Filmfest München 2010 – Viele Möglichkeiten zum Leben

"Mr. Nobody" von Jaco van Dormael erzählt die Geschichte des Lebens von Nemo Nobody; nein: die Geschichten der Leben von Nemo Nobody, der nicht einen linearen Lebenslauf verfolgt. Er lebt die vielen Möglichkeiten aus, die das Leben bereithält, weil sich mit jeder Entscheidung, mit jedem Zufall der Gang der Dinge ändern kann - wobei, und das ist der Clou des Film - diese Alternativen nicht als Entweder-oder präsentieren, sondern als Sowohl-als-auch.

Nemo Nobody führt drei Ehen, die sich wiederum verzweigen in viele verschiedenen Verläufe; zudem ist er 118jährig der letzte Mensch der Welt, der eines natürlichen Todes sterben wird, weil nicht künstlich verjüngt; er ist zudem sowas wie ein Kommentator des Geschehens, der in einer Art Wissenschaftssendung den Kinozuschauern diverse Konzepte wie Stringtheorie, Urknall oder die Chemie der Liebe erläutert. Und immer wieder geht der Film auf eine Reise zum Mars, eine Geschichte, die Nemo in seiner Jugend einmal verfasst hat, möglicherweise. Jaco van Dormael verknüpft all diese vielen Ebenen, Verzweigungen, Lebensfragmente auf faszinierende Weise, so dass sich alles gegenseitig ergänzt, auch wenn es sich widerspricht: ich habe den Film verstanden, wenn ich ihn auch nicht erklären kann.

Alles ist gleichzeitig, und schließt sich doch gegenseitig aus - und das alles mit enormem Tempo dargestellt, klug konzipiert, so dass alles plausibel scheint, und mit unglaublichem visuellem Einfallsreichtum dargestellt - sowas wie Marc Fosters "Stay", aber besser. "Mr. Nobody" gerät nie zur Nummernrevue, zum selbstgenügsamen Bilderrausch, nein: van Dormael schafft es, trotz der Vielfalt von Biographieschnipseln, die er da aneinanderreiht, eine emotionale Kraft zu entfalten, so dass es eben doch berührt, wenn Nemo sich wieder mal verliebt - wieder mal auf tragische Weise eine seiner Frauen verliert - wieder mal einen seiner geschätzten zwölf Tode stirbt. Und zudem ist der Film witzig erzählt, und auf gewisse Weise auch philosophischer Essay über Entscheidungen und Konsequenzen - ein großartiges Kinoerlebnis.

Wenn man sich noch nicht entschieden hat, sind alle Möglichkeiten offen, heißt es einmal im Film; und vielleicht spielt das ganze Geschehen mit seinen knapp 140 Minuten genau in diesem Augenblick vor der Entscheidung, wenn alles zugleich möglich ist. Vielleicht spielt der Film aber auch zwischen 1974 und 2092, der Lebenszeit von Nemo Nobody, der ein reiches, vielfältiges Leben gelebt hat und dann diesen einen Moment erlebt, den letzten der Zeit, mit dessen Erreichen dann jeder eine zweite Chance erhält: am 12. Februar 2092, um 5.50 Uhr.

Harald Mühlbeyer