spione der Herren Ian Fleming und John LeCarré in der Screenshot-Printausgabe Nr. 26 (2005)).



II. Frauenmörder Bond

Da Bond tatsächlich diesen amourösen Episoden nicht gewachsen ist, die er auf der Jagd nach sich selbst bzw. dem Superverbrecher in seinem Kopf aus Gründen der Männlichkeit zu machen gezwungen ist, nötigt ihn dazu – um die Imagination seiner Potenz oder Überlegenheit der Frau gegenüber behaupten zu können –, die Damen sterben zu lassen. Dafür ist dann „der Bösewicht“ verantwortlich (oft haben diese Frauen ihn „verraten“), d.h. Bond selbst, in Form seines anderen, dunklen Ichs.

Die Filme führen dies permanent vor Augen und belegen dabei auch über die Jahre hinweg psychodynamische Linien und unterschiedliche, gleichwohl wiederkehrende Problemschemata und ihre Grade. Dabei wird deutlich: James Bond ist ein Serienmörder mit mehreren parallelen Tatmustern.

Gerade die (vermeintlich) sexuelle aggressiveren Frauen wie Fiona (Luciana Paluzzi) in „Thunderball“ oder Helga Brandt (Karin Dor) in „You Only Live Twice“ (1967) – beide rothaarig! – kommen kurz nach dem geschlechtlichen Stelldichein ums Leben, ob erschossen (die einzige Waffe Bonds ist die Pistole) oder angeblich im Piranhabecken des Bösewichts. In beiden Fällen sind keine offiziellen Stellen dabei, Bonds Version zu belegen, bzw. die Variante, von der nur der Schurke (!) wissen kann, zu bestätigen. Ebenso geht es in „Live And Let Die“ (1973) mit der schwarzen Rosie Carver (Gloria Hendry), die von Vogelscheuchen erschossen worden sein soll, während sie bezeichnenderweise vor 007 davonlief.

Auch in weiteren Fällen kommen verdächtigerweise die so genannten Girls ums Leben, wenn nur Bond zugegen ist oder aber in der abgeschiedenen Gegenwart des Schurken und auf dessen Geheiß. Ein besonders signifikanter Fall ist der Tod von Jill Masterson (Shirley Eaton) in „Goldfinger“ (1964). Nachdem sie ihren Auftraggeber verraten hat und daraufhin mit Bond im Bett war, wird der Geheimagenten beim Champagnerholen hinterrücks „niedergeschlagen“, um, als er wieder zu sich kommt, Ms. Masterson nackt und tot mit Gold überzogen auf dem Lasterlager vorzufinden.

Die Version, der stumme koreanische Diener Goldfingers habe seine Hand im Stil, hat all die Jahre plausibel geklungen. Doch gerade aktuell, nach vierzig Jahren, findet sich in „Quantum of Solace“ (2008) ein bemerkenswert ähnlicher Todesfall: Im einem Hotelzimmer im bolivianischen La Paz findet der Geheimdienst die tote Angestellte Fields (Gemma Atterton) in derselben Pose wie Masterson, nackt ausgestreckt auf dem Bett, diesmal allerdings ölverschmiert. Wieder ist Bond überrascht und schockiert – ehrlich, wie wir glauben wollen –,
doch es drängt sich der Verdacht auf, dass er ebenso Fields selbst getötet hat, wie er in 1964 nicht aus einer Bewusstlosigkeit bedingt durch Fremdeinwirkung erwachte, sondern aus einer mörderischen Trance! (Noch einmal sei hier auf „Angel Heart“ verwiesen.)

Dass Fields nun mit Öl beschmiert ist, ist selbst wiederum ein Indiz: Um die Herrschaft über diesen Rohstoff ging es auch der kriminellen Elektra King (Sophie Marceau) in „The World Is Not Enough“, die Bond emotional tangierte, dabei böse täuschte und von ihm offen und offiziell zuletzt niedergeschossen wurde.

Hier kommen wir zum zweiten Opfertypus des heimlichen Serienmörders James Bond, dessen erster Kinoauftritt nicht umsonst auf das Jahr nach dem Start von Alfred Hitchcocks „Psycho“ datiert ist: Menschen, die Bond zu nahe kommen und von im sozusagen aus Notwehr getötet werden, um das konsistente Selbstbild vom kalten, harten und legitimierten Killer aufrecht erhalten zu können.

Dabei fallen ihm nicht nur Frauen arglos zum Opfer: in geradezu ödipalem Wahn meuchelt Bond gute und meist väterliche Freunde, um sie hernach, wenn er wieder bei sich ist, zu beklagen und ihren Tod rächen zu können. Ob Ali Kerim Bey (Pedro Armendáriz) in „From Russia With Love“ (1962), Sir Godfrey Tibbett (Patrick Macnee) in “A View to a Kill” (1985) oder, gerade auch wieder in „Quantum of Solace“, der bedauernswerte Mathis (Giancarlo Giannini), dessen Pech es war, Bond beim übermäßigen Konsum von Wodka Martini zu überraschen und der damit unwissentlich sein eigenes Todesurteil unterschrieb.

Besonders tragisch müssen die Frauen wegen Bonds mörderischer Triebe dran glauben, die ihn gar auf sozial-institutioneller Ebene zu „kastrieren“ drohen, soll heißen durch Heirat. Lediglich Kissy Suzuki (Mie Hama) kommt davon, da ihre Vermählung mit Bond in „You Only Live Twice“ nur der Tarnung gilt und sie in Bonds Blick als unterwürfige Japanerin (Beweis für die rassistischen Schemata, auf die 007 im Notfall zurückgreift) keine emotionale Gefahr für ihn darstellt.

Wie in vielen Krankheitsbildern wird auch Bonds Pathologie im Lauf der Zeit markanter, so dass die letzten Filme, wie der bereits erwähnte „Quantum“, besonders deutlich Bonds Wahn darstellen. In „Casino Royale“ ist es das Ende von Vesper Lynd, für die 007 seinen Beruf aufgeben wollte, das besonders verdeutlicht, wie gemeingefährlich der Schatten-Bond unter der Schale des kessen Lebemannes ist: Als sie in Venedig mit der Fahrstuhlkabine im Wasser versinkt, schließt sie sich ein, damit er nicht an sie herankommt. Selbst wenn dies wahr sein sollte (wiederum steht uns nur Bonds unzuverlässige Perspektive zur Verfügung, und komischerweise bekommt Bond den Käfig erst auf, als Vesper schon ertrunken ist), wird die furchtbare Wahrheit selbst durch die verzerrte Wahrnehmung hindurch deutlich: Kurz bevor Vesper stirbt, reißt sie die Augen auf, streckt abwehrend die Hand aus und stößt einen letzten, blubbernden Schrei aus. Der Anlass ist klar: In ihren letzten Augenblicken wird die arme Geliebte Bonds wahren Antlitzes gewahr, einer hämisch grinsenden Fratze irrer Mordlust, die sich gleich des weißen Hais bei Spielberg durch die schützenden Metallmaschen hindurchzubahnen droht. Zu sehen ist dies leider nur in ihrem Gesicht, schließlich ist es ja Bonds Perspektive, die der Film vermittelt.

Wie „dezent“ gegenüber „Casino Royale“ fiel noch Bonds erster, tragischer Verlust im Jahre 1969 aus, der bereits hätte Argwohn erwecken müssen und die engen Verknüpfung vom Tod der Frau mit der anscheinenden Involviertheit des mysteriösen Superverbrechers demonstriert, auf dessen chimärenhafte Existenz ich hernach eingehen möchte.

In „On Her Majesty's Secret Service” ist Bond auf der routinierten, unergiebigen Suche nach seinem Alter Ego, dem Verbrecher Blofeld. Wie sehr diese Phantasiegestalt sich abzunutzen beginnt, zeigt der Umstand, dass sich 007 nebenbei in die schöne adlige (!) Tracy Di Vicenzo (Diana Rigg) so richtig verliebt. Diese einschüchternde Frau versucht er in Schach zu halten, indem er über sie bzw. ihren Vater (!) an Blofeld heranzukommen vorgibt. Kaum ist Bond mit Tracy verlobt, wird eine Spur zu Blofeld gefunden. Zuletzt, nach dem Sieg über Blofeld – der mit lauter schönen, unwissenden Frauen die Menschheit zu sterilisieren droht, wogegen Bond im (Schotten-)Rock vorgeht – heiratet 007 tatsächlich, kündigt gar. Woraufhin geradezu zwangsläufig Blofeld wieder auftaucht, um Tracy zu erschießen und zu flüchten.

Diese Version des Hergangs ist äußerst fadenscheinig (natürlich geschieht alles auf einer leeren Landstraße), zumal hier besagter Blofeld seltsamerweise zum ersten und letzten Mal ohne „Tod“ davonkommt. Mich jedenfalls würde es nicht wundern, wenn die Einschüsse in Windschutzscheibe und Stirn der armen Tracy tatsächlich aus Bonds Walther PPK stammen würden …


III. Der Schurke: Phantasieprodukt des Spions


Dass nun ein gerissener und durch seine Branche teilweiser geschützter Serienmörder wie Bond all die Jahre heimlich Menschen töten konnte, mag schrecklich sein, ist aber angesichts all der Jeffrey Dahmers und Henry Lee Lucas’ (nicht verwand mit George) weniger unglaublich als die Tatsache, dass 007 als kleiner Beamter unkontrolliert Abermillionen an Steuergeldern verpulvern darf, um arglose Größen der Wirtschaft und Gesellschaft zu diffamieren, zu ruinieren und ums Leben zu bringen – aber auch, um überlebensgroßen Bösewichtern und Verschwörern hinterherzujagen, die nur in seinem Kopf existierten.

James Bond ist angesichts seiner geistigen Störung bzw. verzerrten Wahrnehmung weniger ein Vorwurf zu machen, als das der Skandal darin liegt, dass ganze Staatsapparate ihm dabei unbekümmert und geradezu skrupellos fahrlässig zu Diensten waren! Und das auf geradezu wahnwitzige Vermutungen und Anschuldigungen hin!

Erinnert sei nur an den unglückseligen zurückgezogen lebenden Meeresbiologen und Reeder Stromberg. Dessen sardinisches Heim wurde auf Bonds Behauptung hin, er stehle Atom-U-Boote mit einem Schiff, um den dritten Weltkrieg anzuzetteln, 1977 torpediert („The Spy Who Loved Me“). Niemandem fiel auf, dass 007 mit einer ähnlichen Geschichte bereits zehn Jahre zuvor Aufmerksamkeit erregte: Von einem ausgebauten Vulkan in Japan aus fange jemand Weltraumkapseln ab, um die Supermächte in einen Konflikt zu treiben („You Only Live Twice“). Selbst die haarsträubende Geschichte, ein Ex-Kollege – nachweislich seit Jahre tot – wolle von Kuba aus mit einer alten russischen Weltraumwaffe den Großraum London elektronisch zurück in die Steinzeit versetzen („Goldeneye“), war nicht Grund genug für eine eingehende betriebsärztliche Untersuchung. Man nahm stattdessen hin, dass mögliche Beweise für diese Räuberpistole nach ausgedehnten Explosionen, die auf Bond selbst zurückzuführen sind, nicht mehr aufzufinden waren. Japanische Ninjas, als Einzige bei diesen drei genanten Fällen als jemand Außenstehendes vor Ort, waren schon allein aufgrund der Sprachbarriere keine hinreichenden Leumundszeugen für diesen Humbug.

Selbst Investmentbanker, die vor der Zeit Pech mit Aktienspekulationen hatten („Casino Royale“), sind vor 007 nicht sicher: „Bond“ als englische Bezeichnung für Obligation oder Anleihe, zeigt, wie sehr der arme LeChiffré unwissentlich dem verrückten Agenten mit seinen unschuldigen Finanzdienstleistungen zu nahe kam. Und besonders versteifte sich 007 auf einen jungen, sportlichen britischen Adligen namens Gustav Graves. Dieser war in Bonds wirrer „Wirklichkeit“ ein kleinwüchsiger, nordkoreanischer Obrist, der sich mittels „Gen-Therapie“ (wiederum: auf Kuba!) mit Bond als Vorbild (!) „verwandelt“ habe („Die Another Day“).

Man kann fast froh sein, dass Bond dem Umweltaktivisten Dominic Greene (Mathieu Almaric, ein Franzose eben) lediglich unterstellt, die Wasserressourcen Boliviens in seine Gewalt zu bekommen. Belege ließen sich dafür natürlich abermals nicht finden, vor allem nicht, nachdem ein neues Ferienressort komplett ruiniert worden ist.

Besonderes Misstrauen hätte jedoch Bonds immer wiederkehrender Widersacher Blofeld erregen müssen. Wie Großpapa Holmes’ Moriarty bewegte der sich zunächst unsichtbar im Hintergrund. Muss das Wort Paranoia hier wirklich fallen? Später wird Blofeld als gesichts- und namenloser Drahtzieher vorgestellt, der nur von hinten („From Russia With Love“) oder von Jalousien verdeckt („Thunderball“) zu sehen ist.

Der Fall ist hier völlig klar: Nachdem Bond diesen seinen ominösen Gegenpart ersonnen hat, ist er schnell gezwungen, ihm auch in leibhaftige Form Gestalt zu verleihen. Es ist daher anzunehmen, dass es Bond selbst war, der auf einem Boot Anweisungen erteilte oder durch Sichtblenden hindurch Gaunertreffen moderierte. Die Informationen aus seinem Amt waren dabei zweifellos hilfreich.

Von da an war es nur ein kleiner Schritt zu jener Verfestigung der Spaltung, die es ermöglichte, dass Bond sich seinem anderen „Ich“, jenem mabusischem „Blofeld“, buchstäblich gegenübersah. Es fällt auf, dass dies in „You Only Live Twice“, „On Her Majesty’s Secret Servie“ und „Diamonds Are Forever“ der Reihe nach immer früher, leichter und routinierter geschah. Im letzten Auftritt gibt es gar mehrere „Blofeld-Doppelgänger“; hinzukommt, dass Blofeld die Identität eines renommierten Industriellen „stielt“ usw. Als Bonds eigener Gegenentwurf ist dieser Blofeld (der übrigens über die Zeit sein Aussehen verändert!) entsprechend verunstaltet bzw. unattraktiv und modisch zurückgeblieben.

Dass Bond dieser Blofeld selbst ist, belegt u.a. das typische blofeld’sche Erkennungsmerkmal: die weiße Katze. Angeblich sieben Mal sei dieser Blofeld in Erscheinung getreten („From Russia with Love“, „Thunderball“, „You Only Live Twice“, „On Her Majesty’s Secret Servcie“, „Diamonds Are Forever”, „For Your Eyes Only” und „Never Say Never Again“). Nun ist dies wenig verwunderlich, angesichts von Bonds Agentennummer, der 007.

Interessanter ist, dass, da man aufgrund der Doppelgängerei in „Diamonds Are Forever“ es zusammen genommen mit acht Katzen zu tun hat. Acht Muschis verweist prompt auf „Octopussy“, Bonds Herzensdame 1984 und dem ersten Abenteuer, das ohne alleinigen Superschurken auskommt. (Ähnliches könnte man freilich bereits für den Film davor, „For Your Eyes Only“ behaupten. Doch da entsorgt Bond per Hubschrauber einen „Blofeld“ gleich in der Vortitelsequenz in einem Industrieschornstein. Es ist davon auszugehen, dass 007 in seinem Wahn dabei einen armen, unschuldigen Rollstuhlfahrer mit Haarwuchsproblemen getötet hat, der arglos mit einer Fernsteuerung auf seinem Schoß zur falschen Zeit am falschen Ort war).

Es ist müßig zu erwähnen, dass ein Oktopus das Zeichen von SPECTRE, der globalen Verbrecherorganisation Blofelds ist. Den Kraken trägt der Anti-Bond denn auch auf seinem Ring. Und ebenso ist zu erwähnen, dass niemand – außer hypnotisch manipulierte Frauen in „On Her Majesty’s Secret Service“ – dieses Phantom Blofeld außer Bond je zu Gesicht bekommen und (dank Bond!) überlebt hat (Irma Blunt aus dem gerade genannten Film kann und muss der Blofeld-Phantasie Bonds zugerechnet werden).

So gesehen ist es auch kein seltsamer Zufall mehr, das Bond gleich zweimal im jeweils selben Sanatorium abgestiegen ist, in dem ein falscher Luftwaffenoffizier für die Entführung zweier atomarer Bomben bzw. Cruise Missiles vorbereitet wird (in „Thunderball“ und „Never Say Never Again“ – zweimal zweimal zwei verweist hier mehrfach und überdeutlich auf die doppelte Persönlichkeit des DOPPEL-Null-Agenten Bond. Weiterhin ließen sich die zwei Schwestern Masterson in „Goldfinger“ anführen, die zwei Auftritte des Beißers „Jaws“ – mit zwei Stahlzahnreihen! –, die zwei homosexuellen Killer in „Diamonds Are Forever“ usw.).

Es ist kurz gesagt kein glücklicher Zufall oder Beweis für die Ermittlungsleistung Bonds, dass er prompt immer da auftaucht, wo Blofeld und die Schurken aktiv werden. Eher deutet alles darauf hin, dass die kriminellen Machenschaften, die zweifelsohne trotz der Übertreibungen von 007 bestehen, auf ihn selbst zurückzuführen sind, ohne, dass er selbst davon eine Ahnung hätte.

Wie gestört James Bond in dieser Hinsicht bereits seit Jahrzehnten ist, lässt sich auch außerhalb seiner selbst zurechtfantasierten Agentenabenteuer ausmachen:

Unter dem Decknamen Sean Connery tötete er in Sidney Lumets „The Offence“ (1972) beim Verhör einen Verdächtigen für ein widerliches Verbrechen, das er selbst begangen hat, und bewies in John Hustons „The Man Who Would Be King“ (1975) tyrannische Ambitionen. Als Roger Moore ließ er seine Spaltung in „The Man Who Haunted Himself“ (1970) unerklärt und doch explizit zu Tage treten.

007 trat überdies unter dem Namen „Timothy Dalton“ nur ZWEIMAL auf, war als George Lazenby Australier (deutlicher geht’s wohl kaum!), und wie er als Pierce Brosnan in John Boormans „The Tailor of Panama“ nach John LeCarré einen kleinen Blick auf seinen wahren Alltag als Geheimagent gestattet, in dem er sich selbst zum Superspion stilisiert, habe ich bereits in dem o.g. Screenshot-Artikel ausgeführt. Erwähnt werden sollte hier allerdings nochmal, dass John Boorman den ebenfalls bereits genannten Film „Point Blank“ inszenierte, in dem laut Sellmann alles nur eine Todesvision des sterbenden Anti-Helden ist.

Schluss

Noch mehr ließe sich hier zum Fall James Bond sagen, doch die Fakten sprechen meines Erachtens soweit für sich, dass die Gefährdung, die von diesem Mann mit der Lizenz zum Töten ausgeht, eindringlich genug erscheint, um die notwendige Behandlung durch kompetente ärztliche Fachkräfte zu veranlassen. Zweifelsohne ist es tragisch. Auch werden einige die Dringlichkeit der Hilfe, die diesem „Helden“ zuteil werden muss, nicht einsehen wollen. „Wie kann das sein?“, „Das ist doch unmöglich?“, „Wir konnten doch nicht so lange getäuscht werden!“ All diese Regungen sind verständlich, die Verwirrung und der Zorn nur natürlich, das Händeringen und Haare Raufen. Doch nur, weil er uns auf der Leinwand und dem Fernsehen solche Freude bereitete, dürfen wir nun nicht den Kopf in den Sand stecken. Um James Bonds und unser aller Willen.

Im Übrigen möchte ich Sie bereits auf den nächsten Fall hinweisen, bei dem es um die unglückliche Wahrheit der verzerrten Weltdeutung von Darth Vader geht.

Filmfest München 2010: Ein Anfang mit „Me Too – Wer will schon normal sein“

Nach – nein: während dem Ludwigshafener Filmfestival fängt schon das Münchner Filmfest an. Mit Andreas Rauscher und Harald Mühlbeyer covert Screenshot ab morgen, 25. Juni, das große Sommerfestival an der Isar: mit täglicher Blog-Direktberichterstattung aus München, wo eine Menge hochinteressanter Filme in deutscher Uraufführung auf uns warten.

Zum Eröffnungsfilm „Me Too – Wer will schon normal sein“ von Alvaro Pastor und Antonio Naharro (Originaltitel: „Yo Tambien“) gab es in Frankfurt schon eine Pressevorführung, der Film startet offiziell am 5. August in Deutschland. Und für München ist das auch ein guter Eröffnungsfilm, wenn auch nicht vergleichbar mit der Vorjahres-„Parnassus“-Eröffnung, oder dem Jahr 2008, als der Goldene-Palme-Gewinner „Die Klasse“ eröffnete.

„Me Too“ ist eine Wohlfühl-Liebesgeschichte mit dem gewissen Kniff. Es geht nämlich um Daniel, den ersten Down-Syndrom-Behinderten mit akademischem Diplom im Europa – gespielt von Pablo Pineda, der tatsächlich als erster Mensch mit Down-Syndrom ein Diplom erhalten hat. Daniel beginnt zu arbeiten in der Ministrialabteilung für Menschen mit Behinderung, und mit schönen kleinen Details beschreiben Pastor und Naharro, wie Daniel von anderen behandelt wird: betulich, von oben herab, überfürsorglich, sorgsam darauf bedacht, ihn, den Behinderten, einerseits nicht zu überfordern, ihn andererseits gleich zu behandeln; im Grunde wird er mit kleinen Gesten, mit gewählten Worten genau dadurch diskriminiert, dass er krampfhaft nicht diskriminiert wird.

Auch Kollegin Laura weiß nicht so recht, wie sie locker mit Daniel umgehen soll; trotzdem entwickelt sich zwischen beiden eine Freundschaft, die von Daniels Seite aus gerne auch mehr sein könnte. Ihr Näherkommen: das beschreibt der Film ganz behutsam; wobei gerne die Charakteristik der beiden noch schärfer hätte herausgearbeitet werden können: Wie Daniel einfach dazugehören will, als Normaler betrachtet werden möchte, das ist schon klar – der Filmtitel sagt es ja auch, wenn auch seltsamerweise auf englisch –, doch Laura wird als eine Art Gegenstück eingeführt, die sich abheben möchte, die sich störrisch der Anpassung widersetzen soll. Wobei diese kleine Rebellion sich vor allem darin ausdrückt, dass sie im Büro manchmal keinen BH trägt, dass sie gefrustet ist von allzu pauschalen und dadurch ungerechten Vorschriften, dass ihre Haare blondiert sind, und dass sie oft genug sich nächtens mit fremden Männern einlässt, was ihr im Kollegentratsch den Ruf der Büroschlampe einbringt. Das ist nicht viel an Rebellion, und nicht sehr außergewöhnlich, zumal diese Unangepasstheit, die an sich keine ist, im Film erklärt wird durch Lauras schwieriges Verhältnis zu ihren Brüdern, vor allem zum Vater, der gerade im Sterben liegt.

Ein zweites ist, dass der Film allzu oft den naheliegenden Weg geht, dass er in seiner Dramaturgie, im Aufbau seiner Szenen, in der Auswahl seiner Filmbilder nichts Überraschendes, nichts Raffiniertes aufweisen kann. Andererseits: wenn der Film zwar offensichtlich nach bekanntem Schema vorgeht, aber dennoch als Geschichte funktioniert, als Geschichte einer Freundschaft und Liebe über die Grenzen des „Normalseins“ hinweg, dann haben die Filmemacher eben doch etwas richtig gemacht.

Zwar postuliert Daniel gleich am Anfang, als ersten Satz, eine Art Motto, das das Schlimmste befürchten lässt: „Gesellschaften, die Minderheiten ausgrenzen, sind verstümmelte Gesellschaften“ – ein agitierendes Traktat ist der Film gottseidank nicht geworden, sondern eben doch ein rührender, auch witziger, durchweg solide inszenierter Sommerfilm.

Harald Mühlbeyer


„Me Too – Wer will schon normal sein“
Regie, Buch: Alvaro Pastor, Antonio Naharro.
Mit Lola Dueñas (Laura), Pablo Pineda (Daniel) u.a.
Länge: 103 Minuten.
Verleih: Movienet.
Kinostart: 5. August 2010.

Grindhouse in Mannheim: Schreckliche Mädchen

Am Samstag, 26. Juni, ist es ab 21.30 Uhr wieder soweit: Im Mannheimer Cinema Quadrat findet wieder die monatliche Grindhouse-Doppelnacht statt - diesmal allerdings ohne Redakteur Mühlbeyer im Publikum.

Gezeigt werden:

Terrifying Girls' High School: Lynch Law Classroom


JAP 1973. R: N. Suzuki.

Drei jugendliche Delinquentinnen werden in eine repressive Besserungsanstalt für kriminelle Straftäterinnen eingeliefert. Bald merken sie, dass in der Anstalt Gewalt, Unterdrückung und Korruption regieren, gemeinsam organ isieren sie einen sorgsam geplanten Aufstand. Das System wird mit den eigenen Waffen bekämpft…

Und:

Ein Überraschungsfilm. Der unverbindlichen Ankündigung im letzten Monat nach ein Frauengefängnisfilm.

Festival des deutschen Films, Ludwigshafen – „Die Mondverschwörung“

Thomas Frickel erforscht in seinem Dokumentarfilm „Die Mondverschwörung“ die Untiefen der deutschen Esoterik- und Verschwörungstheoretikerszene. Dafür bedient er sich eines einfachen, aber wirkungsvollen Tricks: er setzt einen Interviewer ein, der vorgeblich naiv und wohlwollend all den Spinnern zuhört, die da ihren Quatsch erzählen. Und weil der Mann mit dem Mikrophon so nett ist und so jovial nickt, plappern sie munter drauflos. Dennis R. D. Mascarenas ist dieser gemütliche Amerikaner, der die Deutschen erforschen möchte, ein dicker, behäbiger Mann irgendwo zwischen Michael Moore – wie er sich an die Gesprächspartner ranwanzt – und Alfred Hitchcock (in lustigen Filmtrailern oder „Alfred Hitchcock-Hour“-Anmoderationen) – wie er mit ironischem Gestus und lakonischem Humor alles mitmacht, was sich anbietet.

Ausgangspunkt ist ein amerikanischer Spinner, der Grundstücke auf dem Mond verkauft und einen kleinen Disput hatte mit einem deutschen Spinner, der den Mond für sich reklamiert – weil Friedrich der Große damals seinen Vorfahren den Himmelskörper per Urkunde geschenkt hat. Das ist natürlich Quatsch, ein Experte der Kölner Uni erläutert ausführlichst den internationalen Vertrag von 1967, nach dem alle Himmelskörper keinem Staat und keiner Person gehören dürfen – doch der Film nimmt das zum Anlass, seinen Protagonisten Mascarenas, der ja nichts anderes ist als eine konstruierte Vermittlerfigur, tief in die Mond-Esoterik-Ecke zu schauen, mit Mondgymnastik, -anbetung, -wasser. Stößt dabei auf die merkwürdigsten Typen, die an positive Schwingungen und Energien, an allgegenwärtige Satanismen glauben, an Astralmächte und kosmische Engel – hier sind wir im anthroposophischen Bereich, ein schwäbischer Spinner grenzt sich strikt ab von den Ufonauten, und vom nächsten Gesprächspartner wird Mascarenas schon gewarnt vor den giftigen organischen Zinnverbindungen auf den Euroscheinen, und jetzt wird es politisch: Das nämlich haben die Amerikaner verbrochen. Wie die Spinner freimütig gegenüber dem Amerikaner beklagen, der gutmütig nickt.

Das ist eines dieser höchst lustigen Momente, dass hier die Spinner jede Zurückhaltung vergessen, weil sie so froh sind, ihre Spinnereien mal ins Mikrophon, in eine Kamera verkünden zu dürfen, „die Leute müssen ja gewarnt werden!“, sagt einer der Spinner. Und mehr und mehr gerät Mascarenas und der Film hinein ins urdeutsch-nationalmythisch-rechtsradikale Milieu: Amerikaner sind schuld, aber eigentlich vor allem die Juden, und zwar kann man das messen: an negativen Schwingungen und am Plutoniumgehalt der Menschen, vor allem der Politiker: die alle zu Juden umgepolt wurden, von Strahlen aus dem Weltall natürlich, wobei es dagegen ein kraftvolles schützendes Symbol gibt (hier sind wir wieder bei zwei ganz anderen Spinnern, die, so scheint es, nicht antiamerikasemitisch eingestellt sind, weil sie ihre Weisheit direkt vom Erzengel Gabriel erhalten haben – sie fürchten auch nicht das Plutonium, sondern die Barium-Aluminium-Verbindungen in den Strahlen; doch das nur nebenbei). Wichtiges Stichwort ist hier Neuschwabenland, unter diesem Rubrum versammeln sich die nationalrechten Esoterikspinner, Hitler selbstverständlich nicht tot, sondern am Südpol, bzw. im Erdinneren, bzw. mit seinen Diesseits-Jenseits-Sprüngen beschäftigt, die ihn jung erhalten. Der Weltraum ist natürlich das Territorium der Reichsdeutschen, denen von den Aldebaranern die Raumfahrt gelehrt wurde, die nun die Rückseite des Mondes bevölkern – es ist ja eine unbegreifliche Verbindung zwischen dem Makromultiversum und dem Mikroversum, klar: das innere der Erde ist hohl, da leben die Atlantis-Überlebenden und die Reichsdeutschen, die unter der Erlöserfigur Hitler mit ihren untertellerförmigen Raumschiffen dereinst das jüngste Gericht halten werden: steht doch alles in der Offenbarung!

Ein unglaubliches Sammelsurium von Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die fundamental alle in einem neuen Licht erscheinen lassen, erforscht Mascarenas hier, bzw. Regisseur Thomas Frickel, und das ist lustig und immer wieder auch sehr erschreckend, was da an verquerem Denken sich auftut – und man kann hoffen, dass aus dem Denken dieser Spinner kein Handeln wird. Dramaturgisch ist das recht simpel gemacht, ohne größere Steigerung außer der, dass auf jede Theorie noch eine weitere, obskurere, absurdere draufgeschichtet wird; tiefe Erklärungen für das Bedürfnis nach derartigen spinnerten Welterklärungsversuchen darf man auch nicht erwarten, es reicht aber auch völlig, dass gezeigt wird, Erklärungen sind gar nicht nötig. Frickel und Mascarenas folgen einfach dem Weg der Spinner, ohne vordergründig belehren zu wollen: die Strategie ist Einfühlung, und vermutlich deshalb ließen sich so viele vor der Kamera aus mit ihren irrationalen Abstrusitäten, an die sie so fest glauben.

Ein Ende ist auch am Filmende nicht abzusehen, ein großes Zusammenfassen ist unmöglich, klar ist nur, dass alles mit allem zusammenhängt. Frickel und sein Mascarenas kommen da nur raus mit der Pointe, dass der Protagonist ob all dieser verwirrend-widersprechenden Glaubensbekenntnissen verrückt wird – ein etwas billiger Gag, aber wie hätte man sonst einen Abschluss finden sollen?
Im Abspann werden jedenfalls nicht nur die Gesprächspartner aufgezeichnet, die im Film vorkommen, sondern eine mindestens ebenso lange Liste an Spinnern, die nicht auftauchen; darunter ein Chronologiekritiker, ein Reichskanzler und ein Hasser des Brandenburger Tores.

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films, Ludwigshafen: "Waffenstillstand"

Kollege Bernd Zywietz hat schon über Lancelot von Nasos Irakkriegsfilm "Waffenstillstand" geschrieben - der Film ist auch auf dem diesjährigen Saarbrückener Max Ophüls Preis gelaufen. Bernd Zywietz fand den Film , Zitat: "Nicht so doll". Im Gegensatz zu mir.

Ich finde es einerseits ohnehin erstaunlich, dass der Film überhaupt produziert und gedreht wurde. Nicht nur, weil beim Dreh in Marokko eine Menge schief ging - von Naso konnte in Ludwigshafen einiges erzählen von wochenlangen Regenfällen in der Wüste, von Krankheiten und Unfällen -, sondern auch, weil mit diesem Film bewiesen ist, dass man etwas auf die Beine stellen kann, was nicht dem oft genug etwas beschränkten Geist der Redaktionen entspricht: laut von Naso wurde ihm angetragen, als Debütfilm nach Filmhochschulstudium doch lieber eine Komödie über Zigarettenschmuggler an der polnischen Grenze zu drehen, also etwas, was näher an seiner Lebenswirklichkeit sei. Womit von Naso einige Lacher im Publikum des Filmgesprächs erntete, was aber andererseis auch bezeichnend ist für die Schwierigkeiten, in Deutschland etwas zu produzieren, was gewagt ist, was durchaus schiefgehen kann, womit man auch Leuten auf die Füße tritt.

Von Naso geht in seiner Geschichte in den Irak, wo an Karfreitag 2004 in Bagdad die Kunde aufkommt, im umkämpften Falludscha gebe es eine eintägige Waffenruhe. Eine Organisatorin einer Hilfsorganisation macht sich auf, in einem klapprigen Kleinbus, zusammen mit einem Arzt aus Falludscha und zwei Journalisten, eine Reise durch ein feindliches Land, wo überall geschossen werden kann: von irakischen Rebellen ebenso wie von US-Soldaten, und es geht mitten hinein in den Brennpunkt des Krieges, wo ein labiler Waffenstillstand eher der Tinte auf dem Papier als dem Bleigehalt der Luft nach besteht. Das ist der durchaus realistische Hintergrund des Films, alle Fakten wurden genau recherchiert, und darüber legte von Naso seine Geschichte von vier, fünf Menschen in einem Bus: Kim (Thekla Reuten), die unbedingt Medikamente nach Falludscha bringen will, Alain, der Arzt (Matthias Habich), der zynisch und desillusioniert ist und nicht mehr zurückwill ins Kriegs- und Hilfsgebiet, Oliver, der junge, heiße Reporter (Maximilian von Pufendorf), der mit der Falludscha-Exklusivstory eine große Chance wittert, Ralf (Hannes Jaenicke), sein Kameramann, der schon zuviel gesehen hat.

Mit diesem Personal - der irakische Fahrer kommt noch dazu - baut von Naso seinen Spannungsbogen: und der ist durchaus genregerecht und zuschaueraffin (was Kollege Zywietz in seiner Kritik bemängelt). Doch das macht von Naso sehr geschickt: eine durchweg filmische Geschichte auf realpolitischem Hintergrund zu erzählen, jeder seiner Figuren einen kleinen Subplot, eine Backstory zu verleihen, die angedeutet, aber nicht auserzählt wird, mit kleinen Spannungsmomenten innerhalb eines größeren Suspenserahmens zu spielen: kurz, eine Film-Geschichte zu erzählen, die packt, die mit auf den Genrekonventionen aufbaut und mit ihnen spielt, die sich aber nicht aufs Klischee einlässt, sondern immer wieder kleine Haken und Schlenzer einbaut, die das Hergebrachte neu und anders erscheinen lässt. Wobei die großen Themen, die der Film anspricht, nicht vergessen werden: Etwa die Situation von Kriegsberichterstattern, die von den Militärs mit vorgefertigten Statements abgespeist werden, die andererseits auch um die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer buhlen müssen und deshalb lieber vom xten Selbstmordanschlag berichten, als komplexe Hintergrundanalysen zu liefern. Oder die Hilfsorganisationen, bei denen jeder Idealismus der Mitarbeiter verschliffen wird; wo sich die Helfer mit den politisch-militärischen Gegebenheiten reiben und auch im Dilemma stecken: Wieweit kann man andere für seine Zwecke einspannen, wenn es um größere Ganze, ums größere Gute geht, das aber ohne höchstes Risiko nicht zu haben ist?

Da von Naso selbst keine Erfahrung hat mit Krieg, Kriegsberichterstattung oder aktivem Helfen, beschränkt er sich klugerweise auf die mitteleuropäische Perspektive, zeigt den Irak aus der Sicht dreier europäischer Protagonisten, die sich auch gegenseitig widersprechen, die aber gerade dadurch die Komplexität des dortigen Krieges umspannen: nein, es geht weniger um die Frage, was der Krieg soll, was er mit den Irakern macht, ob die Amis dort überhaupt jemals hätten reingehen sollen. Es geht darum, wie mit diesem Krieg umgegangen wird, in den Medien, in den NGOs, und im Grunde, durch die reine Existenz dieses Filmes, auch darum, wie man davon in fiktiven Geschichten erzählen kann - ein Tipp: auf keinen Fall so, wie es Brigitte Bertele mit "Nacht vor Augen" tut, einem entsetzlich oberflächlichen und unbedarften Film über einen zurückgekehrten Afghanistansoldaten, der, horribile dictu, tatsächlich diverse Preise eingeheimst hat.

Auch "Waffenstillstand" ist preisgekrönt, zurecht, und natürlich ist er bei seinem Kinoeinsatz durchgefallen. Keiner wollte den Film sehen - er hatte auch viel zu wenige Kopien, ein viel zu kleines Werbebudget, um etwa gegen den zeitgleich gestarteten Matt-Damon-im-Irak-mit-seinem-Bourne-Regisseur-Kriegsdrama "Green Zone" anzukommen (der freilich auch nicht so dolle lief). Andererseits: Gute Filme mit dem Thema aktueller Kriege und ihrer Auswirkungen sind oft Schläfer, die zu Anfang unbeachtet bleiben, bis ihre Regisseure, beispielsweise, einen Oscartriumph vorweisen können. "Waffenstillstand" könnte ja zum Beispiel, um einen Anfang zu machen, im ZDF um 20.15 Uhr zu sehen sein, wenn auch die übrigen Kleinen Fernsehspiele spät nachts versendet werden - die schönen großen orangenen Mikrophone des Senders werden von den Reporterfiguren ja oft genug in die Kamera gehalten.

Übrigens, kleine Anekdote: "Waffenstillstand" sei, so von Naso im Filmgespräch, den Postkutschenwestern à la "Stagecoach" nachempfunden - Genre also, aber neu und frisch und relevant fürs heute erzählt. Was bei einem der Zuhörer die Frage aufwarf, ob von Naso sich denn auch an Romeros "Diary of the Dead" habe inspirieren lassen, es gebe da einige Parallelen... Er kenne den Film nicht, antwortete von Naso, und Dr. Josef Schnelle, gar nicht helle, wollte hilfreich einspringen: der Film heiße eigentlich "Dawn of the Dead" - große Lacher im Publikum, und die Erkenntnis, wieder mal, dass Schnelle bei seinen Leisten bleiben sollte.

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films, Ludwigshafen: "Zarte Parasiten" und "Orly"

Jakob und Manu schlafen im Wald, wenn sie nicht gerade jemanden aufgerissen haben, der sie durchfüttert. Das ist ihr Konzept von Leben und Arbeit: Die emotionalen Mängel der Mitmenschen aufspüren, sich ihnen anbieten, diese Mängel zu füllen gegen Kost und Logis und ein gewisses Taschengeld. Dienstleister sind sie also eigentlich, und zugleich "Zarte Parasiten". Weil sie natürlich oft genug die Lücken an Zuwendung, an Mitmenschlichkeit bei ihren "Kunden" erst aufreißen, um dann dort hineinzustoßen. Gegen materielle bieten sie emotionale Zuwendung: Bieten einem einen schönen Abend in der Disco, der ihnen im Gegenzug die Drinks spendiert, Manu führt einer alten Frau den Haushalt, hält ihr Händchen, und ab und an, auf besonderen Wunsch der Dame, schläft sie vor ihren Augen auf dem Bettvorleger mit Jakob, damit die Alte was zum Gucken hat.
Jakob ist gerade dabei, ein Ehepaar aufzureißen, das in Trauer für ihren verstorbenen Sohn versinkt. Mit allerlei Tricks nistet er sich bei ihnen ein, bietet sich als Sohnersatz an.

Einen Entwurf für ein alternatives Leben wollten die Regisseure Christian Becker und Oliver Schwabe bebildern, ein Porträt von Ausgestoßenen, die sich vom Wirtskörper der Normalos ernähren, auch ein Porträt von Perspektivlosigkeit und emotionaler Armut - und das eben gerade nicht bei Jakob und Manu, sondern bei den Anderen, bei denen mit Dach überm Kopf, mit Geld, mit allen Freiheiten dieser Welt. Jakob und Manu heilen Wunden und Krankheiten, die gar nicht bewusst sind, und verwenden dafür wiederum die Mechanismen von Markt, Marketing, Bedarfsanalyse und Produktanpassung: für jeden haben sie etwas zu bieten an der Börse der Gefühle. Dort freilich kann es ganz schön heikel zugehen, man muss vorsichtig sein, jeder Schritt zuviel kann den Schein von Nähe und Wärme, mit dem Jakob und Manu hausieren gehen, zerbrechen. Und ganz geschickt führen Becker und Schwab ihre Geschichte in diesen anderen, neuen Zustand: wenn sich aus dem parasitären Leben von Jakob beim trauernden Ehepaar ein symbiotisches Verhältnis entwickelt, wenn Jakob merkt: Er fühlt sich gut aufgehoben.

Ein großer Entwurf um kleine, verlorene Leben ist es, was "Zarte Parasiten" bietet, bei dem das emotionale Gefüge der Figuren ganz fragil gebaut ist. Leider aber knirscht es ab und an im Gefüge des Films, mitunter arbeitet der Film, arbeitet die Bildgestaltung zu deutlich auf etwas bestimmtes hin - das sind dann die Momente, in denen man herausgerissen wird, wo man merkt, dass etwas nicht ganz stimmt, dass irgendwo Haarrisse sind im Filmkonzept. Und insbesondere: Die Sprache der Figuren ist nicht natürlich, auch nicht da, wo sie es sein müsste; manche Worte sind zu weit hergeholt, und immer wieder reden die Figuren im Präteritum, nicht im umgangsprachlichen Perfekt.

Diese Dialog-Störelemente, die in „Zarte Parasiten“ noch kleinere Nebenaspekte ausmachten, stehen, leider, im Mittelpunkt von Angela Schanelecs „Orly“. Gedreht am Flughafen von Paris treffen sich hier Leute und unterhalten sich. Dabei ist nicht das Problem, dass nicht mehr passiert; auch nicht, dass hier die, wie es Festivalleiter Michael Kötz nannte, aristotelische Dramaturgie außer Kraft gesetzt und eine ganz andere Art von filmischem Erzählen geboten wird: Das Problem ist, glaube ich, dass der Film einerseits eine Art dokumentarischen Ansatz verfolgt: an realen Ort – dem Flughafen Paris-Orly – seine Figuren sich treffen lassen, kleine Szenen zu spielen, während der ganz normale Betrieb weiterläuft, aufgenommen mit Teleobjektiv von weit weg, so dass die Flughafenbesucher, die echten, gar nicht merken, dass hier ein Film gedreht wird. Also kurz gesagt: die Schauspieler eine inszenierte Szene spielen zu lassen und das dann dokumentarisch aufzuzeichnen. Andererseits sind diese inszenierten Szenen von ausgesprochener Künstlichkeit, vor allem in ihren Dialogen – und so klar dem Film ein durchdachtes Konzept zugrunde liegt, so unklar ist, ob diese Künstlichkeit, diese Unnatürlichkeit so geplant war.

Angela Schanelec, die zur ersten Generation der Berliner Schule gehört, war in Frankreich als radikale Autorenfilmerin immer hoch geachtet, jetzt ist sie dort angekommen. Sprich: sie lässt ihre Figuren sprechen, auch wenn’s noch so unrealistisch ist, dass zwei Wildfremde am Flughafen von ihren Eheproblemen und vom Beinahe-Tod eines Sohnes erzählen; oder dass sich kurz vor dem Abflug Mutter und Sohn einander offenbaren: sie gesteht, aus heiterem Himmel, eine Sexaffäre, die sie mal gehabt hat (welcher Sohn möchte so was hören!), er berichtet im Gegenzug von seinen schwulen Aktivitäten.
OK: diese Beispiele wären noch akzeptabel, vor allem im französischen Original, wenn die Sprache für einen wie mich ohnehin eher Klang ist, weniger Bedeutung. Aber dann tritt ein deutsches Pärchen auf, die dermaßen schlecht schauspielern, die ihre Dialoge dermaßen hölzern-theaterhaft-unbeholfen dahersagen, dass man eben genau deshalb doch am gesamten Film zweifeln muss: Auch wenn sich vieles durch Blicke mitteilt – durch Blicke der Kamera auf ihre Figuren, durch Blicke der Figuren im Raum –, wenn gesprochen wird, kommt eben doch vieles an Schmonzes heraus, Sätze, die nichts bedeuten, aber unglaublich bedeutungsschwer daherkommen, als seien es hochphilosophische Aphorismen: „Es ist nicht wichtig, ob der andere einen liebt, sondern, ob er einem ermöglicht, sich selbst zu lieben“ – was auch immer.


Harald Mühlbeyer



"Zarte Parasiten", D 2010, Buch, Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe.
Mit: Robert Stadlober, Maja Schöne, Sylvester Groth, Corinna Kirchhoff.

"Orly", D, F 2010, Buch, Regie: Angela Schanelec.
Mit: Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Mireille Perrier, Maren Eggert, Jirka Zett.

Festival des deutschen Films, Ludwigshafen: Eröffnung mit "Erntedank"

Es ist wieder so weit: Auf der Parkinsel in Ludwigshafen stehen die Zelte, es ist wieder Festivalzeit. Zum sechsten Mal inzwischen werden hier, unter alten Bäumen, am Rheinstrand, im Sommer, deutsche Filme gezeigt, laut Veranstalter das Beste, was der Jahrgang hergegeben hat. Das sind nicht nur neue Filme, da wird auch gerne etwas gezeigt, was schon im Kino oder im Fernsehen gelaufen ist - es geht um die Qualität, darum, dass es Michael Kötz, dem Festivalleiter, und seinem Auswahlteam um Josef Schnelle, Rüdiger Suchsland, Günter Minas und Julia Teichmann gefällt.

Für einen Festivalhopper wie den Verfasser dieser Zeilen ist das letztendlich nicht sehr ergiebig, vieles hat er schon auf diversen anderen Festivals gesehen; und auch die Programmschienen sind nicht sehr festivalhockerfreundlich, in Timeslots von zwei Stunden werden die Filme gepresst, so dass man von den Filmgesprächen mit den Filmemachern gar nichts mitbekommt. Dabei sind die Veranstalter genau darauf doch so stolz, dass so viele Gäste da sind, die man mit Fragen löchern kann - wäre da eben nicht der dringende Kinotermin mit dem nächsten Film... Noch dazu sind die Filme in den beiden Kinozelten um eine Stunde gegeneinander verschoben, so dass man nicht flüssig wechseln kann: man ist eben letztendlich doch an einen Ort, an eines der beiden Zelte gebunden, wenn man so richtig Festivalatmosphäre haben will; das, was ich darunter verstehe: Film auf Film auf Film, möglichst vier, fünf Stück am Tag, gerne auch mehr.

Andererseits ist es eben doch ein tolles Festival, genau das, was Ludwigshafen braucht, hier, im Park am Rhein, am schönsten Ort von LU, wie Oberbürgermeisterin Eva Lohse betonte - was an leider, leider nicht viel heißen will, in diesem Fall aber eben doch etwas Besonderes ausdrückt. Ja, dort im Grünen ist es wirklich schön, Kino in Zelten hat auch was - wenn's nicht zu schwülheiß wird -; und die Filmauswahl ist schon richtig. Da gibt es tatsächlich hervorragende Filme, die nun, im Rahmen des Festivals, auch ein größeres Publikum bekommen (wobei da schon wieder ein bisschen Wehmut aufkommt, dass gute Filme immer einen Eventcharakter um sich herum haben müssen, damit sie wahrgenommen werden...)

Da läuft etwa "David Wants to Fly". Da laufen "Schwerkraft", ein witziger Thriller um Fabian Hinrichs, der seinen Job bei der Bank nutzt, um mit Ex-Studienfreund Jürgen Vogel bei den Kunden einzubrechen; "Renn, wenn du kannst", eine wunderbare Dreiecks-Liebesgeschichte um Rollstuhlfahrer, seinen Zivi und eine junge Hübsche; "Im Schatten" von Thomas Arslan, ein wirklich kluger, spannender Gangsterfilm, der ganz ruhig das schlichte Handwerk des Verbrechens zeigt. Und auch "Die Fremde", ein Drama um Ehrenmord, für das Sibel Kekilli einen Deutschen Filmpreis bekommen hat, ist nicht schlecht; Oskar Roehlers "Jud Süß - Film ohne Gewissen" funktioniert zwar nicht so recht, weil er zwischen konventioneller Filmbiopic-Dramaturgie, nachgespieltem "Jud Süß"-Remake und Nazigroteske schwankt, immerhin aber wird hier mit Ferdinand Marian auch einer der großen, wiewohl verfemten deutschen Schauspieler gewürdigt. Und auch "Die zwei Leben des Daniel Shore" ist empfehlenswert, ein spannend-mysteriöses Stück, das vielerlei Deutungen zulässt - empfehlenswert vor allem für Zuschauer mit schwacher Blase, die drei Minuten vor Schluss rausmüssen - die Auflösung, die da angeboten wird, zieht den ganzen Film runter.

Am Mittwoch nun wurde eröffnet, leider im nicht ausverkauftem Kinozelt; dafür mit einem Film, der durchweg überzeugen konnte. "Erntedank. Ein Allgäukrimi" unter der Regie von Rainer Kaufmann wurde vom Bayrischen Rundfunk produziert, ist ein reiner TV-Film, der wohl auch schon mal gesendet wurde. Doch abgesehen davon, dass die Festivalmacher ab dem nächsten Jahr ohnehin vorhaben, Fernsehfilme prominenter im Programm zu installieren, und diesen Film quasi als Vorgeschmack gleich zur Eröffnung ausgesucht haben: Da sind durchaus Kinoqualitäten drin, wenn man den Blick für Details, den Reichtum an kurzen Blicken auf den Rand des Geschehens, die Vielfalt der Charaktere und ihrer jeweiligen kleinen Nebenhandlungen, die Kraft der Bilder und die Eigenwilligkeiten in den Figurenzeichnungen als "Kino" bezeichnen möchte, im Gegensatz zum Fernsehen, wo oft genug Filme (auch sogenannte Qualitätsprodukte der Tatort-Reihe) so inszeniert sind, dass man auch beim Wäscheaufhängen, Bügeln, zwischendurch aufs Klo gehen noch alles mitbekommt, nichts verpasst und trotzdem eine dreiviertel Stunde vor dem Kommissar weiß, wer der Täter war.

Was soll ich sagen: In "Erntedank" wird gar die ganze Zeit über schwerster Dialekt gesprochen! Und nicht der typisch bayrisch-menschelnd-grantelnde Dialekt, sondern Kemptener Schwäbisch, derb genug, herzlich auch, vor allem authentisch, so dass Zuschauer aus dem Norden mitunter doch gefordert sind.

Es ist die Verfilmung eines der Romane von Michael Kobr und Volker Klüpfel um den Allgäuer Kommissar Kluftinger, den Herbert Knaup ganz großartig verkörpert: mit Wanst, in Loden, behäbig, immer auf der Suche nach Essbarem, immer Knausrig, ein urtümlicher Typ, durch und durch provinziell, der mit neumodischem Zeug wie Computer und Internet nichts anzufangen haben möchte; ein Spießer in der Hauptrolle, der sich auch nicht sonderlich anstrengt, seine beiden Mordfälle unbedingt lösen zu müssen: da wurde einer gefunden, auf dessen Leiche eine Krähe drapiert war, eine andere wurde ritualhaft ins Wasser gelegt: offenbar geschahen die Morde nach alten Allgäuer Sagenmotiven. Nicht, dass es Kluftinger gleichgültig wäre: Aber seinem Naturell gemäß lässt er es halt ruhig angehen. Vor allem, da er auch noch andere Probleme hat: Die Obstkisten voll mit Äpfeln zum Küfer bringen, zum Beispiel, um guten Apfelmost draus machen zu lassen. Oder der Wasserrohrbruch im Keller, wegen dem er mit seiner Frau bei ungeliebten Freunden - Yoga! Vegetarisch! - unterkommen muss.

Der Film ist skurril genug inszeniert, um größtmöglichen Spaß zu machen; und spannend genug, um dennoch als veritabler Krimi zu gelten. Keine überdrehte Absurderie wie in den österreichischen Brenner-Verfilmungen; aber genug witzige Frische, um jeden deutschen Normalo-Fernsehkrimi in die Tasche zu stecken.

Leider bleiben mit auf diesem Festival nicht so viele Filme übrig, die ich noch nicht gesehen habe / die mich ausreichend interessieren. Aber drei, vier werden es schon noch sein. Und nach dieser Eröffnung freue ich mich richtig drauf.

Harald Mühlbeyer

Grindhouse-Nachlese: „The Human Tornado” und „Disco Godfather” – Schwarzer Humor

Blaxploitation-Doppelnacht im Mannheimer Cinema Quadrat am 29. Mai 2010:

„The Human Tornado”
USA 1976. R: Cliff Roquemore. D: Rudy Ray Moore, Lady Reed, Gloria Delaney.

und

„Disco Godfather”
USA 1979. R: J. Robert Wagoner. D: Rudy Ray Moore, Carol Speed, Jimmy Lynch.

und, nebenbei:

„Black Dynamite“
USA 2009. R: Scott Sanders. D: Michael Jai White, Byron Minns, Salli Richardson-Whitfield.



Am Tag, als Dennis Hopper starb, legte Boris Becker selbstverständlich eine Gedenkminute ein, bevor das Filmprogramm mit zwei Blaxploitation-Filmen begann.

„The Human Tornado“ und „Disco Godfather“ seien, so Becker, der die monatlichen Grindhouse-Nächte im Mannheimer Cinema Quadrat organisiert, im Grunde Partyfilme: der – positiv gemeint – größte Scheiß, der einfach Spaß macht. Und im Grunde einflussreich bis heute: weil sich in beiden Filmen Sequenzen finden, die die spätere Hiphop- und Rapkultur vorwegnehmen, rhyme-battles etwa, die zu den blaxploitationüblichen Pimp- und Machoallüren hinzukommen. Und zudem – womit Becker völlig recht hat – sei der Film „Black Dynamite“ (USA 2009, Regie: Scott Sanders), der nun, im Juli, hierzulande auf DVD herauskommt, im Grunde ein Remake dieser beiden Rudy Ray Moore-Filme.

„Black Dynamite“ ist Hommage und Parodie auf Blaxploitation, eine Handlung um die Figur des Black Dynamite ohne viel Sinn, dafür mit vielen schönen Frauen, protzigen Mackern, coolen Sprüchen, dem Kampf der black community und viele Geprügel, Schießereien, Verfolgungsaction und Kung Fu bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft. Wobei der Witz des Films nicht aufgepflanzt wirkt, sondern aus ihm herauskommt: es geht nicht um die höchstmögliche Gagdichte, sondern um höchstmöglich authentische Gags, die den Geist des Films, den Geist der Blaxploitation nicht verraten: „Black Dynamite“ ist so was wie historisches Re-Enactment des Blaxploitationkinos, ein verdichtet nachgespieltes Best of, ganz im Setting und in den technischen (Un)Möglichkeiten der 70er verwachsen: kunterbunte Polyester- und Pelzklamotten, riesige Schnurrbärte und enorme Afro-Frisuren, grobkörnige Bilder, Kamerawackler und Anschlussfehler en masse – aber das ist nicht nur komischer Effekt, so wie bei Tarantinos und Rodriguez’ „Grindhouse“-Filmen die Filmfehler nicht einfach als Auslach-Witze eingesetzt werden. Dieser Humor, der den Film umarmt, ohne dass es ihm an Biss mangelt: Das machte Rudy Ray Moore schon in „The Human Tornado“ vor.

Es ist der zweite Film mit Dolemite, dem von Moore erfundenen Charakter, der Entertainer und Zuhälter ist, ein Frauenbeglücker, der zuschlagen kann und für die gute Sache kämpft – und wenn er kämpft, dann richtig… Dieser Dolemite ist unübersehbar Vorbild für die Figur des Black Dynamite gewesen – so wie der Film „Black Dynamite“ seine Handlung aus „Disco Godfather“ genommen hat, den Kampf gegen eine Droge, die die Jugend verdirbt.

„The Human Tornado“ stammt aus dem Jahr 1976, als das Blaxploitationgenre schon im Zeitalter seiner berechtigten Parodierbarkeit angelangt war. Blaxploitation war immer Kino gewesen, das die Ideale der Bürgerrechtsbewegung kommerziell verwurstete, um der schwarzen Kino-Zielgruppe eine Menge Hackfleisch auf der Leinwand zu servieren; ernsthafter gesellschaftlicher Diskurs findet sich darin – wie in jedem Exploitationfilm – heruntergebrochen auf die Konsumierbarkeit als Actionware, die niedere Instinkte ansprechen und zugleich großen Spaß machen sollte. „The Human Tornado“ nun nimmt den Spaß wörtlich, der Film spielt mit sich selbst zum Ergötzen seines Publikums: er weiß nicht nur, dass er eigentlich nicht ernstzunehmen ist, er benutzt den Unernst, um eine Komödie über das Blaxploitationkino selbst zu erschaffen, ohne das Genre zu denunzieren – dasselbe Rezept, das über dreißig Jahre später „Black Dynamite“ anwendet.

Eine der großartigsten Sexszenen der Filmgeschichte enthält „The Human Tornado“: Dolemite will die Geliebte eines Gangsters aushorchen und klingelt bei ihr, verkleidet als schmieriger Hausierer. Sie öffnet, großbusig und mit sehr offenem Ausschnitt in weißem Hauskleid. Er bietet ein Nacktgemälde feil, weiße Frau, schwarzer Mann in enger Umarmung; das macht sie geil, sie legt ihre üppigen Brüste frei – Schnitt. Ein bühnenhafter Raum vor buntem Vorhang, sie liegt auf drei überdimensionalen Bauklötzen, auf denen die Buchstaben B, E und D aufgedruckt sind; aus einer großen Spielzeugkiste in der Ecke kommen drei, vier große, nackte, schwarze Männer, sie – inzwischen wieder angezogener als vorher – windet sich in Geilheit, begutachtet wollüstig die Neger-Toys, befindet sich dann weitgespreizt unterhalb einer Rutschbahn, und die vier Stecher rutschen Bäuchlings auf sie drauf – Schnitt weg von diesem feuchten Traum hinein in die Sphäre realer Penetration: sie und Dolemite im Bett, und nun wird klar, was es mit dem Ausdruck „bumsen“ auf sich hat. Er behackt sie, die in höchsten Wonnen schwelgt, Bilder fallen von den Wänden, ein Spiegel zerbricht, die Türe öffnet und schließt sich durch die Wucht des Geschehens. Das Bett wackelt, es dreht sich, Putz rieselt von der Zimmerdecke, ja: die Decke stürzt herab, an einem Stück überdeckt sie die beiden, die sich da begatten, es fliegen Funken, elektrische Leitungen explodieren, und endlich, im Augenblick des höchsten der Gefühle unter diesen Zimmertrümmern, muss sie auf seine rhythmisch hervorgestoßene Frage nach dem Verbleib zweier entführter Mädchen in versmetrischen Anapästen hinausschreien: „In the house on the hill in Pasadena!“

So einer ist Dolemite, solch ein Film ist „The Human Tornado“: radikal und voll menschlicher Nähe.
Dolemite ist erfolgreicher Comedian, der sein radikal Publikum beschimpft und schweinische Witze erzählt, er ist Zuhälter, lässt sich von weißen Damen für Liebesdienste bezahlen, ist nicht zimperlich, wenn er von rassistischen Rednecks verfolgt wird, ist zudem so was wie ein Privatdetektiv und vor allem Kung-fu-Meister. Er hilft Queen Bee, deren Nachtklub / Bordell ein Dorn im Auge des Gangster-Konkurrenten ist, der zwei ihrer Mädchen entführt, am Ende gibt es einen langen, heftigen Kampf, garniert mit einfallsreichen Folterungen im Keller: die eine, kaum bekleidet, bekommt eine Handgranate zwischen die Schenkel und muss auf einem Rohr balancieren, die andere, kaum mehr bekleidet, wird unter einem dornengespickten Brett gefesselt, das auf sie drauffällt, wenn eine Kerze das Seil durchgebrannt hat, das… man kann es sich vorstellen. Dem Bösewicht werden am Ende übrigens die Eier von Ratten weggenagt. Doch das nur nebenbei.

Witzig ist vor allem, dass der Film Witze über sich selbst reißt. Ein gekonnter Sprung des nackten (ja: ganz und gar nackten) Dolemite über eine Hecke, als er in Flagranti mit einer Frau im Bett erwischt wurde, wird in Zeitlupe wiederholt. Und die Kung-fu-Kämpfe am Ende entbehren nicht nur jedes Sinnes, sondern auch jedes kämpferischen Könnens – sichtlich wird hier nur gepost, die Schläge und Tritte gehen dezimeterweit an Köpfen und Körpern der Gegner vorbei, und dennoch, in der Logik des Films, werden so die Bösen total verkloppt. Zudem ist der Film – im englischen Original wohlgemerkt! – schlecht synchronisiert. Dafür tragen die männlichen Protagonisten außergewöhnliche Afro-Haartrachten mit sich herum. Und: Alle, die in dem Film mitspielen, sind von ausgesuchter Hässlichkeit, Männer wie Frauen; bei letzteren wird gottseidank durch permanente Nymphomanie und die fantasievoll ausgestalteten Decolletés die Aufmerksamkeit vom Gesicht abgelenkt.


Rudy Ray Moore hat für seine Filme eine Schar von Schauspielerlaien um sich versammelt, mit denen er seine Werke herunterkurbelte – er war immer auch, manchmal ungenannt, an Drehbuch und Produktion beteiligt. Das professionell eingesetzte Laienhafte kommt „The Human Tornado“ zugute – bei „Disco Godfather“ ist es Teil des Problems.

„Disco Godfather“ von 1979, meint Boris Becker, sei vor allem als Verarsche der Disco-Welle Ende der 70er sehr lustig. Das kann man so sehen – man kann die Tanzeinlagen, die da schwarze Discotänzer aufführen – einmal gar auf Rollschuhen – aber durchaus auch als ernstgemeinte Anbiederung an die populäre Kultur ansehen, eine Stellung, die in früheren Blaxploitationfilmen die Funk- und Soulmusik eingenommen hat – man denke an Isaac Hayes’ „Shaft“-Soundtrack. Ganz selbstverständlich wird auch in „The Human Tornado“ die Handlung – oder was sich als Handlung ausgibt – für Gesangs- und Tanzszenen in diversen Nachtklubs unterbrochen. Zu „Disco Godfather“-Zeiten ist nur eben die Musik schrecklicher geworden, der Umgang des Films mit ihr ist gleichgeblieben, ohne (wie ich es sehe) ironisch-parodistische Brechung.

Das ist ein Kennzeichen des Films: Dass er sich selbst einigermaßen ernst nimmt. Rudy Ray Moore spielt hier nicht mehr Dolemite, den Zuhälter-Helden, sondern den Discoboss und Ex-Polizisten, der hinterm DJ-Pult seinem Publikum rapartig gereimte Aufmunterungen zuruft, und der sich dem Kampf gegen die neue Droge Angel Dust verschrieben hat, weil sein Neffe, nach einer Überdosis halbkomatös im Krankenhaus liegt. Oh ja, schrecklich ist die Droge: Furchtbare Halluzinationen zeigt der Film, von Hexen und Dämonen, da verwirrt sich die Wirklichkeit und man wundert sich, dass der Arm noch dran ist, der einem gerade erst abgehackt wurde. Neben dem logischen Problem, warum eine Droge, die keine Glücksgefühle erzeugt, überhaupt erfolgreich sein kann, hat sich Moores Figur vom Quatsch der frühen Jahre entfernt, er will so eine Art Lehrstück bieten. Und übersieht, dass dort dabei unfreiwillige Komik vorherrscht, wo in seinem früheren Film alles ein selbstironisch-witziges Spiel war. Wäre nicht ein langer, offenbar obligatorischer Kung Fu-Kampf am Ende, der Film wäre ganz verloren. Doch in diesem Kampf gegen die Schurken bekommt der Disco Godfather selbst eine Ration Angel Dust ab, agiert völlig durcheinander und enthemmt zugleich, da vermischen sich für ihn die Bilder seiner Mutter mit der einer Hexe, und im Kampf mit dieser Chimäre setzt er, ohne es mitzubekommen, die Bösewichter außer Gefecht: Das hat echten Witz, der Kämpfer, der gar nicht mitbekommt, dass er kämpft, weil er sich in den freudschen Untiefen des Unterbewusstseins befindet; davon hätte die erste Stunde des Films mehr benötigt.

Diese Lücke füllt 30 Jahre später „Black Dynamite“, der seinen Helden ebenfalls für das Gute kämpfen lässt. Black Dynamit bricht in entsetzte Tränen aus, als er erfährt, dass sogar an Kinder des Waisenhauses Drogen verkauft werden: Das sind doch nur Waisen! Und Waisen haben keine Eltern! Er legt als Ein-Mann-Armee den Drogenring lahm, und nicht nur, weil das mit ständigem ironischem Unterton erzählt wird, sondern auch, weil es eigentlich gar nicht richtig erzählt wird, ist „Black Dynamit“ so was wie die überfällige Korrektur des allzu moralischen „Disco Godfather“. In „Black Dynamite“ wurde, die Outtakes auf der DVD beweisen es, das meiste des Drogenmafia-Plots herausgeschnitten, sprich: im eigentlichen Film finden sich nur noch rudimentäre Spuren, weil kontinuierliche Handlung schon langweilig wäre. Sorgfältig wurden die Szenen, die dem ganzen Plot irgendeinen Sinn geben könnten, weggelassen. Sinnfreie Szenen mit angehängter Prügelei: Das ist es, was das Publikum sehen möchte; was „The Human Tornado“ und „Black Dynamite“ bietet.

„Disco Godfather“, so die Meinung des Mannheimer Publikums, sei bei aller immer noch vorhandenen Albernheit deutlich zu positiv gewesen. Für den 26. Juni versprach Becker zwei durchweg negative Filme: „Terrifying Girls High School: Lynch Law Class Room“, dessen Titel für sich spricht, und einen Überraschungsfilm, vermutlich aus der Frauengefängnisgattung.


Harald Mühlbeyer


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