Filmreihe Kinoseminar Filmpropaganda im Murnau-Kino

Die neue Filmreihe "Kinoseminar Filmpropaganda" im Wiesbadener Murnau-Kino startet am Donnerstag, 14. Oktober, um 18 Uhr mit einer Vorführung des antisemitischen Hetzfilmes "Jud Süß" von Veit Harlan; die Vorführung wird am Dienstag, 26. Oktober wiederholt. Zudem läuft im Rahmen der Reihe am 15. Oktober, 18 Uhr sowie am 29. Oktober 20 Uhr die Dokumentation "Harlan - Im Schatten von Jud Süß".

"Jud Süß" ist der berüchtigste Nazi-Propagandafilm, einer der erfolgreichsten deutschen Filme überhaupt - und was Inszenierung, Darstellung, psychologische Charakterisierung, Dramatisierung des Geschehens angeht auch einer der besten in der deutschen Filmgeschichte. Und zudem ein übles Hass-Werk mit belegt aufhetzerischer Wirkung. Deshalb darf der Film in Deutschland nur mit Einführung und Diskussion vorgeführt werden - in Wiesbaden wird der Filmexperte Horst Walther vom Institut für Kino und Filmkultur den Film begleiten.
"Jud Süß" ist derzeit sicherlich von großem Interesse, weil der Film im Mittelpunkt von Oskar Roehlers "Jud Süß - Film ohne Gewissen" steht, einem Biopic über den Süß-Darsteller Ferdinand Marian. In Wiesbaden kann man das Original sehen - und sich zugleich mit einem Kapitel der deutschen Filmgeschichte beschäftigen, das berüchtigt ist, aber auch weitgehend unbekannt.

Denn die sogenannten Vorbehaltsfilme - die explizit propagandistisch ausgerichteten Filme des Dritten Reiches - dürfen hierzulande nur unter strengen Auflagen vorgeführt werden. Dennoch muss die Auseinandersetzung mit der rassistischen, volksverhetzenden oder kriegsverherrlichenden Filmpropaganda geführt werden. Dazu will die Reihe "Kinoseminar Filmpropaganda" ihren Beitrag leisten, indem Vorbehaltsfilme aus den Beständen der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung mit wissenschaftlich kompetenter Einführung und Nachbesprechung aufgeführt werden.

Die Reihe wird in den nächsten Monaten mit "Hitlerjunge Quex" und "Kolberg" fortgesetzt werden. Nähere Infos in den monatlich erscheinenden Programmflyern und auf www.murnau-stiftung.de.

Trickfilme im Wiesbadener Schloss

vom 14. bis 17. Oktober findet im Wiesbadener Schloss Biebrich das Internationale Trickfilmwochenende statt; und das schon zum zwölften Mal.

In verschiedenen Programmsektionen zeigt der Veranstalter Freunde der Filme im Schloss insgesamt 135 Filme aus 29 Ländern: "Best of International Animation", "Young Animation" mit Studenten- und Diplomfilmen, dazu in Best-of-Programmen die Hauptpreisträger der wichtigsten in- und ausländischen Trickfilmfestivals und -wettbewerbe: Oscargewinner und -nominierte, Studentenoscargewinner, Preisträger der Goldenen Palme von Cannes, "Le Cristal d'Annecy" und viele andere preisgekrönte Filme mehr.

Eine retrospektive Reihe ist dem Internationalen Trickfilmfestival von Annecy gewidmet, das in diesem Jahr sein 50jähriges Bestehen feiert.

ALle Infos, Programm und Tickets unter www.filme-im-schloss.de.

Schlingensiefs Kettensägen in Wiesbaden

Am Mittwoch, den 6. Oktober, läuft im Wiesbadener Murnau-Kino, gegenüber vom Schlachthof, um 20 Uhr Christoph Schlingensiefs grandios-wirr-wahnsinnig-komisches Politdrama "Das deutsche Kettensägenmassaker".

Darin metzelt Schlingensiefs Truppe von Irren wehrlose Ossis nieder, die nach der Wiedervereinigung in den Westen kommen - ach, und natürlich ist der Film noch viel mehr als das.

Als Überraschung wird Screenshot-Redakteur Harald Mühlbeyer vor dem Film eine kurze, unangekündigte Einführung halten.
Wir sehn uns, wo die Säge knattert!

Auf DVD: „Precious – Das Leben ist kostbar“ – Emanzipation durch Bildung

„Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire“. USA 2009, Regie: Lee Daniels

Beim Sundance Filmfestival 2009 gewann PRECIOUS den Jury- und den Publikumspreis. Weitere Preise folgten. Höhepunkte waren der Golden Globe sowie der Oscar für Mo’Nique als beste Nebendarstellerin und ein weiterer Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Neben den Amerikanern, die den Film euphorisch feierten, gab es auch jene, die ihn wütend verrissen. Die schwersten Vorwürfe erhoben afroamerikanische Kritiker, die in PRECIOUS eine Anhäufung von negativen und erniedrigenden Klischees über schwarze Amerikaner sahen. In Deutschland wäre der Film beinahe nicht in den Kinos gestartet. Kein Verleih wollte ein Sozialdrama zeigen.

Die Filmheldin, die 16-jährige Claireece Jones, genannt Precious, ist extrem übergewichtig, schwarz und Analphabetin. Sie wächst in Harlem auf, jenem Stadtteil, der zum Zeitpunkt der Filmhandlung, 1987, zu den heruntergekommensten afroamerikanischen Vierteln New Yorks gehörte. Weil sie zum zweiten Mal schwanger ist, wird Precious von der Schule verwiesen.

Zuhause auf dem Sofa vor dem Fernseher wartet Precious’ nicht ganz so fettleibige Mutter Mary, gespielt von der Entertainerin Mo’Nique. Sie interessiert sich für die schulische Laufbahn ihrer Tochter nicht im geringsten. Wichtig ist ihr nur der Scheck von der Fürsorge und dass ihre Tochter den Haushalt nach ihren Wünschen schmeißt. Wie eine Sklavenhalterin scheucht sie Precious durch die armseligen vier Wände. Precious’ Zuhause gleicht einer Hölle. Tagtäglich muss sie extreme Erniedrigungen und körperliche Gewalt durch die Mutter und seit ihrem dritten Lebensjahr den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater ertragen. Ihr Rufname – er bedeutet wertvoll, kostbar, heiß geliebt – klingt angesichts dessen wie beißender Spott. Den Momenten akuter Demütigung und Gewalt entzieht sich Precious, indem sie in Tagträume flüchtet. In ihnen ist sie ein von den Massen umjubelter, begehrter Star.

Inszeniert Regisseur Lee Daniels (Produzent von MONSTER’S BALL und THE WOODSMAN) manche Szenen wie ein Gespräch mit der Schuldirektorin Mrs. Lichtenstein zurückhaltend, fast dokumentarisch, so wechselt er in den Sequenzen häuslicher Gewalt die Bildästhetik. Dramatische Low-key-Ausleuchtung, bei gleichzeitig hoher Farbsättigung, Detailaufnahmen und Zeitlupen heben die Szenen deutlich aus der übrigen Erzählung heraus. Mittels geschickter Montage wird in Rückblenden die Vergewaltigung durch den Vater andeutungsweise eingeflochten und verknüpft mit Precious Teenagerfantasie. Anschließend nimmt Daniels die Auseinandersetzung in der dunklen Wohnung in Harlem wieder auf.

Während die abstoßenden Bilder die Vergewaltigung „nur“ andeuten, ist die Sprache extrem obszön und verletzend. Daniels gelingt in diesen Szenen sowohl eine Sogwirkung, der sich das Publikum bei aller Mühe um innere Distanz nur schwer entziehen kann, gleichzeitig macht die farbige Inszenierung der Tagträume das Elend – ebenso wie für die Heldin – auch für den Zuschauer erträglicher.

Mit einer Fahrstuhlfahrt nach oben in den 11. Stock, in dem das alternative Schulprojekt Each One Teach One untergebracht ist, beginnt für Precious ein Aufwärtstrend. Sie begegnet der einfühlsamen, engagierten Lehrerin Ms. Rain. Mit ihrer Schönheit, Eleganz und ihrem Liebreiz verkörpert die Lehrerin, gespielt von Paula Patton, die gute Fee in dieser Geschichte. Ms. Rain lehrt ihren Schülerinnen lesen und schreiben, und sie ermuntert die Mädchen, an sich selbst zu glauben und ihre Persönlichkeit auszudrücken. Die zweite „gute Fee“, die sich Precious’ Schicksals ernsthaft annimmt und ihr aufmerksam zuhört, ist die Sozialarbeiterin Mrs. Weiss, überzeugend einfühlsam von der Popsängerin Mariah Carey gespielt.

War Precious’ ganzes Selbstbild und ihr im Voice-over zu hörender innerer Monolog aus Selbstbeschimpfungen vom Vokabular ihrer Mutter geprägt, so entwickelt Precious schreibend ihre eigene Stimme und entdeckt sich als eigenständige Persönlichkeit. Mit dem Feedback von Ms. Rain entwickelt Precious ihre eigene Sichtweise auf die Ereignisse. Hatte sie anfangs der Direktorin Mrs. Lichtenstein auf die Frage, wieso sie schwanger sei, noch lapidar geantwortet: „Ich hatte Sex“, wird sie schließlich der Sozialarbeiterin, ihrer Lehrerin und ihren Mitschülerinnen die andere Wahrheit offenbaren, nämlich, dass ihr Vater ihr die Kinder „gemacht hat“.

In der Romanvorlage „Push“ von Sapphire erzählt die Protagonistin ihre Geschichte in inneren Monologen. Dabei steigert sich mit zunehmender Emanzipation der Heldin deren sprachliches Ausdrucksvermögen hinsichtlich grammatikalischer und intellektueller Komplexität. Abgesehen von der Titelsequenz, wo in den in Handschrift gestalteten Credits einzelne Buchstaben fehlen, greift der Film dies in Precious’ Voice-over Monologen nur selten auf. Bevor Sapphire ihren ersten Roman 1996 vorlegte, hatte sie von den frühen 80ern bis in die frühen 90er Jahre selbst in Harlem gelebt und Kindern und Erwachsenen Lesen und Schreiben beigebracht. „Push“ wurde mehrfach ausgezeichnet und von US-Talkerin und PRECIOUS-Mitproduzentin Operah Winfrey regelrecht gefeiert. In den USA wurde der Roman zum Bestseller.

Daniels Film erzählt Precious’ Flucht und ihre Emanzipation dramaturgisch dicht in ausgewählten Bildern. Obwohl mit schweren Schicksalsschlägen in diesem Film ebenso wie in der literarischen Vorlage nicht gespart wird, wohnt Precious’ Emanzipation eine Leichtigkeit inne. Reinen Herzens, mit klarem Urteilsvermögen und übervoll an Mutterliebe will sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen, sie schützen und fördern.

Der Plot erspart der Hauptfigur langwierige quälende Selbstvorwürfe und Selbstzweifel, wie sie sich die Opfer von Missbrauch und Inzest häufig machen. Precious besitzt eine innere Makellosigkeit, eine ungebrochene Unschuld, wie sie sonst nur Helden im Märchen besitzen. Dagegen wirkt ihre Mutter Mary umso grausamer. Wie Mary zu dem wurde, was sie ist, lässt der Film offen. Wenn sie am Ende bei Mrs. Weiss sitzt, den Missbrauch ihrer Tochter schildert und sich dabei selbst beweint, begreift der Zuschauer die zerstörerische Dynamik, in der Täter sich für Opfer halten und ihre Opfer zu Tätern erklären.

Getragen von großartigen Schauspielerleistungen und einem gut geschriebenen Drehbuch erzählt PRECIOUS von der Wirkung der Bildung und der Notwendigkeit engagierter Helfer. Regisseur Lee Daniels ist ein ebenso kluges wie unterhaltsames Sozialdrama gelungen. Dass es teilweise etwas plakativ daher kommt, sei im angesichts der wichtigen Botschaft und wegen seines Mutes, den er bei der Inszenierung bewiesen hat, verziehen.

Karin Tilch


„Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire“.
USA 2009, Regie Lee Daniels. Drehbuch: Geoffrey Fletcher nach dem Roman „Push“ von Sapphire. Kamera: Andrew Dunn. Musik: Mario Grigorov. Schnitt: Joe Klotz. Produktion: Lee Daniels, Sarah Siegel-Magness, Gary Magness. Ausführende Produktion: Operah Winfrey, Tyler Perry, Lisa Cortés, Tom Heller.
Darsteller: Gabourey Sidibe, Mo’Nique, Paula Patton, Mariah Carey, Lenny Kravitz
Vertrieb: Prokino
Laufzeit: 109 min
Veröffentlichung am: 16.09.2010

Extras (ca. 50 min): Audiokommentar mit Regisseur Lee Daniels, Gabbys Probeaufnahmen, unveröffentlichte Szene, Interview mit Lenny Kravitz, Operah und Tyler: Herzblut für Precious, Szenen vom Dreh, Film trifft Roman: Lee Daniels und die Romanautorin Sapphire


Diesen Film können Sie bequem in unserem Online-Shop bestellen: Als DVD wie auch als Blu-Ray.

Filme und Macher beim eDIT in Frankfurt:

Zum 13. Mal findet vom 26. bis 28. September in Frankfurt, dieses Jahr in den E-Kinos, das "Filmmaker's Festival" eDIT statt.
Das Festival ist die internationale Plattform für Filmproduktion im digitalen Zeitalter mit rund 40 Einzelveranstaltungen und vielen Filmvorführungen. Neben Visual Effects erfolgreicher Blockbuster sind 3D-Filme, Animation, Kamera und Schnitt, Filmton und Produktion die Schwerpunkte des Festivals. Dabei haben sich hochkarätige Medienschaffende wie Rob Legato ("Titanic"), John Nelson ("Gladiator") oder Paul Franklin ("Inception") für Visual Effects-Präsentationen angesagt. Zudem gibt es Symposien, Diskussionen, Seminare, Vorträge...

Alle Infos und das Programm finden Sie unter www.edit-frankfurt.de.

Im Kino: "Mammuth"

Jetzt kommt er ins Kino, der Film, der unserem rasenden Reporter Harald Mühlbeyer die Berlinale 2010 rettete: "Mammuth" von Benoît Delépine und Gustave Kervern, mit einem grandiosen Gerard Depardieu. Unser Befehl: Angucken!

Hier ein Ausschnitt aus Mühlbeyers Berlinale-Bericht:


„Mammuth“ ist der neue Film von Benoît Delépine und Gustave Kervern, mit einem phänomenalen Gerard Depardieu in der Hauptrolle mit passendem Spitznamen Mammuth, einen dumpfen, ungebildeten, langhaarigen, sehr fetten Dummling. Der wird in den Ruhestand geschickt, hat Langeweile, weiß nichts mit sich anzufangen und muss dann für seine Rentenansprüche noch ein paar Arbeitsbescheinigungen aus weit zurückliegenden Zeiten zusammensuchen: eine Reise durch Frankreich, zu den Orten seiner Vergangenheit, zu den früheren Arbeitsstellen als Türsteher, Jahrmarktarbeiter, Hilfsarbeiter. Eine Reise auf seinem alten Münch-Mammut-Motorrad, Baujahr 1973; begleitet von einem Gespenst, von den Bildern seiner ersten großen Liebe, die bei einem Motorradunfall gestorben ist: Isabelle Adjani spukt durch den Film.

Die Regisseure haben sich hier ganz aufs Episodische eingelassen, kein großes Ziel treibt „Mammuth“ an, wie es noch im vorhergehenden „Louise Hires a Contract Killer“ war. Keine Antiglobalisierungs-Agitprop-Bizarrerien, sondern schlicht die reine Absurdität des Daseins wird hier präsentiert. Wie sich Mammuth auf einen seltsamen Wettbewerb am Strand einlässt mit einem, der wie er mit dem Metalldetektor unterwegs ist; oder, vor allem: wie er zu seiner Nichte zieht, die aus allerlei Gegenständen seltsame Kunstwerke erschafft, irgendwo zwischen fantastischem Einfallsreichtum und naivem Kitsch – die Künstlerin Miss Ming spielt diese Frau namens Miss Ming. Und zugleich ist diese Miss Ming ziemlich deutlich debil. Und sie verändert Mammuth: der hat am Ende eine Art indianischen Kaftan an und merkt, dass er selbst auch Kunst erschaffen kann, Schinken-Kunst: Schinken-Papier-Schinken-Papier-Schinken-Papier-Schinken-Papier usw. aufeinandergeschichtet. Irgendwie hat er was gelernt über sein Leben, darüber, wie er sein Leben lang runtergedrückt wurde, sich selbst unter einen Scheffel gestellt hat. Vielleicht – eine direkt plausible Moral kann dem Film auch wieder nicht entnommen werden.

Unvergesslich jedenfalls, wie sehr sich Mammuth in seine Vergangenheit versetzt, wenn er wie damals, vor 45 Jahren, mit seinem Cousin im Bett liegt und sie sich gegenseitig einen runterholen.


"Mammuth"
Frankreich 2010. Buch, Regie: Benoît Delépine und Gustave Kervern. Kamera: Hugues Poulain. Musik: Gaëtan Roussel. Produktion: Jean-Pierre Guerin, Christophe Valette.
Darsteller: Gérard Depardieu (Serge Pilardosse / Mammuth), Yolande Moreau (Catherine Pilardosse), Isabelle Adjani (Yasmine), Miss Ming (MIss Ming).
Länge 92 Minuten
Verleih: X-Verleih
Kinostart: 16.9.2010

Im Kino: „Groupies bleiben nicht zum Frühstück“ – Mädchen-Märchen

„Groupies bleiben nicht zum Frühstück“
Deutschland 2010. Regie: Marc Rothemund. Kinostart: 16.09.2010


Ende Juli 1969 war es, da wohnten die Led Zeppelin-Mitglieder im Edgewater Inn in Seattle, direkt am Pazifik gelegen, so dass man aus dem Hotelfenster heraus Fische angeln konnte. Hier trug sich der Zwischenfall zu, der Led Zeppelin berüchtigt machte; die Einzelheiten sind ungeklärt, es spielen mindestens mit: Richard Cole, Roadmanager; John Bonham, Schlagzeuger; Mark Stein, Keyboarder bei Vanilla Fudge; ein rothaariges, ziemlich nacktes Mädel; und ein Fisch. Ein Hai, so heißt es, vielleicht aber auch „nur“ ein Roter Schnapper (a red snapper for her red snapper, wie es Cole formuliert). Genaueres weiß man nicht, die Wahrheit der Legende bleibt der Fantasie überlassen – obwohl Mark Stein eine 8mm-Kamera dabeigehabt haben soll, deren Filmmaterial freilich nie aufgetaucht ist. Schade eigentlich.

Ein solcher Film ist Marc Rothemunds „Groupies bleiben nicht zum Frühstück“ natürlich nicht; Groupies kommen keine vor, nur Kreischteenie-Fans. Fische auch nicht, nur eine texanische Sarracenia alata, eine seltene fleischfressende Pflanze, die Lila und Chris, Leadsanger der angesagten Popband Berlin Mitte zusammenbringt. Statt Hotelzimmerzerstörung gibt es eine Kissenschlacht. Es hätte also auch etwas schief gehen im sensiblen Bereich Star – Fan, Musik, Celebrity-Dasein, Liebe und Pflicht. Doch nein: es hat alles geklappt in dieser romantischen Liebesgeschichte zwischen Schülerin und Popstar.

Anna Fischer spielt die gerade nach einem Jahr USA heimgekehrte Lila zauberhaft süß, wirkt weder eindimensional billig noch oberflächlich funktional; dass das Mädel in einer romantic comedy bei allem Verliebtsein doch eigenständig und selbstbewusst sein kann, ohne das Zickenklischee zu erfüllen, ist auch im internationalen Maßstab nicht gerade häufig. Kostja Ullmann spielt glaubwürdig die beiden Seiten von Christopher, dem ganz normalen Jungen, und Chriz, dem umjubelten, vielgeliebten Teenieschwarm, der mit professioneller Freundlichkeit die Huldigungen seiner weiblichen, jungen Fans entgegennimmt.

Und Marc Rothemund? Immerhin hat der Mann „Sophie Scholl“ verbrochenen, diesen unbeholfenen Beitrag zur deutschen Selbstvergewisserung! Aber tatsächlich kann er mit großer Leichtigkeit seine schöne, kleine, märchenhafte Geschichte erzählen. Klar gibt es da Klischees: die Klassenzicke, die burschikose Berliner-Schnauze-Freundin, den Vertrag des Sängers, der ihm eine Beziehung verbietet; und in der zweiten Hälfte eiert der Film ein bisschen zwischen himmelhochjauchzender Liebe und zutodebetrübter Enttäuschung hin und her. Aber stets geht Rothemund ironisch mit seinem Sujet um. Und gerade das verleiht dem Film seine Frische, seinen Charme: dass er einerseits durchaus für eine Zielgruppe gemacht ist, die auch genausogut Fan der Film-Band Berlin Mitte sein könnte – und dass er gleichzeitig den Fan- und Medienhype zeigt, von dem seine Zuschauer Teil sind. Kritische Aufklärung über böse Popindustrie ist das natürlich nicht; aber die beiläufige Betrachtung eines Phänomens, eine Art Selbstbeobachtung des Zielpublikums auf der Leinwand. Und auf jeden Fall ein einfallsreich inszeniertes, mit kleinen Gags garniertes, von funkelnden Dialogen sprühendes Liebesmärchen.


Harald Mühlbeyer


„Groupies bleiben nicht zum Frühstück“
Deutschland 2010. Regie: Marc Rothemund. Buch: Kristina Magdalena Henn, Lea Schmidbauer. Kamera: Martin Langer. Musik: Gerd Baumann. Songs: Roland Spremberg. Produktion: Ewa Karlström, Andreas Ulmke-Smeaton.
Mit: Anna Fischer (Lila), Kostja Ullman (Chriz), Inka Friedrich (Angelika), Amber Bongard (Luzy), Roman Knizka (Paul, Manager), Michael Keseroglu (Bodyguard).
Länge: 103 Minuten.
Verleih: Disney.
Kinostart: 16.09.2010

Im Kino: „Resident Evil: Afterlife“ - Alice in den Städten

„Resident Evil: Afterlife“. Deutschland/Großbritannien/USA 2010. Regie: Paul W. S. Anderson.
Kinostart: 16. September 2010

Der vierte Teil der Resident Evil-Saga ist vermutlich der erste Film überhaupt, der primär mit einem Kamerasystem beworben wird. Nicht Hauptdarstellerin Milla Jovovich, nicht Autor/Regisseur/Ehemann Paul W. S. Anderson stehen hier im Vordergrund, erklären uns Trailer und Plakate, sondern die Cameron/Pace Fusion 3D-Kamera, mit der auch AVATAR gefilmt wurde, ist der wahre Star von AFTERLIFE, wie „Resident Evil 4“ betitelt wurde.

Der Film bestätigt diese Annahme auf ganzer Länge. Schon die Eröffnungssequenz, in der Jovovichs Alice, nahtlos anknüpfend an das Finale des Vorläuferfilms EXTINCTION, mit einer Horde von Klonen das Hauptquartier der finsteren Umbrella Corporation stürmt, macht sehr schnell klar, dass es völlig egal ist, wer hier lebt oder stirbt, solange es cool aussieht. Wenn zentrale Charaktere verwundet oder scheinbar getötet werden, hat das keinerlei Relevanz. Ganz wie in der Videospielserie, auf der die Filmreihe basiert, steht fast jeder nach kurzer Zeit bestimmt wieder auf, um sich fröhlich in 3D weiter von Level zu Level zu ballern und zu metzeln.

Man möchte das fast „konsequent“ nennen. AFTERLIFE ist Exploitation-Kino der reinsten Natur. Genau wie Zombiefilme dieser Kategorie immer schon die Standards des Horrorgenres ausgeschlachtet haben, so schlachtet AFTERLIFE in seiner kompletten Konzeption auch die Standards des 3D-Kinos aus. Es gibt zwar nur wenige ausgesuchte Pop-Out-Effekte, dafür aber genug große Hallen, Flure mit starken Fluchten, Flüge durch weite Landschaften, Kämpfe in Zeitlupe und jede Menge regnendes Wasser, notfalls halt in einem Duschraum. Keine Angst: Milla Jovovichs Mascara kann auch unter solch widrigen Umständen nicht verschmieren.

Positiv zugutehalten kann man der ganzen „Resident Evil“-Reihe immerhin, dass sie ihr Geschehen tatsächlich seriell fortschreibt, statt in die Fortsetzungsfalle zu treten und immer nur die Handlung des Ur-Films zu wiederholen. Ähnlich wie schon EXTINCTION zeigt auch der neue Film eine kontinuierliche Vision der Welt im titelgebenden AFTERLIFE der Zombie-Apokalypse. Gelegentlich bringt er dafür sogar eine Portion Humor auf, wenn etwa das Trüppchen Überlebender, das sich in Los Angeles auf das Dach eines Gefängnisses geflohen hat, aus Hollywood-Stereotypen besteht, inklusive einem windigen Verräter, der verächtlich als ehemaliger Produzent von Blockbusterfilmen charakterisiert wird.

Solche Lichtblicke können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass RESIDENT EVIL: AFTERLIFE insgesamt nicht mehr als ein matschiges Etwas von aneinandergereihten Schlachtfesten ist, das von Dialogzeilen zusammengehalten wird, die ebenso dumpf daherpochen wie der Steroiden-Soundtrack des Komponisten-Duos tomandandy. Alice und ihre neuen und alten Kumpanen kämpfen in einem großen Teil der 97 Filmminuten mitnichten nur gegen Zombies, sondern vor allem gegen merkwürdige Mutantenmonster, über deren Identität und Sinn man am Ende ebensowenig weiß wie über die mäandernde Handlung, die sich schließlich auf ein hanebüchenes Finale kapriziert. Nicht ohne dass dann eine kurze Sequenz nach dem Abspann noch einen draufsetzt und eine kaum weniger sinnentleerte Weiterschreibung ankündigt, die Jovovich in Interviews auch bereits bestätigt hat. Es gibt eben noch viel zu töten da draußen.


Alexander Gajic



„Resident Evil: Afterlife“
Deutschland/Großbritannien/USA 2010. Regie und Buch: Paul W. S. Anderson (basierend auf Capcoms Videospiel „Resident Evil“). Kamera: Glen MacPherson. Visual Effects Supervisor: Dennis Berardi. Musik: tomandandy. Produktion: Jeremy Bolt, Paul W. S. Anderson, Robert Kulzer, Don Carmody, Bernd Eichinger, Samuel Hadida.
Darsteller: Milla Jovovich (Alice), Ali Larter (Claire), Wentworth Miller (Chris), Kim Coates (Bennett), Shawn Roberts (Wesker), Boris Kodjoe (Luther), Spencer Locke (K-Mart).
Verleih: Constantin.
Laufzeit: 97 Min.
Kinostart Deutschland: 16. September 2010.

Im Kino: "Ponyo - Das große Abenteuer am Meer"

Schon 2009 hatte Maximilian Miguletz Hayaho Miyazakis neuesten Film vorgestellt: "Ponyo", der lange Zeit keinen Kinostart erhalten hatte. Jetzt kommt er am 16. September doch raus, und wir empfehlen ihn gerne nochmals; weil jeder seine Freude daran haben wird.



„Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“ („Gake no ue no Ponyo“)
J 2008, Regie, Buch: Hayao Miyazaki. Kinostart: 16.9.2010


Ich höre auf. Ich höre nicht auf. Ich mache Schluss. Einer geht noch. Als zupfte er Blütenblätter. Zwei Mal – nach „Prinzessin Mononoke“ (1997) und nach „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) – hat Hayao Miyazaki bereits seine Rentenzeit eingeläutet, zwei Mal gab’s den Rücktritt vom Rücktritt inklusive weiterem Zuwachs zu seinem bemerkenswerten Oeuvre. Und jetzt das: kein CGI, kindgerechter, alles irgendwie weniger episch, keine Flugmaschinen – ein Film, mit dem der Animationsregisseur einen Schritt zurück geht? Ach was!

Gut: Eine Rückbesinnung ist „Ponyo – Das verzauberte Goldfischmädchen“ in der Tat. Miyazaki pflegt lieb gewonnene Standards. Mensch und Natur werden gegenüber gestellt (wie in „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ oder „Mononoke“), Kinder oder junge Erwachsene agieren als Helden. Mehr noch. Wie in „Das Schloss am Himmel“ rettet ein Junge ein magisches Mädchen. Wie in „Porco Rosso“, „Chihiro“ und „Das wandelnde Schloss“ kommt es zu Verwandlungen in Verbindung mit Liebe. Wie in „Kikis kleiner Lieferservice“ begibt sich die Heroine auf eine Art Selbstfindung. Und ja, „Ponyo“ ruft in seiner Unbeschwertheit „Mein Nachbar Totoro“ in Erinnerung. Aber das ist weder als Mangel noch als Müdigkeit Miyazakis zu werten.

Der Film basiert lose auf „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans-Christian Andersen, aber wohl auch, und das ist erstaunlich, auf Miyazakis Leben. Die Tauben pfeifen es von den worldwiden Dächern: Der männliche Protagonist, der junge Sosuke, basiere auf Miyazakis Sohn Goro. Im Film ist Sosukes Vater Seemann und oft nicht zuhause bei seiner Familie. Miyazaki selbst war laut Sohn Goro selten daheim, gar ein schlechter Vater. Ein Eingeständnis des Regisseurs? In jedem Fall eine interessante, weil neue Lesart eines Miyazaki-Films. Seine eigene Vaterrolle wird durch Sosukes abwesenden Vater womöglich negativ kommentiert. Ponyos Vater Fujimoto und dessen ungesunde Umklammerung der Tochter wiederum lassen sich als Kritik an falscher Über-Fürsorge deuten.

Fujimoto ist der neue Poseidon. Ein im Meer lebender Magier, der um das Wohlergehen des Ozeans besorgt ist und die Menschen ob ihrer Umweltverschmutzung verabscheut. Seine Tochter ist da etwas anders gestrickt. Der Goldfisch mit Gesicht hat Fernweh, fühlt sich von den Menschen angezogen. Eines Tages flieht sie aus der väterlichen Fürsorge respektive Gefangenschaft, verfängt sich aber sogleich in einem Glas. Am Strand angespült entdeckt sie der junge Sosuke und befreit sie gerade noch rechtzeitig. Er tauft sie Ponyo und erklärt, ab sofort auf sie aufpassen zu wollen. Der Fisch ist begeistert: „Ponyo liebt Sosuke“. Zwar gelingt es Fujimoto, seine Tochter zurückzuholen. Ponyo lässt sich aber nicht beirren, befreit sich erneut und ist fest entschlossen, sich in einen Mensch zu verwandeln. Damit setzt sie aber gleichzeitig ein maritimes Malheur in Gang, das die ganze Welt bedroht...

Anders als bei „Totoro“ oder „Chihiro“ werden Zuschauer und Protagonisten nicht behutsam in eine fantastische Welt eingeführt. In medias res geht‘s ab in die wundersame Tiefe des Ozeans. Mit einer 12-sekündigen Sequenz, die den beeindruckenden Detailreichtum von Miyazakis Filmen belegt. Da schwimmt, taucht, wabert so viel Meeresgetier – das Auge weiß nicht wohin. Die Protagonistin ist selbst ein Märchenwesen und der Zuschauer muss die Magie der Welt unmittelbar akzeptieren. Wie es auch jeder Charakter in Miyazakis Filmen tut. „Das ist Ponyo, sie war ein Fisch, jetzt ist sie ein Mädchen“, sagt Sosuke. Die Mutter stutzt nicht einmal.

In seinen übernatürlichen Welten verhandelt Miyazaki aber reale Probleme, stets aus verschiedenen Perspektiven. So können für den Plot unterschiedlichste Interpretationsweisen gelten. Ponyos Weg sagt: Du musst dir selbst treu sein und dich selbst verwirklichen. In einer atemberaubend gezeichneten, mit Musik à la Richard Wagner unterlegten Actionsequenz reitet Ponyo auf den Wellen eines Tsunamis, den Sosukes Mutter nicht gänzlich wahrnimmt: Ertrinke nicht in Hektik oder dir wird der Boden unter den Füßen weggespült. Sosukes Liebe zum Goldfischmädchen Ponyo: Können die Menschen die Natur lieben, behüten und so überleben?

Die strikte Untertreibung in Bezug auf die Gefahrenmomente durch die ökologische Katastrophe und das abrupt-simple Ende mögen bitter aufstoßen. Dennoch steckt viel drin, im neusten Miyazaki. Mit „Ponyo“ entdeckt sich „Japans Walt Disney“ teilweise neu. Versatzstücke aus seinen bisherigen Filmen ergänzen sich vor dem Hintergrund der persönlichen Note und der feinen Variationen zu einem weiteren sehenswerten Anime aus dem Hause Ghibli. Nach dem US-Start erklärte Miyazaki: „Wenn Kinder fühlen können, dass wenigstens ein Film etwas ist, das sie den Rest ihres Lebens nicht vergessen können, dann würde uns das wirklich glücklich machen.“ Bleibt zu hoffen, auch die Kinder (und Erwachsenen) in Deutschland in den Genuss von „Ponyo“ kommen - ursprünglich war ein deutscher Kinostarttermin am 8. Oktober 2009 im Constantin-Verleih vorgesehen, inzwischen liegen die Rechte bei Universum Film, was wohl auf einen direct-to-DVD-Release schließen lässt. Für den aber noch nichts angekündigt ist.

Von Maximilian Miguletz


„Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“ („Gake no ue no Ponyo“)
J 2008, Regie: Hayao Miyazaki; Buch: Hayao Miyazaki; Kamera: Atsushi Okui; Musik: Joe Hisaishi; Produktion: Toshio Suzuki, Hayao Miyazaki, Koji Hoshino.
Sprecher (OV): Yuria Nara (Ponyo), Hiroki Doi (Sosuke), Jôji Tokoro (Fujimoto), Tomoko Yamaguchi (Risa), Yuki Amami (Guranmamare), Kazushige Nagashima (Kôichi), Akiko Yano (Ponyo no kyôdai), Shinichi Hatori (Anchorman).
Laufzeit: 100 Minuten

Im Kino: "Humpday"

Seit ein paar Tagen in den deutschen Kinos, auf Screenshot schon seit exground 09 nachzulesen: Lynn Sheltons Männerfreundschaftskomödie "Humpday".

Martin Urschel schrieb in der exground-Berichterstattung:


Mitten in der Nacht klingelt es an der Tür - Ben (Mark Duplass) kriecht aus dem Bett, seine Frau ist noch halb am Schlafen. Wer da laut polternd die Nachtruhe stört, völlig aufgekratzt, ist Bens Jugendfreund Andrew (Joshua Leonard).

Die beiden haben sich einige Jahre nicht gesehen. Ben ist zum "Square" geworden, lebt ein durchschnittlich-solides bürgerliches Leben mit seiner Frau, Andrew versucht sich erfolglos als vagabundierender Künstler, scheint viel Sex zu haben, ist aber Single.

Die Wiederbegegnung der beiden Männer ist so körperlich, so zärtlich, dass der Zuschauer - und die Ehefrau (Alycia Delmore), die mittlerweile dazugestoßen ist - sich fragen muss, was für eine Freundschaft diese beiden Männer wohl einmal geführt haben.

Andrew zieht kurzentschlossen für ein paar Tage bei dem Ehepaar ein. Immer wieder gibt es zwischen den Macho-Späßen der zwei Freunde kleine Momente von Homo-Erotik, wenn sie sich zum Beispiel beim Basketball spielen um den Ball prügeln und so lange auf der Straße umherwalzen, dass die Kinder aus der Nachbarschaft große Augen bekommen.

Bei einer Party, besoffen, schließen die alten Freunde eine Wette ab: Sie werden für das örtliche Art-Porn-Festival einen Beitrag filmen. Und zwar als Hauptdarsteller eines heterosexuellen Schwulenpornos.

Das ist nur eine dumme Partywette, die man am Morgen danach getrost vergessen kann, so scheint es - aber die beiden Männer wollen keinesfalls zurücktreten von der Abmachung, auch als sie wieder nüchtern sind.

Der Film bezieht seine Spannung vor allem aus der Frage: Tun sie's oder tun sie's nicht? Dahinter liegt aber noch eine andere Frage, die etwas ernster ist: Warum überhaupt wollen sie "es" denn eigentlich tun?

Die Regisseurin Lynn Shelton, die auch das Drehbuch geschrieben hat und selbst mitspielt, verhandelt in ihrem zweiten Film "Humpday" Fragen nach der Geschlechtsidentität ihrer männlichen Hauptfiguren in Zeiten des Neoliberalismus. Was heißt Männlichkeit? Was heißt Hetero, was Homo für diese (amerikanischen!) Figuren? Zwar gibt sich Andrew als aufgeschlossener Bohemian, aber als die zwei Frauen, mit denen er ins Bett steigt, ihm einen Dildo unter die Nase halten, kann er nicht anders als fliehen.

SPOILER IM NÄCHSTEN ABSCHNITT:

Es stellt sich heraus, dass der solide Ben, sosehr er seine Frau liebt, sich einmal in einen Mann verguckt hat. Mit dieser Erfahrung geht er so schamvoll um, dass es kaum überrascht, dass zwischen den zwei Männern schließlich nicht viel passiert, als sie sich im Hotelzimmer für die Kamera ausziehen.

Ein Kuss auf den Mund - "war doch gar nicht so schlecht ... gut war es eigentlich auch nicht ... eigentlich war es schlecht ..." - ein paar ungelenke Umarmungen und dann ein langes, langes Gespräch. Lynn Shelton zeichnet präzise die Emotionskurven nach, das Hin und Her, die Beklemmung, die totale Abwesenheit von Erotik. Die beiden Männer, die gar nicht so sicher waren, ob nicht doch etwas Schwules in ihnen steckt, kommen am Ende zu der Einsicht: Wir sind zu heterosexuell, um miteinander zu schlafen. Zu absurd scheint schon der Gedanke.

Es bleibt offen, ob die beiden, trotz ihrer oberflächlich aufgeschlossenen Haltung, einfach doch zu prüde, zu verklemmt, zu angstvoll waren, um das sexuelle Potenzial ihrer Freundschaft auszuprobieren - oder ob sie tatsächlich so durch und durch Heteros sind, wie sie sich gerne sehen wollen. Man könnte argumentieren: Die ersten Szenen des Films widerlegen Letzteres.

SPOILER ENDE

Die Gender-Thematik wird nicht bis ins Letzte konsequent durchgespielt, aber das ist auch gar nicht so schlimm, denn die eigentliche Qualität des Films liegt in seiner leichtfüßigen Art zu erzählen. Die Kamera (Benjamin Kasulke) wirft fast dokumentarisch anmutende, unaufdringliche Handkamera-Blicke auf die Figuren. Zu keinem Zeitpunkt verliert man als Zuschauer den Überblick und doch lebt der Film von zahlreichen Doppeldeutigkeiten. Auf eine wunderbar einfache, durchsichtige Weise saugt der Film uns in seine Welt voller skurriler Alltags-Momente, so energiereich und witzig inszeniert, dass die Zeit im Flug vergeht.

Grindhouse-Nacht: Die Satansweiber von Mannheim

Yeah, am Samstag, den 18. September um 21.30 Uhr ist es wieder soweit: Nach der Sommerpause läuft wieder eine Grindhouse-Doppelnacht im Mannheimer Cinema Quadrat. Diesmal mit:

SEVEN WOMEN FOR SATAN (LES WEEK-ENDS MALÉFIQUES DU COMTE ZAROFF)
FRA 1974. R: Michel Lemoine. D: Michel Lemoine, Nathalie Zeiger, Howard Vernon. 82 Min.
"Seven Women for Satan" ist ein Ausflug in die frühen 70er Jahre des französischen Horrorfilms. Erzählt wird die Geschichte des Grafen Zoroff und seines aufdringlichen Dieners Karl. Kurzum: ein wilder psychedelischer Albtraum von Liebe, Lust und Verdammnis.

und

ÜBERRASCHUNGSFILM!

Ich bin jetzt schon gespannt.

FILMZ des Monats: "Die Legende von Paul und Paula" im Residenz-Kino, Mainz

Am Mittwoch, 15. September 2010 um 20.00 Uhr läuft im Residenz & Prinzess Filmtheater Mainz der Defa-Klassiker „Die Legende von Paul und Paula“ (R: Heiner Carow, 1973) mit filmwissenschaftlicher Einführung von Prof. Dr. Oksana Bulgakowa.
Nicht nur Angelica Domröse und Winfried Glatzeder in den Titelrollen, sondern auch die inzwischen legendäre Musik der Puhdys machten ihn zu einem der erfolgreichsten und populärsten Filme der DDR.

Paula, allein erziehende Mutter zweier Kinder, lernt in einem Ostberliner Musiklokal den Staatsbeamten Paul kennen. Paul ist verheiratet, wird aber von seiner Frau betrogen. Die beiden verlieben sich ineinander. Während Paula bereit ist, für das gemeinsame Glück mit allen bürgerlichen Konventionen zu brechen, zögert Paul zunächst. Bis auch er erkennt, dass er in Paula seine große Liebe gefunden hat.

"Die Legende von Paul und Paula" läuft in der Filmreihe "FILMZ des Monats", die die Wartezeit auf das Mainzer Filmfestival FILMZ im November mit monatlichen Vorführungen von deutschen Filmklassikern verkürzen soll.

Die weiteren Termine:

Mittwoch, 13. Oktober | 20.00 Uhr "Fitzcarraldo" (R: Werner Herzog, D 1982)

Mittwoch, 3. November | 20.00 Uhr "Absolute Giganten" (R: Sebastian Schipper, 1999)

Mittwoch, 17. November | 20.00 Uhr "Gegen die Wand" (R: Fatih Akin, 2004)

FOUR LIONS (UK 2010)

Mit Entsetzen Scherz treiben...


von unserer Partnerseite Terrorismus&Film.


I.
Die Ausschnitte und Trailer täuschen nicht – so böse und albern verulkt Christopher Morris den (nicht nur) britischen homegrown terrorism durchaus:

Der putzig-tölpelige Fessel (Adeel Akthar) erklärt so treu-doof wie schuldbewusst harmlos, warum es nichts ausmacht, dass er die Unmengen Wasserstoffperoxid immer nur im nahen Laden zusammengekauft hat: Immerhin habe er mit verschiedenen Stimmen gesprochen, mit einer IRA-Stimme, mit einer Frauenstimme (seinen Bart habe er sich dabei natürlich mit den Händen abgedeckt). Immerhin kennt er sich mit seinen Glaubensvorschriften aus – sein Märtyrer-Video will er nur mit einem Karton auf dem Kopf drehen, weil Abbildungen ja verboten sind. Immerhin: ein Geschwader Selbstmordkrähen plant er, in die Türme der Ungläubigen zu schicken; dumm nur, dass sein Testexemplar, das er eben noch aufs Paradies eingeschwört hat, gar nicht groß zum Einsatz kommt: Kaum dass Fessal drei Schritte weg ist, detoniert der Vogel in einem Feuer- oder vielmehr Federball.



Der zweite karikatureske Depp der britischen Freizeit-Mudschaheddin-Gruppe ist Waj (Kayvan Novak). Dass seine AK-47 auf der Videobotschaft zu klein ist (ist ja auch nur ein Modellnachbau), darin sieht er kein Problem, er rückt man einfach näher an die Kamera, schon wirkt sie größer. Waj ist der tumbe, der kindische Holzkopf, der sich stets sagen lässt und sagen lassen muss, was er zu tun und zu denken hat, ob er auf sein Herz oder seine Hirn hören muss (je nachdem, was ihm davon was gerade sagt). Seine eigenen Islam-Kenntnisse stammen aus einem Kinderbuch, das allerdings nicht ganz gelesen hat: „The Camel Who Went To The Mosque“.



FOUR LIONS ist Klamauk und Satire, eine Posse, die sich ihren Spaß mit netten Fanatikern neben an macht und mit dem großen Weltschrecken der Schläferzellen und al-Qaida-Ableger Unfug treibt, in dem er ihn in der Banalität von Reihenhaussiedlungen und Arbeiterstraßen um sich selbst kreisen lässt.

Zugleich aber ist FOUR LIONS eine waschechte Tragikomödie (zumindest ein wenig), denn er erzählt mit seinen Figuren eine fast klassisch zu nennende Geschichte, mit einem Humor, der durch der Art überrascht, mit der er im Hals steckenbleibt. Echte Charaktere und Knallchargen, schwarze Nummernrevue und Handlungs- und Spannungsbogen – das geht ebenso gut wie ebenso schlecht zusammen wie die Ästhetik, die bewusst unentschieden und gerade damit konsequent und originell im Niemandsland zwischen Authentizismus und Inszeniertheit irrlichtert: zwischen dokumentarischer Handkamera, Schnittsprüngen und Nachschwenken, dem gerade Geschehenen hinterher, zugleich den traditionellen Schuss-Gegenschuss-Auflösungen der Dialogsituationen und der Vorwegnahme der Ereignisse und Handlungen. Man kennt solch ein formalistisches Spiel mit der Echtheit von Lars von Trier, von DOGVILLE und MANDERLAY (bei denen natürlich noch das Abstrakte des Theaters hineindrängt), vor allem aber von seiner genialen Doku-Krankenhaus-Horror-Soap der besonderen Art: GEISTER / RIGET. Wie in FOUR LIONS markierte das ästhetische Vexierspiel die inhaltliche; die Genre-Doppelbelichtung.



Fast verleidet das einem den Humor; obwohl, nein, das stimmt nicht, er wird in der Rückschau, wie albern und britisch auch immer – unterkühlt, surreal und zugleich gerade deshalb realistisch auf den Punkt –, nur fast zu einer Nebensache, so viel Ernst (so wenig er auch ist) schwingt mit. Dieser Ernst wird nicht ein- oder aufgelöst und birgt zugleich selbst, in sich, nicht nur als Tonlage, soviel bissige Gemeinheit, fast Zynismus. Eine Anteilnahme, die – noch gemeiner – wie beiläufig mit den Gags ein- und ausgespielt wird. FOUR LIONS kündet mit dieser Haltung und Zuwendung zu seinen Figuren von Problemen im Umgang mit Terrorismus und Fanatismus, die weniger sicherheitspolitischer Natur sind, weniger die Polizei oder die Soziologen betreffen, als uns Zuschauer und Geschichtenerzählte, die wir fast achselzuckend von Morris auf die Fragilität und Unzulänglichkeit unserer Vorstellungsbilder und -muster hingewiesen werden, was doch ein unheimliches Bisschen unbequem ist.




II.
Eigentlich sind die vier Löwen fünf, zwischenzeitig, bis sich einer von ihnen (samt einem Schaf) versehentlich in die Luft jagt. Und neben Waj und Fessel sind die anderen Figuren keine solchen Witzgestalten.

Da ist der vulgäre, eitle Barry (grandios: Nigel Lindsay), der im breiten Cockney gerne der Anführer wäre, der die Kommandos gibt, gerne kritisiert, der beleidigt ist, weil er nicht mit ins Terror-Camp nach Pakistan darf. Doch sobald er dann mal das Sagen hat, zeigt sich sein wahres Gesicht: Zwei der Mitstreiter, der Brüder, lässt er eklige Dinge machen (was der Filme wohltuender Weise nur über lustig lakonische Dialoge ausspielt). Mit Barry skizziert Morris kurz und prägnant den Typus jenes Terroristen, der seine kleinen perversen Spielchen treibt, der die Arglosigkeit oder geistige Beschränktheit ausnutzt und der den Dschihad-Terrorismus als privates Ego-Spiel betreibt. Barry ist der, der nach unten tritt und nach oben buckelt. Vulgär und laut, roh und aggressiv ist er, aber auch bauernschlau, schamlos, ein Prolet und Sadist, wenn man ihn lässt, und ebenso gut wie hinter der Heimkamera der Dilettanten-Islamisten und mit dem Sprengstoffgürtel im Ninja-Turtel-Kostüm könnte man ihn sich in einer Nazi-Feldwebeluniform vorstellen, als KGB-Schläger oder gar als Folter-Sergeant des US-Militärs. Barry ist der, der voll bei der Sache ist und dabei nur zufällig seine „Sache“ gefunden hat – sprich: es hätte auch eine ganz andere, völlig konträre sein können.



Als es darum geht, was die Terroristen-Zelle mit ihrem mühselig zusammengebrauten Sprengstoff in die Luft jagen wollen (außer sich selbst natürlich), votiert Barry vehement und hartnäckig für die Moschee. Ganz und gar unbequem gerissen ist das Kalkül dahinter: Barry will ein Attentat den Ungläubigen in die Schuhe schieben und die Gemäßigten somit radikalisieren. Er will, was ein bestimmter Schlag von Terroristen immer will: nicht die Geschichte abkürzen, sondern es brennen sehen. FOUR LIONS schlägt aus seiner Idee einige Lacher, so wenn Omar (Riz Ahmed, ROAD TO GUANTANAMO) mit ihm argumentiert, weshalb das ein saudummer Vorschlag sei (z.B. weil es wenig Sinn macht, die Menschen umzubringen, die man zum Aufstand bewegen will), doch die Gegenargumente sind nicht schlüssig, damit auch nicht (mehr) Teil eines humorigen Schlagabtauschs. Mit ihnen bannt der Film die dahintersteckende sardonische Logik nicht. In diesem Moment wird mit einem Entsetzen Scherz getrieben, dem man nicht Herr wird – und schnell wird der London Marathon als Anschlagsziel durchgesetzt.

Eine andere, höchst unbehagliche Szene: Auf einer Podiumsdiskussion wettert und poltert Barry unbekümmert ob seiner Heuchelei gegen Rassismus und Islamophobie, verdreht mit dem Zorn des Gerechten seinen Mitrednern die Worte im Mund, so dass sie als hilflose Opfer ihrer Political Correctness und Windbeutel der doch kostbaren Werte von Minderheitenschutz und Toleranz dastehen. Er könne doch nicht bestreiten, dass es islamistische Terroristen gäbe, argumentiert die Dame neben ihm, und Barry kontert schamlos: Wenn es sie nicht gäbe, würdet ihr sie erfinden!

Morris führt Barrys Streitgegner dabei nicht vor, macht sie nicht zu lächerlichen Pappkameraden, und gerade dadurch beschleicht einen das Gefühl einer schmerzlichen Ohnmacht; zwischen Stereotypisierung und Vereinnahmung durch Radikale einen sicheren, einfachen und immer gültigen Weg zu finden, ist unmöglich geworden.



Auf die Spitze treibt es schließlich ein junger Muslim im Publikum. Er springt auf, bezichtigt all die Politiker und Sozialarbeiter, überhaupt alle Bürger, Weiße, Nicht-Muslime, in ihm ja sowieso nur einen Terroristen zu sehen. Woraufhin er seinen Mantel aufreißt, darunter: ein Sprengstoffgürtel. Entsetzen im Publikum (und es würde nicht verwundern, wenn Morris die ganze Szene nicht in einer BORRAT-ähnlichen Manier vor unwissendem Publikum gedreht hätte). Der junge Muslim fängt an zu rappen, ruft schließlich „Allahu Akbar“ – panische Schreie – ein Knall – und Luftschlangen fliegen durch Luft. Der Attentäter freut sich und fühlt sich bestätigt: sie seien ja alle verrückt, haben wirklich gedacht, er sei ein Terrorist. Quod erat demonstrandum. „Maschallah!“ zollt ihm Barry Beifall, und ruft zornig „Polizeistaat!“, als Beamten den selbstgerechten Provokateur hinausschleppen.

Der von Arsher Ali gespielte Hassan wird umgehend von Barry rekrutiert, der ihm aber wegen diesen Mätzchen erst mal den Kopf wäscht.



Hassan ist der junge Pop-Muslim, der seine Märtyrer-Botschaft auf dem Video zusammenrappt, wobei mancher Reim nur unter Verbalgewalt zustande kommt. Er zitiert Tupac Shakur, hat eine identitätssuchende Wut im Bauch hat und verwurstet diese zu einem Gotteskrieg, der auch und bitteschön doch Spaß zu machen hat (und kann). Ernst kann es ja trotzdem sein, irgendwie, irgendwann. Was dann auch bedeutet, gedankenlos mit der (wohl drogen-) wirren Nachbarin in der konspirativen Wohnung der Terroristen zwischen den Bombenbau-Materialien eine kleine Privatparty zu feiern. Als ihn seine Verschwörer-Kollegen überraschen, kommen sie davon, weil sie für schwul gehalten werden, aber auch Hassan hat noch mal Glück: Er muss die lästige Zeugin doch nicht beseitigen.

Am weitesten treibt es Morris mit Omar, dem Anführer der Bande. Er ist der Klügste, der Vielschichtigste im Film, die Hauptfigur, und allein, dass ein Film wie FOUR LIONS überhaupt eine Hauptfigur hat, ist nicht selbstverständlich und darüber hinaus sogar ein kleiner Affront.



Auch Omar ist keine allzu große Leuchte: Im Terror-Camp schultert er den Raketenwerfer verkehrt herum, um nicht wie beabsichtigt die herankommende US-Drohne abzuschießen, sondern aus Versehen die weit entfernte Zusammenkunft der Araber und des „Emirs“ (sprich Osama Bin Laden). Immerhin, Omar kann Urdu, ist am stärksten verwurzelt. Morris zeigt ihn als jemanden, der sich dereinst, weit vor Beginn des Films wohl ernsthafte Gedanken gemacht um seine Leben, seine Religion, seine Pflicht. Wie es nun dazu geführt hat, dass er jetzt Bombenanschläge plant, spart FOUR LIONS natürlich aus, jedoch ist dieser Rest immer noch da und übrig, echot gruselig nach in der Figur. Am Ende gerät er gar zu einer Art tragischen Figur, der sein Ende mehr aus Verzweiflung und Resignation denn aus Überzeugung findet.


III.
Der schmale virile Omar, mit seinem dünnen Bart und dem einnehmenden Gesicht ist auch der einzige der Terroristen, dem der Film ein Privat- und Arbeitsleben gibt. Mit und über sie, mit Omar als jungem Vater und Ehemann treibt die Satire ihren vielleicht fiesesten Schabernack: Omar hat ein hübsches Haus, eine noch hübschere Frau, die Krankenschwester Sophia (Preeya Kalidas) und einen kleinen Sohn – in dessen Gute-Nacht-Geschichte Papa seinen Auftrag wie das Versagen am Hindukusch mit dem „König der Löwen“ als Beichte vermischt. Statt, wie es erzählerischer Usus ist, Gattin und Sprössling das dschihadistische Freizeitprojekt zu verheimlichen, sie als Ahnungslose oder zumindest Sorgenvolle ob Omars Engagement ebenfalls zu viktimisieren, zeigt Morris sie von vornherein als unbekümmerte Mitwisser. Kritisch führt Omar Sophia die missglückten Videobotschaften seiner Gruppe vor; neben dran sitzt der Sohn und macht Hausarbeiten. Den Höhepunkt dieser satirisch auf den Kopf gestellten Familienglückseligkeit beschreibt punktgenau Kate Taylor (exklusiv hier auf der Sight & Sound-Website):

The most unsettling character however is Omar’s wife Sophia […], a nurse who is a vision of understanding, supporting her man’s ambitions as if he were planning a trek up Everest. When he falls prey to self-doubt, she encourages him with a casualness that is both chilling and believable: ‚You were loads more fun when you were going to blow yourself up.‘ The subsequent tableau of father, mother and eight-year-old son basking in a moment of warm domestic bliss is held an absurdist beat too long.

Und einen Tick zu lang, aufrichtig und berührend gerät auch Omars Verabschiedung, wenn er sich verklausuliert als vorgeblicher Krankenwagenfahrer von seiner Frau im Krankenhaus unter den Augen der Polizei verabschiedet.



Damit ist’s jedoch immer noch nicht genug: Omar hat zusätzlich einen Bruder, und mit dem fällt auch das letzte so wohlfeil etablierte wie beschützende Bild vom radikal-islamistischen Terroristen. Denn es ist eben dieser Bruder, der der Strenggläubige in der Familie ist. Der im Haus seines Bruders nicht im selben Zimmer sein will wie seine Schwägerin, eine Frau. Der von Omar und Sophia, diesen westlichen, liberalen Muslimen auch prompt veralbert wird. Sie bespritzen ihn mit Wasserpistolen, als er sich ärgert. Gar nicht höhnisch, sind Omar und Sophia, eher liebevoll, neckend. Komm schon, lach doch mal!

Später begegnet Omar ihm und seinen konservativen Glaubensbrüdern im Park, wie sie Fußball spielen. Ein vorsichtiges Angebot, sich ihnen anzuschließen. Doch Omar, gerade in einer Sinnkrise und seiner Terrorzelle verlustig gegangen (deren versöhnendes Zusammenfinden, wie es die Standarddramaturgie hin zum dritten, finalen Akt will, folgt natürlich), ist angeschlagen, keilt aus. Er will seine Zeit nicht mit religiösen Auslegungen verplempern, sondern etwas tun, etwas bewegen... Und mit einem Hieb schlägt FOUR LIONS so den natürliche Konnex zwischen Fundamentalismus und Radikalismus, Terrorismus entzwei.

Natürlich werden dann von der Polizei nicht Omar und die anderen „Löwen“ verhaftet, sondern die strenggläubigen, die sichtbaren Muslime mit ihrer Takke und ihrer „auffälligen“ Frommheit. Wie sollte es auch anders sein; Omar, Fessal, Waj, Barry und Hassan geraten nicht zuletzt auch deshalb zu solchen Komödienfiguren, weil sie sich in ihrer albernen Geheimniskrämerei nicht nur dumm und dümmer bis zur Überzogenheit anstellen, sondern gerade auch, weil von ihnen keiner Notiz nimmt. Sie passen nicht ins Raster oder dürfen es nicht – und ein ganz klein bisschen lässt der Film überlegen, ob dieses Nirgendwohin-Gehören, dem Irgendwo-Sein vielleicht nicht mit eine Grund für diesen Spuk des Terrorismus ist.



FOUR LIONS schlägt in jeder Minute und auf jeder Ebene sein Kapital in bester Douglas-Adams- und Monty-Python-Manier daraus, terroristische und antiterroristische Vernunft und Zwangsläufigkeiten, die sich daraus bildenden Vorstellungen, Schlüsse und Reaktionen sowie ihre Klischees und narrative Formatierung und Bewältigung so stur konsequent zu Ende zu führen, bis sie hohl werden und sich auflösen. Dadurch wird FOUR LIONS zu einer großartigen Satire – und durch Fehlen eines Ersatz-Krücken-Angebots zu einer bemerkenswert unheimlichen.


IV.
Nachtrag:

Opfer-Angehörige der Attentate des 7. Juni 2005, als sich die Rucksackbomber in der Londoner U-Bahn in die Luft jagten und zusammen über 50 Menschen töteten, protestierten gegen FOUR LIONS. Die Satire käme zu früh, so Graham Foulkes, dessen Sohn bei den Anschlägen ums Leben kam.

Dagegen kann und will man schlecht argumentieren, denn Trauer und Wut verlangen zumindest nach dem Recht auf Ernsthaftigkeit. Andererseits ist immer jemand betroffen (oder fühlt sich entsprechend), wenn Film von Terrorismus handeln. Auch gegen PARADISE NOW protestierten Hinterbliebene von Opfern palästinensischer Selbstmordattentäter – derweil dieser Film wiederum von Jack G. Shaheen gelobt wurde, weil er, gegenüber Produktionen wie THE SIEGE oder (selbst-) genügsame Action-Spektakel wie TRUE LIES, Araber und/oder Muslime nicht als reine, eindimensionale Schurken darstellte…

Man kann es also nicht jedem Recht machen – und auch wenn das herzlos gegenüber den echten, direkten oder indirekten Opfern klingt: Man kann und darf darauf nur bis zu einem bestimmten Punkt Rücksicht nehmen – oder besser: muss es erst ab einem gewissen Punkt (z. B. wenn es um die Verunglimpfung von Opfern geht). Vielleicht „trügen“ nämlich die Gefühle, vielleicht ist es besser, Terrorismus und vor allem Terroristen auf kluge Weise durch den Kakao zu ziehen, denn gerade diese behaupten durch ihre Taten eine besondere Ernsthaftigkeit, sind darauf angewiesen. Und in diesem Sinne sind es auch weniger Filmemacher wie Morris, die verletzen – sondern immer und in allererster Linie die Terroristen selbst.

(zyw)



FOUR LIONS noch auf dem Fantasy Film Fest 2010:

Nürnberg: 06. Sept., 19.15 Uhr, CINECITTA' 3


TRAILER





DVD: „Hotel Splendide“ – Re-Re-Re-Recycling

„Hotel Splendide“. Großbritannien/Frankreich 2000. Buch, Regie: Terence Gross.


In der riesigen Maschine im Keller des heruntergekommenen Hotels ist sie noch lebendig, die Mutter, nach der sich auch ein Jahr nach ihrem Tod alles richtet: die revolutionäre Recyclingmaschinerie hält das Hotel in Gang, bietet Energie ohne Maß. Denn sie speist sich aus den Ausscheidungen der Gäste durch Methanisierung der Fäkalien. Und statt teurer Beerdigung wurde die verstorbene Mutter damals, zur feierlichen Einweihung, im Energieofen verheizt, so dass sie als Geist stets in allen Mauern des Hotel Splendide anwesend sein wird.

Die tote, gegenwärtige Mutter bestimmt auch nach dem Tod jeden Ablauf, jede Routine im Hotel Splendide – Sohn Dezmond, Manager des Hotels, pflegt ihre Traditionen und beharrt auf ewige Wiederkehr des Gleichen. Das bedeutet: Gleiches Essen jeden Tag, gleiches Kurprogramm aus Wasseranwendungen, gleiche Schallplatte mit obskuren Ernährungs- und Verdauungstipps, aufgenommen noch von der geliebten Mutter: Verzicht auf Zucker, Fett, Gewürze, Geschmack; und die gleichen Gäste sowieso, tagein tagaus, das ganze Jahr, deren Ausscheidungen wiederverwertet werden, um neues Essen zu kochen.

Auch der Film selbst ist eine Art Recyclinghof der Filmgeschichte: Hitchcocks „Rebecca“ wird hier mit der Trostlosigkeit eines Fawlty-Towers-Hotels vermischt, ein wenig klingt das Hotel California an: You can check out any time you like, but you can never leave. Und der etwas schräge Look des Films mit seinen düster-überfüllten Bildern wurde wohl von “Delicatessen” inspiriert – also selbst einem Film, der Bekanntes wiederverwertet.

Im Grunde lohnt es immer, einen frühen Film mit Daniel Craig zu sehen, er spielt hier Ronald, den Hotelkoch, der sich auf einen Speiseplan aus Algen und Aal spezialisiert hat: an ihm entzündet sich die Handlung des Films, in ihm nagt etwas, ein Zorn, eine Wut, stumm und verbissen werkelt er in der Küche. Bis ein neuer Gast auftaucht – ja, tatsächlich: ein neuer Gast in dieser Hotelruine: Kath, die einstmals als Küchenhilfe hier gearbeitet hatte und Ronalds große Liebe war. Bis sie von der Mutter vertrieben wurde. Ronald kann ihr nicht verzeihen, dass sie ihn verlassen hat, muss sie nun aber aushalten, weil sie sich einnistet und weil sie besseres Essen kocht als er – weil sie die Leib- und Lustfeindlichkeit dieses Ortes aufbricht und so etwas wie Leben in die vornehmlich alten Kurgäste einhaucht, die nichts kennen außer den immergleichen Trott dieses Hotels.

Mit Kath kommt die Veränderung: Diesen Hauptstrang des Films verfolgt Regisseur Terence Gross mit ziemlichem Verve, das ist der Teil des Films, der wirklich funktioniert: wie der ewige Kreislauf von Essen und Ausscheiden durchbrochen wird, wie die menschenfeindliche Routine, die Hotelmanager Dezmond in liebender Erinnerung an die Mutter diktatorisch einfordert, langsam zerschlagen wird, wie sich so etwas wie eine parabelhafte Erzählung aus diesem Film herausschält von einer festgefahrenen Gesellschaft, die zurückgeworfen ist auf sich selbst und durch einen Impuls von außen wieder neu in Bewegung gerät. Das ganze mit visueller Kraft und voll britisch-schwarzem Humor erzählt, der nicht auf Pointen aus ist, sondern auf skurrile Situationen in einer absurden Umgebung – verdienstvoll, wie trotz der ständigen Thematisierung von Fäkalien gerade keine billige Furz-Kaka-Witze gerissen werden. Die Fäkalien sind Metapher für die Unveränderlichkeit eines menschenfeindlichen Systems: Die Scheiße, mit der sich die Hotelgäste auseinandersetzen müssen, ist ihre eigene.

Doch der Film als ganzes ist aus dem Gleichgewicht, weil Gross sich zuviel zumutet. Er will mehr, als er verdauen kann, nimmt im Verlauf des Filmes noch dies und das auf, ohne es richtig einordnen zu können, jeder Hotelgast bekommt einen spinnigen Spleen, jede Figur eine eigene kleine Nebenhandlung, die kaum verbunden ist mit dem Rest des Films. Nicht die Überfülle der Ideen ist das Problem, sondern ihre fehlende Organisation. So dass sich nicht der Eindruck eines Gesamtporträts ergibt, sondern eine Vereinzelung der Szenen: vieles hat mit dem anderen schlicht zuwenig zu tun. Und die eine Skurrilität hebt die andere auf, so dass am Ende wenig übrigbleibt.
Wichtig ist, was hinten rauskommt, und da fehlt das Überraschende in diesem Kabinett der Sonderbarkeiten: es ist einfach nichts wirklich Originelles dabei – womit Gross wiederum an Jeunet anschließt, der auch seine ursprüngliche Originalität verloren hat und – sein neuestes Machwerk „MicMacs“ zeigt es deutlich – nur noch ein Sammelsurium an Einfällen bietet, die letztlich unverwertet bleiben.


Harald Mühlbeyer


„Hotel Splendide“
Großbritannien/Frankreich 2000. Buch, Regie: Terence Gross. Musik: Mark Tschanz. Kamera: Gyula Pados. Produktion: Ildiko Kemey.
Mit: Toni Collette (Kath), Daniel Craig (Ronald Blanche), Katrin Cartlidge (Cora Blanche), Stephen Tompkinson (Dezmond Blanche).
Länge: 84 Minuten.
Anbieter: Kinowelt/Arthaus.
Extras: B-Roll, Making of, Interviews – alles nichtssagendes, repetetives PR-Material.


Diese DVD können Sie bequem in unserem Online-Shop bestellen.

Der Regisseur Philip Ridley: I’m a particular kind of tree and I grow a particular kind of fruit.

Manche so genannten Ausnahmeregisseure verdienen diese Bezeichnung gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen, weil ihnen außergewöhnliche Filme mit einer ganz eigenen Filmsprache gelingen, zum anderen, weil sie überhaupt nur in Ausnahmefällen Filme realisieren können. Ein Beispiel war der Schauspieler Charles Laughton, dessen Film-Noir-Horrormärchen „The Night of the Hunter“ (1955) derart eigenwillig und finanziell erfolglos geriet, dass es bedauerlicherweise Laughtons einziger Ausflug ins Regiefach blieb – ein einmaliges Filmerlebnis in jeder Hinsicht. Unbeantwortet ist deshalb die Frage, ob Laughton noch einmal ein so makelloses Werk gelungen wäre. Doch letztlich entfaltet „The Night of the Hunter“ gerade als Einzelstück eine besondere Sogwirkung.

Vergleichbar schmal – wenngleich immerhin doppelt so umfangreich – war bislang das Oeuvre des Londoner Regisseurs Philip Ridley, der seine Karriere mit einem Studium der Malerei begann, inzwischen aber vor allem als Autor von verstörenden, bisweilen apokalyptischen Theaterstücken und märchenhaften Kinderbüchern in Erscheinung tritt. Er inszenierte in den 1990er Jahren lediglich zwei Spielfilme. Zunächst aber machte der 1964 geborene Künstler mit dem ungewöhnlich surrealen Drehbuch zu Peter Medaks Gangster-Biopic „The Krays“ (1990) auf sich aufmerksam. Ridley montierte dafür die Lebensgeschichte der berüchtigten Londoner Verbrecher-Zwillinge Ronald und Reggie Kray aus Erinnerungen an Anekdoten, die er in seiner Kindheit aufschnappte – ohne weitere Recherchen, behauptet er, weil das Gefühlte wichtiger sei als das Erklärte. Auch die Struktur des Films ist ungewöhnlich: Den Rahmen bildet die Stimme von Violet Kray, der Mutter der Zwillinge, die aus dem Off ihren Traum schildert, ein Schwan zu sein. Ihre geliebten Söhne sind gerade aus einem kostbaren Ei geschlüpft, und noch weiß sie nicht, ob die beiden gut oder böse geraten sind. Wie ein Fiebertraum mit psychoanalytischer Komponente entfaltet sich innerhalb dieses Rahmens der Plot, und gerade durch diese surreale Herangehensweise an eine nur scheinbar biografische Erzählung gelingt dem von Medak elegisch inszenierten Film eine stimmige Präsentation der Krays, die längst zu legendären Figuren geworden sind.

Fast zeitgleich zu „The Krays“ kam Ridleys erste eigene Regiearbeit in die Kinos: „The Reflecting Skin“ (1990) erzählt die grausam-schöne und lange nachwirkende Geschichte einer beschädigten Kindheit im amerikanischen mittleren Westen der 1950er Jahre. Bereits die Exposition ist fulminant: Der achtjährige Seth Dove (Jeremy Cooper) bläst mit seinen Freunden inmitten wogender Weizenfelder einen riesigen Frosch auf, legt ihn auf dem Feldweg ab und versteckt sich, bis die Witwe Dolphin Blue (Lindsay Duncan) aus der Nachbarschaft das Tier findet und es neugierig betrachtet. Seth bringt es mit einer Schleuder zum Platzen und ist gebannt vom Anblick der blutüberströmten, erschrockenen Frau. Selbst im Fahrwasser von David Lynchs relativem Arthouse-Erfolg „Wild at Heart“ aus dem gleichen Jahr spaltete der Film sein kleines Publikum, wurde später aber durch viele nächtliche Fernsehausstrahlungen so etwas wie ein Kultfilm und gilt im Reclam-Standardwerk immerhin als „Filmklassiker“. Georg Seeßlen stellte kürzlich in einem Artikel die These auf, dass „The Reflecting Skin“ möglicherweise sogar eine Art Genre begründete: „Filme, die nicht nur über beschädigte Kindheiten erzählen, sondern aus ihnen“ – eine Spur, die sich bis zu Terry Gilliams mutigem und missverstandenem „Tideland“ (2006) verfolgen lässt, einem ebenfalls surrealen Kindheitsdrama, das nicht nur in der Inszenierung der weiten, einsamen Weizenfelder erstaunliche Parallelen zu „The Reflecting Skin“ aufweist. Bereits Ridleys Debütfilm macht sich die eingeschränkte Sichtweise eines Kindes zueigen, das tragische Ereignisse eigenständig in einen Sinnzusammenhang bringen muss, weil es keine Unterstützung von außen mehr erfährt, weil in den kaputten Familienstrukturen jeder für sich vereinsamt. In Seths Umfeld treibt ein Kindermörder sein Unwesen, dem bald einer seiner Freunde zum Opfer fällt. Derart schreckliche Dinge geschehen, dass der hoffnungslos überforderte Junge nur eine übernatürliche Erklärung finden kann: Die wunderliche Dolphin Blue muss ein Vampir sein. Und jetzt macht sie sich an seinen Bruder Cameron (Viggo Mortensen) ran, dem durch ihren Einfluss die Haare ausfallen ... Dass Cameron schwer krank ist, weil er als Marinesoldat an Atombombenexperimenten teilnahm und radioaktiver Strahlung ausgesetzt war, kann Seth nicht wissen. Und seine falsche Schlussfolgerung wird sich als fatal erweisen.

Eine der Schlüsselszenen des Films zeigt den Selbstmord seines Vaters, der aufgrund verdrängter homosexueller Neigungen und eines „Vorfalls“ mit einem Siebzehnjährigen, der lange zurückliegt, unschuldig in Verdacht gerät und in seiner Familie keinen Halt mehr findet. Er überschüttet sich an der Zapfsäule seiner alten Tankstelle mit Benzin und zündet sich an, vor den Augen Seths, der fasziniert die Flammen beobachtet und Funken umher pustet. Die Faszination und letztlich sogar Schönheit des Schrecklichen, die vor allem in der Unschuld des kindlichen Blicks begründet liegt, wird immer wieder zum Thema in diesem Film und zieht sich durch Ridleys gesamtes Oeuvre, angefangen bei seinen frühen Kurzgeschichten in der Sammlung „Flamingoes in Orbit“ bis hin zu seinen manchmal als skandalös empfundenen und kontrovers diskutierten Theaterstücken, in denen Traumata und Gewalterfahrungen schuldlos-schuldhafte Verstrickungen zur Folge haben oder drastische Sozialkritik in apokalyptischen Szenarien entfaltet wird. Die subjektivierte Erzählperspektive, die diesen unschuldigen Blick konstituiert, bietet letztlich nie einen einfachen (und banalen) Erklärungsschlüssel für die surreale, abstrakte, mit Bedeutung aufgeladene Bildsprache Ridleys. „The Reflecting Skin“ wirkt durchgängig stilisiert, vor allem durch die kräftigen Farben der streng komponierten Bilder – das Blau des weiten Himmels, das Gelb der unendlichen Weizenfelder. Alles erscheint überlebensgroß, im Schönen und im Schrecklichen, verstärkt noch durch einen insbesondere im Finale stark emotionalisierenden Soundtrack von Nick Bicat.

Der naive Blick findet sich auch in Ridleys zweitem Film, „The Passion of Darkly Noon“ (1995). Darkly Noon (Brendan Fraser) ist zwar älter, aber ähnlich traumatisiert und überfordert wie der kleine Seth Dove. Die Filmhandlung setzt ein, nachdem eine abgeschieden lebende, bibeltreue Sekte von den Bewohnern des Nachbardorfs überfallen und massakriert wurde. Als einziger Überlebender irrt Darkly tagelang verstört durch den Wald und wird schließlich von der schönen Callie (Ashley Judd) aufgenommen, die mit ihrem stummen Freund Clay (einmal mehr: Viggo Mortensen) zurückgezogen in einem kleinen Holzhaus lebt. Darkly agiert unbeholfen, weil er die Welt jenseits der Sektenfamilie nie kennen gelernt hat. Er verliebt sich heimlich in Callie, unterdrückt aber sein Begehren. Das „sündige“ Verlangen führt trotzdem bald zur Krise, denn Darkly ist mit einem restriktiven Weltbild aufgewachsen und kann letztlich nicht anders, als sein moralisches Dilemma auf die denkbar falscheste Weise zu lösen; mit fatalen Folgen. Für seinen mentalen Zusammenbruch – eine zunehmende religiöse Fanatisierung – findet Ridley wie schon in seinem Debüt verwunschene, mehrdeutige Bilder. Der nahezu irreale, mit Märchenmotiven spielende Thriller ist weit weniger bekannt als „The Reflecting Skin“, trotz Schauspielern wie Viggo Mortensen, Ashley Judd und Brendan Fraser. Sie brillieren hier in ungewöhnlichen Rollen und hatten ihre größten kommerziellen Erfolge noch vor sich – in Mittelerde, im experimentellen Autorenkino oder in mittelprächtigen Mumien-Effektspektakeln.

Die Dreharbeiten zu Ridleys zweitem Film wurden analog zu Coppolas „Apocalypse Now“ zur „Reise ins Herz der Finsternis“ – der Regisseur und sein Hauptdarsteller Brendan Fraser bemühen unabhängig voneinander in verschiedenen Interviews diesen Vergleich. „The Passion of Darkly Noon“ wurde in Babelsberg und im sächsischen Wald mit schmalem Budget gedreht. Der immense Zeitdruck und die äußerst problematischen Wetterbedingungen resultierten in einer Tortur für alle Beteiligten. Ridley, der sich in erster Linie als Geschichtenerzähler begreift, wechselte fluchtartig das Medium und überließ fortan anderen die Bildproduktion für seine Ideen, in der Regel auf Theaterbühnen. Seine beiden Filme festigten über die Jahre das Bild eines Ausnahmeregisseurs mit einer einzigartigen Handschrift, von dem man gerne mehr gesehen hätte. Zuletzt aber schien Ridley nur noch Eingeweihten ein Begriff zu sein, denn leider sind sowohl „The Reflecting Skin“ als auch „The Passion of Darkly Noon“ weltweit nur in wenig brauchbaren Fassungen fürs Heimkino erhältlich, entweder im beschnittenen „Vollbild“ oder mit farbschwachen VHS-Masterbändern als Ausgangsmaterial, so dass sich die beabsichtigten Wirkungen von Licht und Farbe nur erahnen lassen. Mit einem weiteren Film Philip Ridleys rechnete unter diesen Bedingungen wohl niemand mehr – bis im Frühjahr überraschend „Heartless“ im Rahmen der „Fantasy Filmfest Nights“ gezeigt wurde. Ein Film, der nur zustande kam, weil sich ein Independent-Produzent mit einem kleinen Budget an Ridley erinnerte und ihn einfach mal anrief, um zu erfahren, ob er aktuell wohl eine Idee hätte ...

In Londons Straßen sind Dämonen unterwegs, die mit Molotov-Cocktails Menschen verbrennen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie maskierte Mitglieder einer Gang, doch der Fotograf Jamie Morgan (Jim Sturgess) sieht bei einem seiner nächtlichen Streifzüge ihre monströsen Gesichter, die nicht aus Plastik sind. Mit seinem Kapuzenpulli erinnert Jamie ein wenig an den unglücksseligen Donnie Darko aus Richard Kellys gleichnamigem Mystery-Film. Der scheue junge Mann versucht, ein Muttermal zu verbergen, das sich herzförmig über eine Gesichtshälfte erstreckt. Nun drängen die Monster plötzlich in Jamies Leben, ihre Fratzen tauchen in seinen Bildern auf. Und eines Nachts überfallen sie ihn, als er mit seiner Mutter an einer Bushaltestelle steht. Sie zerren sie davon und zünden sie vor seinen Augen an. Jamie überlebt. Seine Spurensuche durch Londoner Seitenstraßen nimmt halluzinatorische Züge an. Das Handy seines verschwundenen Nachbarn führt Jamie zu einem düsteren Hochhaus im East End der Stadt. Dort trifft er auf den dämonischen Papa B, der ihm ein mephistophelisches Angebot macht. Doch wie immer in solchen Fällen ist der Preis höher, als es zunächst den Anschein hat.

Schon die Exposition von „Heartless“ zeigt, dass Ridley nichts von seiner visuellen Kraft verloren hat. Seine Stadtansichten wirken in ihrer heruntergekommenen Schönheit so brüchig wie die ländliche Idylle in „The Reflecting Skin“, hinter der sich menschliche Tragödien verbergen. Doch statt der Gelb- und Brauntöne einer Packung Landkaffee (mit einer Spur Rost und Fäulnis) dominiert hier ein kaltes Blau, das nur von bunten Graffitis und der Schwärze der Nacht durchbrochen wird. Die grellste Farbe des Films wird die des Bluts sein, das in Strömen fließt.

„Heartless“ ist stark im Hier und Jetzt verankert und scheint durch sein urbanes Setting und seine Thematisierung von Jugendgewalt den Theaterstücken viel näher zu stehen als den beiden anderen Filmen Ridleys. Das liegt auch daran, dass „The Reflecting Skin“ und „The Passion of Darkly Noon“, die beide in einem imaginierten Amerika spielen, streng genommen Ausnahmefälle in seinem Werk darstellen, denn eigentlich sind fast alle seine Geschichten im Londoner East End verortet, wo Ridley geboren wurde und noch heute lebt. Seine beiden ersten Filme bezeichnet er deshalb als „American Dreams“, die eine Sonderstellung einnehmen. Trotzdem ist Ridleys Handschrift als Filmemacher unverkennbar, obwohl „Heartless“ zunächst wie ein klassischer Horrorfilm daherkommt und deshalb auf den ersten Blick konventioneller erscheint.

Recht bald wird klar, dass Jamie möglicherweise einen Kampf führt, den er nicht gewinnen kann. Sind die Stilmittel des Horrorfilms zunächst noch darauf angelegt, mit den Dämonen in den Straßen eine äußere, übernatürliche Gefahr zu kennzeichnen, so wird allmählich der assoziative Charakter der bedrohlichen Situationen deutlich, wenn etwa Figuren aus dem Nichts auftauchen oder abrupt aus der Erzählung verschwinden. Auch der Ton des Films ist uneinheitlich, denn eine Grausamkeit, die an die besten Zeiten des Horror-Altmeisters Dario Argento erinnert, findet genauso ihren Platz wie eine komische ironische Brechung. Doch solche Unebenheiten sind nicht etwa in einer inkonsistenten Inszenierung begründet, sondern spiegeln den Zustand einer Hauptfigur, die um einen roten Faden ringt. Die Sprunghaftigkeit korrespondiert mit einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. „Heartless“ ist Ridleys bewusster Versuch, einen Genrefilm zu drehen, und die entsprechenden Motive sind zweifelsohne vorhanden. Doch wer rasanten, angenehm berechenbaren Dämonen-Horror erwartet, wird möglicherweise enttäuscht sein, da „Heartless“ Filmen wie Nicholas Roegs „Don’t Look Now“ oder Herk Harveys „Carnival of Souls“ viel näher steht als dem zeitgenössischen Monsterkino. Die Ridley-typische unerbittliche Konsequenz, mit der eine unschuldig-schuldige Hauptfigur an den Umständen zerbricht, das detailverliebte Fabulieren und eine bisweilen überdeutliche Symbolik, die gewiss nicht bei allen Zuschauern auf Begeisterung stößt, finden sich auch hier. Und auch thematisch gibt es mit grauenvollen Verlusterfahrungen und einem homoerotischen Subtext, der in Homophobie und Gewalt umschlägt, viele Anknüpfungspunkte an Ridleys restliches Oeuvre. Die Songs des Soundtracks, interpretiert von Hauptdarsteller Jim Sturgess, haben wie bereits in „The Passion of Darkly Noon“ eine kommentierende Funktion, wie ein griechischer Chor. Im Fall von „Heartless“ doppeln sie zwar bisweilen allzu sehr, was im Bild zu sehen ist, doch Ridley schätzt den dicken, manchmal auch überdeutlichen Pinselstrich. Die erzählerischen Volten, die „Heartless“ nach seinem recht gradlinigen Beginn schlägt, werden immer wilder, und erst mit der letzten Szene findet der Film wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Dabei ist Ridley so versöhnlich wie selten, denn im Gegensatz zu seinen beiden anderen Filmen, in denen ein sicheres Zuhause zerbricht und den verunsicherten Protagonisten verloren geht, findet hier eine Art Heimkehr statt.

Ohne zuviel vorwegzunehmen kann man feststellen, dass Ridley mit „Heartless“ die Macht des Geschichtenerzählens feiert, die nach seinem Verständnis die wesentliche, urmenschliche Errungenschaft ist. In seinen Theaterstücken für Kinder etwa hat das Fabulieren oft eine rettende, befreiende Kraft. Ridleys radikalere Werke, wie das kontrovers diskutierte Stück „Mercury Fur“, thematisieren eine Gesellschaft, der diese Fähigkeit abhanden kommt – eine Barbarei ohne Geschichtsbewusstsein oder Moral. Als Dramaturg geht Ridley assoziativ und impulsiv vor und schert sich nicht um die Konventionen des Genres. Es geht ihm nicht darum, etwas zu erklären oder klar interpretierbar zu machen, sondern um ein wildes Arrangement starker, affektiver Bilder – „a ride“, wie er es nennt. So lässt sich „Heartless“ trotz einer scheinbar deutlichen Schlusswendung letztlich nicht einfach entschlüsseln. Mögliche Erwartungshaltungen des Publikums spielen dabei für Ridley nicht unbedingt eine Rolle, denn zumindest über seine Theaterarbeit sagt er deutlich: „Entertaining an audience is the furthest thing from my mind.“ So verwundert es nicht, dass auch „Heartless“ sich kompromisslos genau zwischen zwei Stühle setzt, mit seinem maßlos eigenwilligen Timing die Horrorfans langweilen und mit seinen Genreelementen das Arthouse-Publikum verschrecken dürfte. Doch obwohl Ridley mit punktuellen Gewaltspitzen arbeitet, geht es ihm nicht um Provokation, sondern um eine durchaus idealistische Grenzüberschreitung und Poesie. „I’m a particular kind of tree and I grow a particular kind of fruit.“

Die Veröffentlichungspolitik in Großbritannien lässt nicht unbedingt erwarten, dass man der Independent-Produktion an den Kinokassen allzu viel zutraut: Bereits wenige Tage nach dem Kinostart begann die Auswertung von „Heartless“ auf DVD und Blu-Ray, was aber immerhin zur Folge hat, dass man den Film als Import auch in Deutschland schon sehen kann. Von seinem hiesigen Verleih Senator hat er noch immer keinen Kino-Starttermin bekommen. Ein Erfolg wäre dem Film zu wünschen, denn weitere Projekte hängen davon ab. Und es wäre eine Bereicherung, wenn Philip Ridleys außergewöhnlichen Filme nicht nur ausnahmsweise zustande kämen.


Louis Vazquez



„Heartless“. GB 2009.
Regie & Buch: Philip Ridley. Kamera: Matt Gray. Musik: David Julyan. Produktion: Pippa Cross, Richard Raymond.
Darsteller: Jim Sturgess (Jamie Morgan), Clémence Poésy (Tia), Noel Clarke (A.J.), Joseph Mawle (Papa B), Timothy Spall (George Morgan), Eddie Marsan (Weapons Man), Luke Treadaway (Lee Morgan).
Länge: 110 Minuten.
Verleih: Senator Film Verleih.
Kinostart: noch offen
Blu-Ray und DVD (englisch, mit einem Audiokommentar von Philip Ridley) sind bei Lionsgate erschienen und z.B. über www.amazon.co.uk erhältlich.

Quellen

Zwei Audiointerviews mit Philip Ridley zu seiner Theaterarbeit sind auf www.theatrevoice.com zu finden. Dem zweiten Interview entstammt das Zitat im Titel dieses Texts:

http://www.theatrevoice.com/listen_now/player/?audioID=275

http://www.theatrevoice.com/listen_now/player/?audioID=482

Georg Seeßlens Artikel über beschädigte Kindheiten kann man hier lesen.