Exground 23: Babak Jalalis „Frontier Blues” (2009) – Everybody’s fine!?

„Willkommen in dem Land, in dem es alles gibt: das Kaspische Meer und daneben die Steppen, sowohl Berge als auch Wälder“, so die Worte des Balladensängers, der zusammen mit seiner merkwürdigen Anhängerschaft aus vier Knaben für einen Fotografen posiert, der einen ‚echten‘ Turkmenen in seinem ‚realen Umfeld‘ porträtieren will, diesen aber dabei zu denkbar abstrusen Posen in altmodischer Kostümierung zwingt. Als der Sänger dann seine Geschichte zu Ende erzählt hat – die Geschichte von seiner Frau Maral, die im gestohlenen grünen Mercedes Benz des Schafhirten Heydar aus seinem Leben verschwunden ist, um mit diesem anderswo neu zu beginnen, jedoch angeblich irgendwo in den Steppen verschollen ist – wandelt er seine Worte etwas ab: „Willkommen im Land der gebrochenen Herzen und Traktoren. Willkommen an der nordiranischen Grenze!“

Diesem vergessenen Landstrich an der turkmenischen Grenze und seinen Bewohnern, einem Gemisch aus Persern, Turkmenen und Kasachen, widmet sich Regisseur Babak Jalali (der 1978 in dieser Gegend, in der Stadt Gorgan, das Licht der Welt erblickte, aber bereits seit langer Zeit in London lebt, dort auch das Filmemachen lernte) in seinem Spielfilmdebüt „Frontier Blues“ (2009). Dafür kehrte er in seine ursprüngliche Heimat zurück, um dieser seiner Ansicht nach vom iranischen Gegenwartskino viel zu wenig beachteten Region, ihrer „einzigartigen Atmosphäre“ (Jalali) Gerechtigkeit widerfahren, mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und natürlich auch den Menschen dort, denen von allen Seiten immer wieder Versprechungen gemacht wurden, Versprechungen von Aufschwung und ökonomischem Aufblühen, die aber nie eingelöst wurden. Folgerecht basiert die episodenhafte Handlung, oder genauer: der episodisch erzählte Film auf Ereignissen und Geschichten, die Jalali widerfahren und zugetragen wurden: „It was written based on what I saw, what I heard and what I did. It’s about the Northern Iranian Frontier. It’s the story of longing, waiting, remembering, desperate men and absent women. It’s about not quite getting there. Wherever that may be…“ (Jalali)

Neben dem eingangs erwähnten turkmenischen Musiker und seinem Gefolge stehen noch drei weitere Figuren im Zentrum des Films, respektive der einzelnen, sich teilweise überlappenden Erzählstränge. Bereits ganz zu Beginn begegnen wir dem 28jährigen Hassan und seinem Onkel Kazem. Hassan, nicht gerade der Schlauste auf Gottes Erdboden, der sich ausschließlich von getrockneten Aprikosen zu ernähren scheint und dessen einzige Gefährten ein ausgewachsener Esel und sein alter Kassettenrecorder sind. Und der uns (dabei frontal in die Kamera blickend) davon erzählt, wie ihn seine Mutter gleich nach seiner Geburt in Richtung Paris verlassen hat, nachdem der Vater bereits kurz zuvor das Weite gesucht hatte. Seitdem lebt er bei seinem Onkel Kazem, der sich alles andere als begeistert zeigte über den unverhofften ‚Zuwachs‘ und sich besorgt fragt, was aus dem Jungen nur werden soll. Dabei hat er doch bereits genügend Sorgen mit seinem Modegeschäft, in dem er nur ein Handvoll Kleidungsstücke feilbietet, die seinen potentiellen Kunden aber stets zu klein oder zu groß sind. Die vierte Figur ist der 28jährige Turkmene Alam, der in einer Hühnerfarm arbeitet und bei seinem Vater lebt, mit dem er ab und zu Fischen geht. Zudem ist er verliebt in eine Frau, mit der er nie ein Wort gewechselt, die er immer nur aus der Distanz beobachtet hat. Für sie lernt er auch mit einem Walkman Englisch, um mit ihr nach Baku zu verschwinden, wo es angeblich weitaus bessere Arbeitschancen gibt.

Jalali erzählt seine teils skurrile, teils absurde Geschichte voller Mitgefühl für seine Figuren, stellt diese niemals bloß oder aus, um sich und uns auf deren Kosten zu amüsieren. Dabei scheint er eher von europäischen als von anderen iranischen Regisseuren geprägt, in seiner lakonischen Grundhaltung weckt der Film Erinnerungen an die Filme eines Kaurismäki, Jarmusch (dem ‚europäischsten‘ unter den US-Independent-Filmemachern) oder des Schweden Roy Andersson (allerdings ohne dessen bitter-abgründige Schärfe), wie im Programmheft angekündigt – normalerweise stimmen ja derartige Vergleiche und Vokabeln wie „skurril“ erst mal einmal skeptisch.

Auch wirkt der Film auf den ersten Blick (für uns, die wir ja gewohnt sind, Filme aus dem Iran fast ausschließlich und zwangsläufig als dezidiert politisch und staatskritisch wahrzunehmen, wahrnehmen zu wollen) erstaunlich ‚unpolitisch‘, übt eher indirekt Kritik an unzeitgemäß, ja (aus westlicher Perspektive) rückständig erscheinenden Traditionen, etwa an der Entscheidungsmacht der Eltern hinsichtlich der Vermählung der eigenen Kinder. Oder an der desolaten wirtschaftlichen Situation, die jungen Menschen kaum Perspektiven eröffnet – ohne allerdings konkret Schuldige zu nennen. Diese ‚Rückständigkeit‘ gibt dem Film auch sein spezifisches Gepräge, wirkt er doch wie eine Zeitreise in die späten Achtziger oder frühen Neunziger Jahre. Egal ob die Fahrzeuge, Hassans Kassettenrekorder, mit dessen Hilfe er die karge Landschaft lautstark mit französischen Chansons beschallt, oder Alams Walkman, mit dem dieser seine Englischlektionen („How are you?“ - „I am fine!“ - „Everybody’s fine!“) abspielt – wenig deutet darauf hin, dass wir uns in unserer digital(isiert)en Gegenwart befinden.

Jalali, dessen Kurzfilm „Heydar, yek Afghani dar Tehran“ von 2005 (auf den er mit der Geschichte des ‚Frauendiebs‘ Heydar anspielt) bereits auf unzähligen Festivals vertreten und für einen BAFTA nominiert war, arbeitet momentan in London an seinem zweiten Langfilm, weshalb er leider nicht wie angekündigt bei der Vorführung anwesend sein konnte. Man darf jedoch gespannt sein, in welche Richtung sich sein Werk weiterentwickeln wird.


Christian Moises


FRONTIER BLUES
R: Babak Jalali
Iran/Großbritannien/Italien 2009
95 Min.
OmeU