„Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen“ / „Cloudy with a Chance of Meatballs“


Alles Gute kommt von oben?
von Claudia Bosch

USA 2009. Regie: Phil Lord, Chris Miller. Buch: Phil Lord, Chris Miller nach einem Buch von Judi und Ron Barrett. Musik: Mark Mothersbaugh. Produzenten: Pam Marsden, Lydia Bottegoni, Chris Juen. Laufzeit: 90 Min.
Verleih: Sony. Kinostart: 28.01.2010.

Schreiende Menschen laufen in heller Panik durch die Straßen von Swallow Falls, einer kleinen Insel im Atlantik, und flüchten vor einem auf sie zurollenden überdimensionalen Goldfischglas, das alles niederwalzt, was ihm in die Quere kommt. Im Inneren befindet sich jedoch kein Goldfisch, sondern die „größte Sardine der Welt“, die Hauptattraktion des vor wenigen Minuten eröffneten Freizeitparks „Sardinen Land“ – dem neuesten Tourismusprojekt des machtgierigen Bürgermeisters von Swallow Falls, das nun in Schutt und Asche liegt.

Der Verantwortliche für dieses Chaos ist schnell gefunden: Flint Lockwood, ein schrulliger junger Möchtegernwissenschaftler, der es sich in den Kopf gesetzt hat eine Maschine zu erfinden, die Wasser in Lebensmittel umwandelt. Bisher trat der hyperaktiv tüftelnde Nerd eher mit lästigen Entwicklungen in Erscheinung, z.B. umherwandernden Fernsehern, bissigen Flugratten oder einem Gerät, das Affengedanken verbalisiert. Dieses Mal wären die Chancen, die lang ersehnte Anerkennung seines Vaters und der anderen Bewohner einzuheimsen in der Tat gar nicht so schlecht gewesen – vorausgesetzt er hätte nicht die Kontrolle über seine Erfindung verloren, die nach einem Kurzschluss raketengleich durch den Freizeitpark und dann gen Himmel zischte.



Also ist Flint letztlich wieder der Buhmann – allerdings nur kurz, denn alle werden von einer rasch herannahenden, gewaltigen Wolkenwand abgelenkt, aus der es plötzlich Cheeseburger regnet. Im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen für die Nachwuchsreporterin Sam Sparks, die sogleich damit beginnt einen Nachrichtenbeitrag über dieses außergewöhnliche Wetterphänomen zu drehen. Und auch Bürgermeister Shelbourne kann sein Glück kaum fassen, bietet sich ihm nun doch eine wesentlich Erfolg versprechendere Chance Touristen anzulocken.

Angespornt von seinem plötzlichen Ruhm entwickelt Flint seine Maschine weiter, so dass man auf Bestellung jedes erdenkliche Lebensmittel vom Himmel regnen lassen kann. Swallow Falls scheint sich in ein wahres Schlaraffenland zu verwandeln. Doch der notorische Pechvogel Flint hat keineswegs alles unter Kontrolle, vielmehr kristallisiert sich heraus, dass die Lebensmittel peu à peu mutieren und zu einer erheblichen Bedrohung anwachsen. Immer größer werdend richten sie bald ein Meer der Verwüstung an und sorgen dafür, dass es mit der Ruhe im Örtchen vorbei ist. Der Kampf ums Überleben hat begonnen…



Ungewöhnlichen Regen hat man im Verlauf der Kinogeschichte schon des Öfteren gesehen, z.B. den Froschregen in Paul Thomas Andersons „Magnolia“ aus dem Jahr 1999. Herabregnende Cheeseburger und dergleichen mehr dürfte man aber noch nicht auf der Leinwand entdeckt haben – und erst recht kein Katastrophenszenario in den buntesten Farben, die man sich vorstellen kann. Sicher, bei dem neuesten 3-D-Animationsfilm aus dem Hause Sony handelt es sich um die Adaption eines Kinderbuch-Bestsellers von Judi und Ron Barrett, doch die intensiv leuchtende, warme Farbgebung des Films ist selbst für einen Film der sich an ein kindliches Publikum richtet außergewöhnlich, jedoch nicht ohne Reiz, denn die animierte Welt erhält dadurch ihren ganz eigenen Charme.

Trotz zahlreicher fantasievoller Einfälle merkt man der Geschichte aber an, dass sie in erster Linie auf Effekte hin konzipiert wurde und sich die Drehbuchautoren an altbewährten Genremustern orientieren. So findet man immer wieder Elemente und Sequenzen, die an Abenteuer-, Action-, Science-Fiction- und natürlich Katastrophenfilme erinnern. Flints Laboratorium beispielsweise wirkt wie eine hypermoderne Raumstation; ein Spaghetti-Tornado hinterlässt in bester Emmerich-Manier Zerstörung und Chaos und Flints Ausflug ins Innere eines gigantischen Fleischbällchens, inklusive eines Angriffs von dort hausenden feindlichen Brathähnchen, ähnelt stark der Erkundung eines fremden Planeten.



Dank des geschickten Spiels mit der Zuschauererwartung, ergeben sich häufig amüsante Momente, zum Beispiel dieser: Gerade, als man denkt, dass die „größte Sardine der Welt“ den Kollaps ihres Aquariums übersteht und die Freiheit wiedererlangt, indem sie überglücklich zu einem zeitlupenartigen Sprung in den Ozean ansetzt, wird sie von einer gefräßigen Flugratte gepackt und gen Horizont davongetragen. Dadurch, dass das Schnitttempo – insbesondere in den Actionsequenzen – enorm hoch ist, entgehen einem all die einfallsreichen Details und Gags jedoch leicht. Teilweise hat man es sogar mit einer regelrechten Reizüberflutung zu tun, die in der 3-D-Fassung des Films noch gravierender ausfallen dürfte. Ein ruhigerer Filmrhythmus wäre daher dringend erforderlich gewesen, erst recht in Hinblick darauf, dass dieses Kino-Abenteuer eindeutig auf ein kindliches Publikum zugeschnitzt ist.

„Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen“ ist ein unterhaltsamer Animationsfilm, der auf der grafischen Ebene derart viel bietet, dass man sich ihn eigentlich ein zweites Mal ansehen müsste, um jedes der oftmals heiteren Details zu erfassen. Genau dies wird man wegen der schwächelnden Handlung, der eindimensionalen Charaktere und der phasenweise viel zu rasanten Montage aber nicht tun, so dass der Film nach seiner Kino- und DVD-Auswertung leider schnell in Vergessenheit geraten könnte.

Max Ophüls Preis 2010 – Harte Kerle


Der Mann im jungen deutschen Kino scheint von Natur aus eher schlaff (wie verkneifen uns an dieser Stelle einen Abgleich mit der Wirklichkeit), und gerade bei den vergangenen Filmfestivals Max Ophüls Preis, dem cineastischen Debütantenball der blauen Herzen, hatte man es eher mit den vielleicht auch mal entschlossenen, doch regelmäßig verlorenen, hilflosen Kerlen zu tun, die eher an sich persönlich oder an den Frauen leiden, seltener aber aneinander. Insbesondere wenn’s drum geht, sich die Fresse zu polieren.

Planlose Zauderer gab es nun auch diesmal wieder, einen der Extraklasse in Bartosz Werners UNKRAUT IM PARADIES (D 2009), der neben einer so unauffälligen wie aber „heimlich“ sehr klugen Inszenierung darin besticht, dass und wie er seinen Helden Lukas (Remo Schulze) nahebringt. Denn dieser junge Lukas, Sonnyboy ohne große Job-Ambitionen und eigentlich auch Lust und Qualitäten, ist schon ein rechter Unsympath, bisweilen gar ein rechtes Arschloch, charmant und witzig, wenn’s drauf ankommt, aber darüber hinaus selbstbezogen, oberflächlich, lebensuntüchtig und einfühlsam wie eine Parkuhr. Weshalb ihn seine Freundin Meike (klasse: Klara Menzel) vor die Tür setzt. Eigentlich tut sie noch nicht mal das, will nur eine Pause. Aber Kindskopp Lukas motzt und zieht aus, weiß aber auch nicht so recht, was mit sich und seiner Lebensplanung in Sachen Wohnraum und Finanzen anzufangen. Papa (ganz groß wieder mal: Charly Hübner) und Mama (auch gut, kenn' ich aber jetzt gerade nicht) müssen wieder helfen, Job suchen, Wäsche waschen, Hochhauswohnung renovieren, derweil der Sohnemann griesgrämig zuschaut.



UNKRAUT IM PARADIES ist ein bei aller Alltäglichkeit (mit Ausreißern) erstaunlich spannender Film, einer, der seinen Figuren rundum ernst nimmt und zu führen weiß – insbesondere in der einfachen wie vielschichtigen Beziehung zwischen dem „Helden“ und seiner Freundin. Diesem Lukas folgt man gerne, freilich mit Abstand, wenn er auf der Flucht vor dem Erwachsensein mit dem Kopf durch die Wand will und gerade dabei nicht weiß, wohin. Aber selbst dieser Zauderer Lukas ist jemand, der eher mal zuschlägt als dass er die Wange hin hält, der rüpelt, gerne auch in seinem sympathischen Familienkreis, wo Papa und Bruder dann zurückrüpeln.

Und eben die Lust am Zulangen, auch die vulgär-markige Sprücheklopperei war es, die die Kerle von den Max-Ophüls-Preis-Leinwänden öfter auszeichneten als jene Still-vor-sich-hin-Leidenden der letzten Jahre. Diese Gewalt und geringe Reizschwelle, das alles war dann zwar auch meist eher Schwäche als wahre Stärke, ein Holzweg und Sich-Verrennen, vor allem etwas ohne Zukunft. Aber befreiend wirkte es letztlich doch, so wie es sich darbot – wenn auch nur für den vom Sozialkinophlegma geplagten Zuschauer. Draufhauen, verbal oder physisch, war hier nämlich weniger oder zumindest nicht nur die immer gleiche Deformationsreaktion auf die „Verhältnisse“ und ihre Tristesse als ein Mittel der Selbstermannung, (seelische) Revierverteidigung und Ausbruchversuchs aus Lebensbahn und Verzivilisierung. Der Mann durfte dieses Jahr in Saarbrücken Subjekt statt Objekt sein – und ein wenig wieder Neandertaler.

Da waren die beiden bereits HIER vorgestellten beiden Großabnehmer in Sachen Auszeichnungen, SCHWERKRAFT und BIS AUFS BLUT. Gerade SCHWERKRAFT lässt den silbrigen Baseballschläger zur Keule werden, mit der der Banker Frederick nun so richtig entdomestizierend auf den Putz, auf Skinhead-Glatzen (ist das jetzt ein Pleonasmus?) und Raubopfer haut, wobei sich freilich der diebische und skurrile Fun beim Zuschauen immer mehr verflüchtigt, so wie auch Frederick im Stillen immer mehr klar wird, dass Gewalt hier nur zum besinnungslosen Taumeln gerät. Auch sein Freund und „Kollege“ in der Kriminalität kann sich mit einem finalen Schuss nicht – zumindest kann es so scheinen – aus der Vergangenheit entlassen, sondern verheddert sich gerade damit auf ewig in ihr.

Gewalt als Vitalitätsspritze braucht ähnlich wie in SCHWERKRAFT übrigens auch Andreas (Wotan Wilke Möhring) in Bogdana Vera Lorenz Kurzfilm HEIMSPIEL (D 2009). Jeden Samstag trifft er sich mit seinen Kumpels, um auf die gegnerischen Hools einzudreschen – oder selbst was einzufangen. Ganz schnell und hart geht das, dann ist die Keilerei um, alle rennen in Gruppen wieder von dannen, und zum Blut kann das Adrenalin schön pumpen. Andreas‘ Frau findet das nicht so toll, die Wunden und blauen Flecken – und Andreas‘ Arbeitgeber sich auch nicht. Denn in seinem zweiten, öffentlichen Leben ist Andreas Lehrer und lehrt die Kids, ob das so mit dem „Auge um Auge“ in Ordnung geht oder was uns die Geschichte in Sachen Helden- und Siegertum lehrt.



Doch da bekommt Andreas einen neuen Schüler, einer der Gegner und als solcher Mitverschwörer im Freizeitkriegertum. Die erste Regel eben: Man spricht nicht über den Fight Club. Ein kleiner, interessanter und intelligenter Film ist HEIMSPIEL, der unbequeme Fragen stellt, nach dem Blut und den Kick, dem Wohin und Woher in einer durchregelten Welt, und vor allem eine Film, der gut daran tut, viele davon – so wie sich selbst als eine Art Parabel – offen zu lassen.

BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, dieser fulminante Film über zwei Freunde und ihre Würzburger Rapper-Gemeinde, kommt zwischen Drogendeals und US-Kasernen, Jugendknast und Disco-Gerangel natürlich auch nicht ohne harte Selbstinszenierung und die eine oder andere Dresche, gar Messerstecherei aus. Im Gefängnis musste Tommy erfahren, wie es ist, Opfer zu sein – der Zellenobermotz kann an ihrem Knacken hören, ob einer gute Zähne hat. Auch die sexistischen Posen sind wenig zimperlich, werden Frauen wie es der Umgangscode vorgibt, übelst zu Geschlechtsobjekten reduziert, ist „Ficken“ und „Fertigmachen“ dasselbe; quasi eine entglittene Version der Gleichsetzungen von Ficken und Schießen – Baader & Co. grüßen ungläubig von Ferne. Was aber mit den Knallköppen versöhnt ist, dass hinter dem Dominanzgebahren und Drohgebärden zwar Jungs stecken, die vielleicht in einer Prügelei mal mehr (Tommys Freund Sule), mal weniger taugen (Tommy), die es aber gerade auch umgekehrt proportional auf dem Kasten haben. So kann Sule seinen „Bruder“ mit Körpereinsatz beschützen, ist aber selbst derjenige, der zuletzt als kaputtgekokstes Loser im Knast nichts mehr zum Festhalten hat als seine Posen. Auch was die Frauen betrifft, ist da nicht halb soviel los, wie die markigen Sprüche gerne (selbst-) suggerieren: Als nach Sules Anmachsprüchen die kesse Gymnasiasten-Göre ihn tatsächlich auffordert, ihre Brüste anzufassen, langt er schnell und zögernd hin, und es fehlt nicht viel, dass er verschämt kichernd davonrennt.
Bei Tommy selbst wiederum ist Gewalt hilfloses Ventil; seine Ex-Freundin Sina stößt er weg, weil sie ihn nicht mehr will, er nichts anderes (mehr) darob zu tun weiß, und seiner Mutter verpasst er gar ein Veilchen. Dass er darüber einem als Figur nicht verloren geht, liegt an der Regie und an Darsteller Matschenz selbst, dem man voller Empathie schließlich zusieht, wie die Maske abfällt, der vorgeschobene Kiefer, die krause Stirn und er alle Beherrschung und Harschheit in der Verzweiflung sozusagen abfallen, er zusammenklappt ohne diese Maskulinitätskrücken, ein Häufchen Elend ist.
Zuletzt – Achtung, Spoiler! – ist er wieder im Jugendknast; als er in die neue Zelle kommt, sind die Augen wieder eng, der Panzer wieder angezogen. Zwei Jungs stehen vom Tisch auf – und mit einem Blick auf den Muskelprotz am Tisch haut Tommy sie zusammen. Nur um daraufhin ein Kopfschütteln vom vermeintlichen Bully einzufangen, der weiter in seinem Heftchen liest. Sich schämend ob der sinnfreien Gewaltprophylaxe verkrümelt sich Tommy aufs neue Bett, um für seine Karriere als Physiklehrer zu büffeln... Nicht nett im Miteinander, aber ein gelungener Gag, der in seiner Humorigkeit wunderbar entlarvt: selten so knapp – und, ja, doch – sympathisch wurden Testosteron-Scheuklappen wohl selten vorgeführt.

Als Ergänzung und Gegenentwurf zu BIS AUFS BLUT wirkt PICCO (D 2010) von Philip Koch. Constantin von Jascheroff (FALSCHER BEKENNER) spielt darin Kevin, der in den Jugendknast kommt und dort zum „Picco“ seiner Zelle wird, dem Neuling, der die Schikanen der anderen erdulden muss. Es ist eine umbarmherzige Welt, die zwischen Opfer- und Täter-Sein keinen Mittelweg kennt – wer sich eine Blöße gibt, hat schon verloren. Auch hier zählt Machismo alles; wehe, man kommt in den Ruch des „Schwulseins“. Koch entfaltet ein Panoptikum zwischen Fernsehzimmer und Hofgang, stellt einzelne Charaktere vor; einzelne Episoden wie das Beratungsgespräch mit der Psychologin oder der Besuch von Angehörigen lässt jeden den der vier Zelleninsassen zu seinem Recht kommen. Ein anderer des Trakts wird Opfer, wird gar vergewaltigt, ein tragischer Fall. Doch auch nur: eine Episode. Doch alles läuft auf den wahren Horror erst hin: Auch in Kevins Zelle wird es schließlich ein Opfer geben, schrecklich gemartert, zuletzt gar ermordet. PICCO erzählt in seinem letzten Akt eine der Knaststories, wie sie es zum Ekel und Grusel in die Medien schafften – drei Jungs quälen einen dritten, auf engstem Raum schaukelt es sich hoch, hin zu einer Schaudergeschichte vom Unterleib der Gesellschaft.



Sicher, Vergewaltigung mit Klobürste, zynisches Forderungen, er solle sich jetzt, die Schlinge um den Hals, gefälligst selbst erhängen, all das geht an die Nieren, dieses Maximum an Grausamkeit,, auch für das Publikum. Dass einige Zuschauer den Saal verließen kann man ihnen nicht verdenken. Doch der Vorwurf, der gegen PICCO und den Regisseur und Drehbuchautoren Koch in Saarbrücken erhoben wurden, laufen ins Leere: PICCO tut weh, ja, und klar: man hätte vieles nicht (so) zeigen müssen – sicherlich hätte man mit einem abstrakten Tanztheater und dem Li-La-Launebär ebenfalls auf das Thema hinweisen können. Aber PICCO delektiert sich nicht blind an seinen Schrecken und allem Desolaten, die Koch nach eigenem Bekunden aus diversen Jugendgefängnissen zusammengesammelt hat, so einfach macht er es sich nicht. Die Kamera schaut immer wieder weg, und gerade dieses Wegschauen, das als solches ausgestellt wird (bisweilen auch als das der Figuren), ist ein besonders schmerzliches. Darüber hinaus lässt PICCO zwar manche Figuren grausamer sein als andere – in Kevins Zelle vor allem den Oberbrutalo Marc (eindringlich realistisch: Frederick Lau – auch ein künftiger Nachwuchspreis-Anwärter). Aber ebenso wenig wie PICCO entschuldigt, klagt er an: Weswegen die Jungen einsitzen, bleibt stets ebenso offen, wie sie alle ihr Fett abbekommen, auch Marc, der eine DVD von seiner Freundin bekommt, auf der sie ihm nicht sexuelle Erleichterung bringt, sondern ihm – Überraschung – sein Kind vorstellt.
Schließlich überrascht auch PICCO, sind Täter und Opfer nicht, wie man es dramaturgisch, von der Rollenanlage her, erwartet. Gerade das macht PICCO und seine hermetische Wolfswelt so unbequem, der blanke ungeschützte Blick auf Facetten und Mechanismen des Hochschaukelns und des Enthemmens, von Abgestumpftheit, Sadismus, Triebabfuhr – im schlimmsten Fall aber von Jugendlichen, die letztlich zu gemeinsten Tätern werden, nicht im Rausch, sondern verzweifelt, kalkuliert, um selbst nicht Opfer zu werden. Großen Schauspieleinsatz bedarf es dazu. Neben Lau und Jascheroff bietet den u.a. Martin Kiefer, der als Andy mit einer ganz eigenen, einer lauernden, ironischen Variante von Überlebenshemmunglosigkeit glänzt. Ob und wie PICCO da in (s)einer Sozialkritik am Justizwesen zu pessimistisch ist, spielt angesichts dieser parabelhaften Qualität kaum mehr eine Rolle. Der Preis des Ministerpräsidenten hat PICCO jedenfalls verdient.


Bernd Zywietz

Uns bleibt immer Paris: “New York, I Love You”, der neue Städteliebe-Kompilationsfilm

von Harald Mühlbeyer

USA 2009. Regisseure: Fatih Akin, Yvan Attal, Allen Hughes, Shuji Iwai, Wen Jiang, Shekhar Kapur, Joshua Marston, Mira Nair, Natalie Portman, Brett Ratner, Randal Balsmeyer. Produktion: Emmanuel Benbihy, Marina Grasic.
Darsteller: Rachel Bilson, Hayden Christensen, Andy Garcia, Iffran Khan, Natalie Portman, Orlando Bloom, Christina Ricci, Ethan Hawke, Maggi Q, Robin Wright Penn, Chris Cooper, James Caan, Anton Yelchin, Olivia Thirlby, Drea De Matteo, Bradley Cooper, John Hurt, Julie Christie, Shia LaBeouf, Carlos Acosta, Ugur Yücel, Shu Qu, Eli Wallach, Cloris Leachman, Emilie Ohana.
Verleih: Concorde.
Länge: 103 Minuten.
Kinostart: 21.01.2010.


Der erste Film des „Cities of Love“-Projektes von Produzent Emmanuel Benbihy von 2006, „Paris, je t’aime“, war nicht nur eine Liebeserklärung an eine Stadt und eine filmische Topographie der Stadt der Liebe, sondern auch ein Kompendium von Kurzfilmen, die Schlaglichter auf deren verschiedene Regisseure warfen: Die Coen-Brüder in der U-Bahn, Wes Craven auf dem Friedhof, und Alexander Payne blickte, wie sollte es bei ihm sonst sein, über eine US-Touristin zurück auf Amerika.

Im Nachfolgefilm „New York, I Love You“ sind ein derartig schillerndes Stilgemisch, ein solches Panorama über die Eigenheiten und Vorlieben verschiedener Filmemacher nicht mehr möglich, alles ist in einem melting pot zu einem Einheitsbrei verkocht worden. Man sieht den Film, man sieht die einzelnen Segmente – diese aber auch nur ansatzweise einem Regisseur zuordnen zu wollen ist ein vergeblicher Versuch. Erst am Ende werden Filmemacher den einzelnen Geschichten zugeordnet, aber einen Aha-Effekt erzeugt das auch nicht – seltsamerweise hat man eher das Gefühl, einen Film von einem einzigen Regisseur gesehen zu haben, so ähnlich sieht sich alles.

Vielleicht liegt es daran, dass alle Regisseure die gleiche Ausstattercrew zur Verfügung hatten; vielleicht liegt es auch an der Auswahl der Filmemacher – Brett Ratner kann halt keinen eigenen Stil reinbringen, als Mann ohne Eigenschaften. Zweimal Central Park, zweimal Chinatown, zweimal den Gehsteig vor einem Restaurant mit der Begegnung zweier Rauchender; ansonsten viele Bars, und merkwürdigerweise sehen Diamantenshop und Apotheke sich ziemlich ähnlich in den allgegenwärtigen warmen Brauntönen, die wohl so was wie Heimeligkeit vermitteln sollen. Und zwischen den achtminütigen Kurzfilmen gibt es kurze Übergangssequenzen, in denen die Protagonisten der verschiedenen Episoden nochmal auftauchen – was den merkwürdigen Eindruck hervorruft, dass New York ein Dorf ist, in dem nicht nur alles gleich aussieht, sondern in dem sich auch jeder jederzeit über den Weg läuft.

Andererseits: Viele der Episoden sind wirklich witzig, und unterhaltsam ist es sowieso, wenn viele kleine Liebesgeschichten aneinandergehängt werden, die sich nicht zu schwer nehmen, die alle mit einer mehr oder weniger überraschenden Pointe abgeschlossen werden. Zwar können die Filmemacher diesen Episoden nicht ihren eigenen Stempel aufdrücken – wer den kraftvollen „Soul Kitchen“ gesehen hat, wird bei diesem Film überrascht sein, dass ausgerechnet eine der schwächeren Geschichten von Fatih Akin stammt. Natalie Portman gibt ihr Regiedebüt, gar nicht mal so übel; zuvor schon hatte sie in der Episode von Mira Nair mit einem indischen Diamantenhändler einen lustigen religiösen Diskurs entfacht. Die beste Episode stammt von Yvan Attal – auch er von Haus aus kein Filmemacher, sondern Schauspieler. Bei ihm macht Ethan Hawke Maggie Q. an, eloquent und verführerisch, direkt und obszön, charmant und selbstverliebt und witzig.

Überhaupt: die Stardichte ist so hoch wie in kaum einem anderen Film, und sie, nicht die Filmemacherriege, ist es denn auch, die so manche Überraschung bietet. Am Ende, der alte Mann: Das ist Eli Wallach, mit schon über 90 Jahren!

Mühlbeyer in Mannheim - Einführung in "Das Kabinett des Dr. Parnassus"

Am Mittwoch, 27.1., wird Screenshot-Redakteur Harald Mühlbeyer im Mannheimer Cineplex vor der 18-Uhr-Vorstellung von "Das Kabinett des Dr. Parnassus" eine kleine Einführung zum Film und zu Regisseur Terry Gilliam halten.

Zudem werden unter den Anwesenden ein paar Exemplare seines Buches "Perception is a Strange Thing". Die Filme von Terry Gilliam verlost werden - wer sich also noch keines gekauft hat, kann sich dort persönlich outen und dafür vielleicht ein Exemplar für umsonst abgreifen.

Dass der Film sich ohnehin lohnt, muss nicht noch einmal extra betont werden.

Max Ophüls Preis 2010 – Die Gewinner


Am Samstagabend, dem 23. Januar, wurden sie verliehen, die Auszeichnungen des Max Ophüls Preises 2010, und bevor Screenshot sich weiteren Filmen des Festivals im Detail widmet, hier die Übersicht und ein paar Kommentare dazu.


Erstens: Es war ein wirklich rundes Festival. Die Coaching- und Castingbranchentage wirkten als Wuchtblock fast wie eine Gegenveranstaltung, und nebenher schien es mit einer Podiumsdiskussion und dem obligatorischen HD-Showreel auch kaum etwas als Alternative zu geben. Die neue Presselounge im Cinestar, wo die meisten Filme zu sehen waren, bot eine kostbare Rückzugs-, Sitz-, Sichtungsmöglichkeit samt WLAN-Zugang. Wichtiger aber noch: Die Auswahl des Lang- wie Kurzfilmwettbewerbs machte einem die Prämierungsvoraussage schwer – einfach weil soviel Qualität zu bewundern war und in der Gänze den 31. „MOP“ von der Jubiläumsausgabe im Jahr 2009 merklich abhob.

Zweitens: Die Preisverleihung in der fein hergerichteten aber unbezwingbar unsympathischen Saarbrücker Congresshalle war ein merkwürdiger Höhepunkt, zumindest was die Ver- und Zerteilung der Auszeichnungen betraf.

Dass die – haha – religiös motivierte Interfilm-Jury ihren ganz eigenen Film überraschte freilich nicht. Sie erkoren Olaf Saumers SUICIDE CLUB. Dessen Mängel wurden hier bereits bemäkelt, doch den Interfilmpreis hat er inhaltlich, in seiner Thematik zu Leben und Tod sowie was beides auf welche Weise wert macht, verdient.

Zum besten Kurzfilm wurde der schweizerische SCHONZEIT von Irene Ledermann gekürt. Er erkundet mit dichter Kamera und engem Schärfebereich einfühlsam die Trauer und das Zurechtkommen eines kleinen Jungen nach dem Tod der Mutter, sein Erleben der innerlichen Flucht des Vaters und die Mühe des (etwas) älteren Bruders, alle(s) beisammen zu halten. Verträumt und bodenständig zugleich ist SCHONZEIT; er – so die Jury – „schwebt über die Leinwand, funktioniert wie ein Traum, ganz über Emotion, über Atmosphäre und Stimmung. Er setzt seine filmischen Mittel gekonnt ein und schafft es, ohne viel Worte zu erzählen, ohne zu kommentieren und zu erklären […]“. Wobei dem deftigen kehligen Schwyzerdütsch dabei nochmal eine ganz eigene Bedeutung zukommt. Allerdings: Auch vielen anderen Kurzfilmen hätte in Saarbrücken die Auszeichnung zugestanden. Sich in der Entscheidung hier besonders auf die Form zu konzentrieren, hatte jedoch etwas Weises.



Geradezu ein Overkill an Salomonik bot hingegen die Dokumentarfilmpreisjury. Sie zeichnete nicht nur einen, sondern zwei Filme aus, NIRGENDWO.KOSOVO von Silvana Santamaria sowie Katharina von Schroeders MY GLOBE IS BROKEN IN RWANDA, und als ob das nicht genug wäre, wurde der großartige HOFFENHEIM – DAS LEBEN IST KEIN HEIMSPIEL über die Entwicklung des „Markenprojekts“ TSG Hoffenheim auch noch extra lobend erwähnt. Mögen alle Filme das und mehr verdient haben, angesichts von ohnehin nur zehn Dokufilmen im Wettbewerb wirkt solches Lavieren so ungeschickt wie die Jury-Begründung, in der es wie in einem Schulaufsatz heißt: „Wir haben ein paar tolle Filme gesehen, drei Dokumentarfilme über Wirklichkeiten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können und zwischen denen wir uns entscheiden mussten.“ Wie, nur drei Filme haben Lars-Peter Barthel, Claudia Gleisner und Peter Thiltges gesehen? Aber in HOFFENHEIM geht es ja auch, ihrem Begründungstext gemäß, leicht posierlich um den „Aufstieg einer Fußballmannschaft (!)“.

Lauter Zusatz- und Sondertrallala auch beim Hauptpreis oder der Schauspielerei: Woher zum Geier kam da die zweigeteilte Verleihförderung und ein Sonderpreis für einen Nicht-mehr-Nachwuchsdarsteller? Natürlich gab es sowas früher schon, der Langfilmförderpreis wurde gar regelmäßig bis 2006 verliehen, der Jurysonderpreis immer mal wieder - zuletzt 2002 für Jörg Kalt. Nur kam alle Sonderwursterei 2010 so massenhaft und zugleich nebenbei daher, dass bei den vielen nicht vorhandenen Trophäen und der Verwirrung auf der Bühne nicht nur die Preise entwertet schienen, sondern auch das Festival selbst von der um sich greifenden Gewitztheit seiner Juroren überrumpelt wirkte. Zehn Euro mehr in der Tasche und feineres Schuhwerk an den Füßen und Ihr Screenshot-Autor wäre auch auf die Bühne und hätte schnell irgendwas oder irgendwen ausgezeichnet. Oder besser gesagt: Auch nochmal einen (oder beide) der Spielfilme, die ohnehin die großen Abräumer waren, auch bei den Ausnahmepreisen.

Sieht man mal von sowas wie dem Förderpreis der DEFA-Stiftung (Jessica Hausners phänomenaler LOURDES – hei, wäre der mal im Wettbewerb gelaufen!), dem klug begründeten Filmmusikpreis für ACADEMIA PLATONOS – PLATO’S ACADEMY von Filippos Tsitos oder den Preis des saarländischen Ministerpräsidenten für Philip Kochs bedrückendes Jugendknastdrama PICCO, dann bekamen Maximilian Erlenweins SCHWERKRAFT und BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG von Oliver Kienle gefühlsmäßig irgendwie – „alles“.

Was ja nicht stimmte; die nobelbleiche herrlich fragile und gleichzeitig grimmige Nora von Waldstätten (u.a. TANGERINE, PARKOUR und demnächst in Olivier Assayas CARLOS THE JACKAL) wurde ja nicht als beste Nachwuchsdarstellerin nur wegen ihrer (durchaus dünnen) Rolle in SCHWERKRAFT prämiert. (Wie der nun ebenfalls beim MOP 2010 gekürte beste Nachwuchsdarsteller Sebastian Urzendowsky –
PAUL IS DEAD, PINGPONG, DIE FÄLSCHER u.V!.m. – war man nicht überrascht, dass sie die Ehrung erhielt weil man es ihr nicht zugestehen wollte, sondern weil man stets schon bei sich dachte, sie hätte die Ehrung schon längst erhalten.)



Alles in allem aber bekamen (so oder so):
SCHWERKRAFT:
- den Max Ophüls Preis 2010
- den Drehbuchpreis (für Maximilian Erlenwein)
- (Nora von Waldstätten): den Preis für die beste Nachwuchsdarstellerin
- (Fabian Hindrichs für seine Rolle in SCHWERKRAFT): Sonderpreis

und

BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG:
- den Preis der Schüler-Jury
- den Publikumspreis
- eine der beiden Verleihförderungen (die andere ging an Andreas Arnstedts DIE ENTBEHRLICHEN)

BIS AUFS BLUT, der „Zielgruppe“ wie „Fußvolk“ so prächtig gefiel, ist auch wirklich ein mitreißendes, fast brachiales Stück Kino. Dass bei einer der Vorführung die Bässe des Soundtracks die Lautsprecher im Saal beinahe ruinierten, wirkt weniger wie ein Vorführfehler als eine Art freud’scher Technik-Versprecher. Keine Frage, BIS AUFS BLUT hat Wumms, aber auch Herz. Zunächst kann man noch skeptisch sein, bei all der Coolness und Rasanz, angesichts von Pose und Gestus: Als Bub wird Tommy an der Bushaltestelle von älteren Kids dumm angemacht, worauf der gleichaltrige türke Sule rabiat eingreift – der Beginn einer langen, engen Freundschaft, dessen Entwicklung der Film im lauten Eiltempo zum Vorspann zeigt; wie beide in der Rapper-Szene aufwachsen, mit Gras-Deals Geld machen, ein dickes Auto fahren, ein lässiges Leben führen, einen Dreck auf Berufsschule (Sule) und Gymnasium (Tommy) geben; wie sich Tommy in Sina verliebt; er und Sule von einem Tuning-Laden träumen – und sich das Blatt wendet: Zivilbullen, Hausdurchsuchung. Tommy wandert in den Jugendknast, wo ihm das Leben zur Hölle gemacht wird.



Nach sechs Monaten ist er wieder draußen. „Opfer“ haben sie ihm auf den Handrücken tätowiert, und Tommy will nix mehr mit „der Scheiße“ zu tun haben, keine Drogen mehr, Sina zurückbekommen, Abschluss machen. Aber Sule ist und bleibt seine bester Freund, überhaupt das Milieu sein Zuhause, und hier kriegt der Film den Zuschauer, frisst einen mit Haut und Haaren. Ganz schnell vergessen ist aller Argwohn, entpuppen sich die Figuren, ihr Tun, Sein und Auftreten nicht als nervtötende Konstruktion, um Sozialdrama zu spielen, als hohl und selbstgefällig, um zu provozieren oder sich in seiner Wild- und Coolheit simpel selbst zu feiern. BIS AUFS BLUT erinnert an 13 SEMESTER, nicht nur, weil hier Würzburg zur Gangsta- und Rapper-Kleinstadt wird wie dort Darmstadt als perfekte Kulisse fürs kleine Studiumsuniversum; weil sich Großes auch im Kleinen besser betrachten lässt, vor allem die antreibende Verzweiflung und Verunsicherung dahinter. Auch BIS AUFS BLUT hantiert mit einigen Klischees und Typen, zeigt, dass und wie diese eben doch dem Leben entspringen – und vor allem: BIS AUFS BLUT ist ungeheuer witzig.



Regisseur Oliver Kienle lässt einen ebenso über die Protagoniste wie mit ihnen lachen, an ihren großen, bisweilen albernen Träumen und Selbstbehauptungen teilhaben und an dem dicken Mist, den sie bauen und angesichts dessen man trotzdem nicht anders kann, als sie zu mögen oder zumindest zu verstehen. Man schließt sie in Herz, alle. Sogar die Nebenfiguren, von denen keine einzige verkauft wird, ist rund und zugleich mit den nötigen Ecken versehen, sogar noch die Funktionalsten unter ihnen; Sules frühreife „Freundin“, die Zivilpolizistin oder der Lehrer, der dem Kindskopf Tommy am liebsten gleichzeitig Vernunft einbläuen und ihn umarmen würde, so aber einfach mit ihm Zigaretten raucht. Kienle schließt uns den Mikrokosmos von innen auf und plötzlich ist man in dieser vielfach abstoßenden Poserwelt aus „Ficken“-, „Fucker“- und „Fotzen“-Asozialität und -Großspurigkeit, in der es doch komplexer zugeht und heimeliger sein kann als im Vorstadthaus, wo die Mutter Therapeutin ist oder in der Landvilla, wo Tochter Weinprinzessin den rüden Straßentürken mitbringt, um – noch rüder – Papas Aufmerksamkeit zu bekommen. Mit ein Grund für all das Gelingen sind natürlich auch die beiden phantastischen Darsteller: Burak Yigit als Sule und Jacob Matschenz als Tommy, die jeder für sich die ganze große, darstellerisch doppelt schwierige Bandbreite von Hilflosigkeit und Humor, Brutalität, Angst und linkischer Liebe, von Aufrichtigkeit, Rollenspiel und Kontrollverlust meistert, die vielen Einzelaspekte ihrere Jungs so sicher und genau zusammenschnüren, dass man sich an ihnen kaum sattsehen mag.

Doch Kienle belässt es nicht bei dieser Rundreise. Er bietet uns unverschämt leichthändig und große emotionale Story um Freundschaft und Verrat, die ins Herz trifft. Tommy ist nämlich verpfiffen worden, will, immer mal wieder, herausbekommen von wem. Als Zuschauer, gewohnt, auf das größte dramatische Potential zu achten, denkt man sich schon, von wem. Aber auch, wenn es genauso ist, kommt es zugleich und am Ende ganz anders, in Sachen Stimmung, im Stil, in der Bedeutung. So lehrt einem BIS AUF BLUT in seiner bravourös ungestümen, lebensprallen Art, angesichts der man einige formale Spirenzchen wie das „Filmstreifenspulen“ nicht nur verzeiht, sondern gar begrüßt, einiges über Vernunft, Aufrichtigkeit und Loyalität, auf eine Art, wie das nur ganz sensibles und besonders nassforsches Kino kann. Beides bietet der laute und geschickte, rohe und elegante Starkstromfilm BIS AUFS BLUT, der es hoffentlich wirklich auf die Leinwand schaft.

Auch SCHWERKRAFT ist ein gute Film, dem der Max Ophüls Preis durchaus zusteht. Auch und gerade Fabian Hinrichs Spiel ist bemerkenswert. Doch: Drehbuchpreis? Na schön. Aber mit solch einer Begründung?

SCHWERKRAFT, das ist die Geschichte von Frederick (Hinrichs), der Kreditberater in einer Bank ist, jeden Morgen einen Parkplatz sucht und ihn sich wegschnappen lässt, der heimlich seine Ex-Freundin Nadine (v. WALDSTÄTTEN) beobachtet – und dessen Leben auf den Kopf gestellt wird, als sich vor seinen Augen ein Kunde aus Finanznöten erschießt. Das bringt den ordentlichen Mann natürlich aus der Bahn, wenn auch zunächst nur innerlich, und überhaupt: Ob da je was im Lot war, bestreitet der Film schließlich selbst. Als müsse er sich seine Lebendigkeit beweisen, lässt Frederick zunächst experimentell behutsam den Mr. Hyde raus, will eine CD im Laden klauen, einfach so, wird aber von einem Angestellten gewarnt: Vince (mit eingefrorenem Gesicht: Jürgen Vogel), Angestellter des Elektromarkts und Ex-Knacki war Fredericks alter Bandkollege, beide haben sich aus den Augen verloren. Und beide tun sie sich zusammen: Nachdem Frederick bei seinem Chef einsteigen will, dabei seine Kreditkarte verliert und auf Vincens Handwerkskunst angewiesen ist, starten sie eine Zweierkarriere und unterkühlte Freundschaft, in der Frederick Wissen und Daten seiner Kundschaft zur Handwerkskunst und den Unterweltkontakten von Vince beisteuert. Der Ex-Knacki bekommt seine erträumte Kneipe, Fredericks soziopathische Lebensenergie genug, um im Alltag aufzumucken und es mit Nadine neu zu versuchen. Doch das alles kann natürlich nicht gut gehen; Vince hat noch eine alte Rechnung zu begleichen und Frederick verliert immer mehr den Halt…



Wie in FIGHT CLUB dient in SCHWERKRAFT körperliche Gewalt und Normverletzung zur Selbstvergewisserung, Selbstverwirklichung, wird Verkrustetes aufgesprengt – und tatsächlich kauft man das Hinrichs Frederick sofort ab, das Überschreiten und den Wechsel von Spießer und Depp zum Brutalo und zugleich Verlorenen – die eine wie die andere Seite ist bereits angelegt oder wird ihm nicht ausgetrieben. Lakonisch und zugleich leicht traumwandlerisch ist die Inszenierung, ist die Gesetztheit der Worte und deren Fehlen, wenn es darum geht, was wirklich zählt und ist. Tatsächlich ist die Story geschickt, immer mehr rutscht Frederick hinein und zugleich hinaus, und dafür braucht es keinen eingebildeten Freund: Jürgen Vogels Vince ist kein jovialer Tyler Durden, im Gegenteil, er bleibt immer ein wenig unnahbar, selbst ein Verwundeter, und der Film birgt bei aller Skurrilität seine Tragik in Stimmung und Rhythmus immer schon in sich. Das ist – wie die MOP-Jury bemerkt – durchaus ganz großes Kino. Die letzten wenigen Einstellungen überraschen und brauchen dazu nur ein Lächeln, so dass man gerne drangibt, wie der Film schlussendlich etwas auseinanderfällt (was im Übrigen bei vielen Filmen des MOP-Langfilmwettbewerbes zu bemerken war).

Und natürlich ist da diese Szene, eine inhaltliche und bildliche Idee, wie man sie hierzulande kaum erwartet hätte: Vince willigt ein, Frederick zum Azubi zu nehmen; sie sitzen in einem Auto; in einer Gasse stehen einige kräftige Skinheads herum. Um gleich anzufangen mit der Lehre, ordnet Vince an, Frederick solle sich den Größten rauspicken. Vince reicht ihm einen Baseballschläger. Frederick überlegt kurz, nickt, steigt aus – und verhaut mit Ski-Maske und im edlen dunklen Bankeranzug samt Mantel ohne zu zögern die Kerle, die flugs reißausnehmen.

So bietet SCHWERKRAFT tatsächlich Momente, die, so die MOP-Jury, an die Filme der Coen-Brüder erinnern, schräg und schwarz und irgendwie unauflöslich, die unterhalten und zugleich einen leicht irritiert zurücklassen.



Auch die Drehbuchjury (Daniel Blum, Anette Kührmeyer, Jan Henrik Stahlberg) hat also durchaus ein bisschen Recht, doch zugleich hat dieser wirklich vorzügliche Film einige Mängel, die sich nicht mit dem angeführten geschickten Unterlaufen von „konventionellen“ Genrekino-Erwartungen wegloben lassen, z.B. wenn Vince Freundin, die zentral wird für seine Backstory-Wunde, irgendwie plötzlich da ist; wenn für das dramatische Ende schnell noch erklärend die Ex-Arbeitskollegin von der Arbeit als Tippgeber eingeblendet wird, hinsichtlich der sich SCHWERKRAFT dramaturgisch auch nicht entscheiden will.

Genreerwartungen unterlaufen kann zwischen NO COUNTRY FOR OLD MAN und DER KNOCHENMANN (um mal zwei schwere Geschütze aufzufahren) manchmal eben auch bedeuten, unsauber zu erzählen. Hier bedeutet es vor allem, zwischen Erfüllen und Verweigern sehr oft, aber nicht immer die richtige Balance und vor allem: die richtige Konsequenz zu finden. Das Ausbrechen aus sterilen Leben als Story muss sich zudem gerade erzählerisch – siehe FIGHT CLUB, siehe AMERICAN BEAUTY, auch in Deutschland: siehe Ulrich Köhlers MONTAG KOMMEN DIE FENSTER – an ganz anderen Standards der Originalität (und damit auch der „Genrehaftigkeit“) messen lassen.

Mehr aber ist das Lob der Jury selbst überzogen. „Restlos“ gelungen sei der Film; die Entscheidung, so verkündet Stahlberg auf der Bühne, sei sehr leicht gefallen. Was den Film ebenso ungerechtfertigt überhöht wie er alle anderen – z.B. MEIN LEBEN IM OFF – herabsetzt. Auch wenn Stahlberg Erlenwein Kontra gab, weil dieser in seiner Dankesrede annahm, die Jury habe nur den Film gesehen und nicht das Skript gelesen: SCHWERKRAFT, der seine drehbuchjurygelobte „enorme Leichtigkeit“ zum großen Teil den Schauspielern und der Inszenierung verdankt, wurde wohl eher als Ganzes ausgezeichnet als sein Skript allein.

Übrigens, der letzte Film, der dem Max Ophüls Preis und den Drehbuchpreis erhielt, war 2006 Benjamin Heisenbergs SCHLÄFER. Auf solche eine Qualität wartet man heute noch und wieder. Denn im Guten wie im Schlechten war der 31. Max Ophüls Preis kein Festival der Drehbücher.






Die Preisträger im Überblick:

MAX OPHÜLS PREIS 2010:
SCHWERKRAFT, Regie: Maximilian Erlenwein

Verleihförderung von je 9.000 Euro geht zu gleichen Teilen an:
BIS AUF´S BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, Regie: Oliver Kienle
DIE ENTBEHRLICHEN, Regie: Andreas Arnstedt

Preis des saarländischen Ministerpräsidenten:
PICCO, Regie: Philip Koch

Der Preis für den Besten Kurzfilm:
SCHONZEIT, Regie: Irene Ledermann

Der SR/ZDF-Drehbuchpreis:
SCHWERKRAFT, Regie: Maximilian Erlenwein

Der Förderpreis der DEFA-Stiftung:
LOURDES, Regie: Jessica Hausner

Der Preis für den Besten Dokumentarfilm geht zu gleichen Teilen an:
NIRGENDWO.KOSOVO, Regie: Silvana Santamaria
MY GLOBE IS BROKEN IN RWANDA, Regie: Katharina von Schroeder

Der Preis für den Mittellangen Film: RAMMBOCK, Regie: Marvin Kren ((= Gewinner des letztjährigen Kurzfilmpreises für SCHAUTAG)

Sonderpreis für FABIAN HINRICHS für seine Rolle in „Schwerkraft”

Der Preis für die Beste Nachwuchsdarstellerin: NORA VON WALDSTÄTTEN

Der Preis für den Besten Nachwuchsdarsteller: SEBASTIAN URZENDOWSKY

Der Filmmusikpreis: ACADEMIA PLATONOS – PLATO’S ACADEMY, Regie: Filippos Tsitos

Der Publikumspreis: BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, Regie: Oliver Kienle

Der Preis der Schülerjury: BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, Regie: Oliver Kienle

Der Interfilmpreis: SUICIDE CLUB, Regie: Olaf Saumer



Bernd Zywietz


Hier geht's zum ersten Teil unserer Max Ophüls Preis-Berichterstattung!

Sherlock Downey Jr.

von Dennis Vetter

USA, 2009. Regie & Drehbuch: Guy Ritchie. Musik: Hans Zimmer. Darsteller: Robert Downey Jr., Jude Law, Rachel McAdams, Mark Strong. Verleih: Warner. Laufzeit 125 Minuten.

Die heutige Kinolandschaft ist schon ein hartes Pflaster, kaum Platz mehr für echte Gentlemen. Nachdem schon die Stilikone der Neuzeit schlechthin, James Bond, vom wortgewandten Anzugträger zum brutalen Adrenalinjunkie umgemodelt wurde, ist es kaum verwunderlich, dass es nun auch einen seiner ehrwürdigsten Vorfahren trifft.

Der Trailer ließ es bereits seit Langem erkennen: Flügelmützenträger und Kombinations-Ass Sherlock Holmes höchstselbst wurde von Guy Ritchie exhumiert und mit Vollgas durch die Aktualisierungs-Maschine gejagt. Heraus kam ein Raubein mit superheldenhafter Intelligenz, das vor publikumswirksamer Brutalität nicht zurückschreckt, Coolness und Drogenneigung absolut verinnerlicht hat und sich mit diesen Basic-Skills ohne weiteres auch in unserer ach so wunderbaren Gegenwart behaupten könnte. Guy Ritchies Sherlock Holmes ist seiner Zeit voraus - und büßt damit nicht nur einen Großteil seines Charmes, sondern auch seiner Glaubwürdigkeit ein. Als Figur, die nach den Regeln des 21. Jahrhunderts funktioniert, besteht er mit Leichtigkeit im viktorianischen England um 1890 zwischen Arbeitern und zurückgebliebenen Kleinkriminellen. Ohne große Anstrengung übersteht der smarte Detektiv auch die härtesten Auseinandersetzungen, macht unaufhörlich Vorrausdeutungen zu technischen Innovationen der Zukunft und analysiert mit unnatürlicher Gelassenheit auch die undurchsichtigsten Rätsel im Vorbeigehen. Ein überlegener Antiheld, wie er im Buche, Verzeihung, Drehbuche steht - und mit kleinen Variationen bereits mehrfach stand.


Draufgänger Sherlock Holmes alias Robert Downey Jr. und sein Begleiter, der kalkulierte Mediziner Dr. Watson (Jude Law) wirken eher wie Touristen auf dem Holodeck, denn wie glaubhafte Kriminologen - zu versiert, zu entspannt und zu zielsicher gehen sie zu Werke und werden dabei lediglich durch ein paar wenige Gesprächsfetzen charakterisiert. Das kratzt ordentlich an der Überzeugungsstärke der Geschehnisse, die sich leider ohnehin nicht sehr erfolgreich darin zeigen, das Publikum vom Hocker zu hauen: Religiöse Verschwörungen, okkulte Rituale, merkwürdige technische Geräte, eine widerspenstige Schönheit, trottelige Polizisten und zu guter letzt ein mysteriöser Drahtzieher im Hintergrund verdienen nicht wirklich Preise für Originalität. Von Mark Strong als Klischeebösewicht Lord Blackwood (also Bitte!) und Quotenmädchen Rachel McAdams gar nicht zu reden.

Obendrein scheint Guy Ritchie, so formal versiert er das Spektakel auch inszeniert, all die Intelligenz, mit der er Holmes ausstattet, dem Zuschauer abzusprechen. Jede auch noch so kleine Schlussfolgerung innerhalb des an sich schon uninspirierten Kriminalfalls wird dem Zuschauer durch eine Erklärung nach Holmes-Art entrissen und in absolut überdeutlich erklärenden Rückblenden ausgebreitet. Selbst ohne ein Wort des eindrucksvollen Dialekt-Gebrabbels von Downey Jr. zu verstehen, erlaubt allein die plakative Bildsprache in diesen Erklärungshilfen ein Verstehen aller Zusammenhänge – nur eben nicht aus dem Geschehen selbst heraus, sondern durch grundschulhafte Nachhilfen. Das Voice-Over und die erklärende Rückblende: Der Tod filmischer Kreativität. In anbetracht der Tatsache, wie hyperintelligent Watson und Holmes doch angeblich sind, kratzen derartige Erklärungsdialoge zwischen den Figuren nicht nur an der Plausibilität eines eingespielten Teams, sondern auch an der Spannung für den Zuschauer.

Und dennoch.


Sherlock Downey Jr. und Jude Watson bei der Arbeit, also beim Schauspielern, zuzusehen, macht von der ersten Minute an ordentlich Laune. Die angesprochenen Dialogfetzen zwischen den beiden wechseln sich mit allerlei skurrile Situationen ab und sorgen trotz oder gerade wegen ihrer Kürze für permanentes Schmunzeln. Der Zuschauer übersteht dank permanenter kleiner Schmankerl auch die banalsten Plotwirren mit einem entspannten Seufzen. Und eines sei dam Film zugestanden: So banal die Handlungstwists auch sein mögen, ist es dabei erfreulich, dass Ritchie keine durchgehende Actionorgie vorlegt. Das klapprige Handlungskonstrukt liefert ausreichend Zeit, um das Protagonistenduo zu genießen. Und wenn dann nach einer Verschnaufpause doch der Startschuss für eines der zahlreichen Geplänkel fällt, geht im Kugelhagel und wortgemäß ‚Slapstick’-haften Gekloppe glücklicherweise der Charme der Figuren nie verloren: Manche Actionszenen des Films berühren sogar beinahe das wohlige "Hau Drauf"-Feeling, das sich sonst nur bei den vollendet inszenierten Prügel-Klassikern von Terrence Hill und Bud Spencer einstellt. Wo Sherlock und Watson hinlangen, wächst kein Gras mehr.

Was nach diesem kurzen Resümee bleibt, ist ein gemischter Eindruck. Ritchie liefert einen recht vorhersehbaren Film ab, der Sherlock Holmes als kauzig-sympathischen, aber doch etwas sehr souveränen und unantastbaren Lebenskünstler präsentiert. Sein Film lebt einzig durch das starke Protagonistenduo, das mit Robert Downey Jr. und einem überaus spielfreudigen Jude Law hevorragend besetzt ist. Schulnote 2,5 - dank und trotz der unendlich platten Hundegags.

Ach ja, de Film legt natürlich eine Fortsetzung nahe...

Max Ophüls Preis 2010

Für Sie berichtet unser Redakteur Bernd Zywietz mitten- und "zwischendrin" vom 31. Filmfest Max Ophüls Preis in Saarbrücken.



Zum 31. Mal präsentiert sich das Filmfest Max Ophüls Preis wie stets: Grau in Grau. Wettertechnisch. Ansonsten gibt es eine großartige Neuerung: eine Presselounge direkt im Cinestar, wo es Platz zum Sitzen und W-Lan zum Blog-Schreiben gibt. Und auch das Programm entspricht gar nicht dem triste Saarland-Winter, vor dem die blauen MOP-Herzen freilich umso schöner leuchten.

Da kommen Filme (oder ihre Macher) aus der Türkei, aus Israel und Griechenland, sogar aus der Schweiz, aus Ostdeutschland und Bayern! Aber auch qualitativ gerät das spannend, sogar das Mittelmaß bietet immer noch etwas Interessanten, auch wenn sich einige Schwächen wiederholen?

Da ist neben dem penetranten Abschrecken der Zuschauer (als wären sie gekochte Eier) durch jammernde Singersongwriterindependent-Lieder zum Abspann das ausufernde Off-Erzählen. Natürlich ist der Drehbuchratgeber-Tipp Quatsch, Zeigen käme immer und ewig vor Reden; wenn man es szenisch darstellen könne, sei auf Geschwätz zu verzichten.

Doch in Saarbrücken hätten bei all diesen Premieren dem Rat mehr Beachtung geschenkt werden sollen - der episierende „Bogen“ wird leider in diversen Filmen strapaziert – einfach weil viel zu oft dabei seichte Besinnungsdenkerei und Kalendersprüche herauskommen und den Zuschauer davon abhalten, sich selbst und ohne Bevormundung dem Film, seinen Figuren und der Geschichte anzunehmen.

Da ist der ansonsten vorzügliche Kurzfilm (im Wettbewerb) VORHER/NACHHER von Sonja Marie Krajewski über eine Sportlerin (Pauline Knopf), eine wirklich üble Vergewaltigungsszene und die Frage, wie das Leben danach weitergehen soll, kann und darf. Die Selbstreflexiviererei der Hauptfigur ist bisweilen klug, stört aber manches Mal auch den Film, dessen Qualität neben den Darstellern und ihrer Führung gerade in der Kamera liegt, die eben ohne Worte eindringlich vieles die Gefühle, Gedanken und Stimmungen einfängt, die nun auch noch verbalisiert werden.

Auch SUICIDE CLUB von Olaf Saumer krankt bisweilen (nicht nur) an dem rahmenden Voice-Over-Sinnieren des Schülers, der sich zusammen mit einem Staubsaugervertreter in den mittleren Jahren, einem kiffenden Skater, einer Öko-Mama und einem wilden Mädchen auf einem Hochhausdach trifft, um sich dort gemeinsam in den Tod zu stürzen. Der BREAKFAST CLUB lässt – der Titel kündet es - grüßen. Natürlich tun sie es doch nicht; unten kommen zu viel Leute vorbei, hinein ins Haus können sie wieder nicht, sie spielen Flaschendrehen und brechen durchs Dach in eine Wohnlounge...



Während das skurrile Chaos mal mehr, mal weniger (aber nie so recht genug) um sich greift, kommt man nicht umhin, die gewitzte Grundidee zu bewundern – ein zweiter IMMER NIE AM MEER hätte das werden können. Aber zu gespreizt sind Buch und Regie, zu hölzern und gebraucht die Dialoge, wenn es um Lebensverzweiflung, der Ärger aneinander und den Grund für den jeweiligen Selbstmord (=,gespiegelt, Sinn und Qualität des Lebens) geht, zu theaterhaft überbetonend und hüftsteif die Schauspieler. Positiv zu vermerken ist, dass der Film mit lächerlichem Budget gedreht wurde; Kunsthochschule Kassel; HD Cam. Was leider auch die schäbige pixelige Bildqualität begründet, die einem doch schon auf die Nerven geht. Ob da was wie am Workflow oder der Projektion nicht stimmte; dass und wie kein Geld da war - beim Sehen auf großer Leinwand entschädigt all das leider nicht.

Ein bisschen enervierend auch die Gedankenpoesie in SOUTH (R: Gerhard Fillei, Joachim Krenn). „Das Leben schaut die an“ oder so; oder: „Sie hat die Postkarte nicht abgeschickt“ - sagt sich Bruce, der eben diese Postkarte in der Hand hält. Diese Karte stammt aus einem Sammelsuriumsbuch, das nicht seines ist und, in mehrerer Hinsicht, dann doch.



Es ist aber nur die Masse der Introspektion, für die man Gedult braucht, auch für das stete Zirkeln der Bilder und Erinnerungen, der Erinnerungsbilder, immer dieselben. Das fordert, aber auf eine positive Weise. SOUTH ist ein Film, den man zweimal schauen sollte und möchte, ein Ausnahmewerk, hier in Saarbrücken, aber nicht nur hier. SOUTH ist körniges Schwarzweiß und ist in New York gedreht, in Englisch, ein film noir, BLAST OF SLENCE, irgendwie. SOUTH erinnert dazu an Nolans FOLLOWING auch an Lynchs LOST HIGHWAY. Von Letzterem hat er ein Musikstück „geklaut“, nicht aber um den Sonnenuntergang in Los Angeles zu vertonen, sondern die farblose Calvin-Kleine-Werbeästhetik, die konsequent und erfolgreich durchgehalten wird: Regen in New York. Wie in LOST HIGHWAY sucht hier ein Mann sich selbst, auch wenn das selbst schon wieder nicht ganz klar erscheint. Bruce hat an einem Bankraub teilgenommen, flüchtet nach Oregon – das FBI ist ihm auf der Spur -, von da in die Ostküstenmetropole. Er träumt von einer Frau in Mexiko, versucht eine andere (oder dieselbe?) in Texas zu erreichen; aber irgendwas stimmt hier nicht, das Irisierende, Selbstgemurmel ist weit mehr als Ästhetik und Poesie. Es dient der Selbstbestimmung der Figur, ist auch manchmal etwas dick und ermüdend, dafür jedoch gibt es die Berichtskommentare des FBI-Agenten, die dem ganzen einen spooky touch gibt: Wer oder was ist dieser Bruce überhaupt?

Noch zwei Nebenhandlungen hat der Film, sie sind ineinander verwoben: eine junge Frau, die Ärger mit ihrem Freund hat und arbeitet für: einen alternden Pianohändler, der sie heimlich liebt. Was sie mit Bruce zu tun haben, erscheint zunächst unklar und auch zum Schluss, der gottlob sein „Trauma“ nicht gänzlich ausformuliert, ist immer noch offen, ob da nicht mehr ist, ein kleiner Hinweis, ein Querverbindung, die einem entgangen oder entglitten ist. Selbst wenn man SOUTH nur als kompliziert und überstilisiert erzähltes Krimi-Drama betrachten will, bekommt man so aber eine leichte Story, von der mehr zu sehen man sich gewünscht hätte: Die eines älteren Mannes, der im letzten Moment die Frau, die er heimlich liebt, gehen und damit seinen Lebenssinn davonziehen lässt.

Die Story von Fillei, Krenn und ihrem Film selbst ist spannend für sich. Mit Anfang 30 wollten sie es nochmal wissen, reisten nach New York, kamen nicht in die Filmschule und drehten doch ihren Film, was, in Phasen, zwölf Jahr gedauert hat. Was auch – eine ebenso unheimliches Momento – die Twin Towers im Film erklärt, die da (noch) stehen. Zwischendrin verkauften sie die Rechte, an eine windige Firma, arbeiteten trotzdem weiter, bekamen den Film schließlich zurück. Ein Glück. Hoffen wir, dass wir ihn noch oft und auf der Leinwand zu sehen bekommen!

Nicht so toll: WAFFENSTILLSTAND von Lancelot von Naso. Zunächst: Jeder deutsche Film, der sich des Themas Irakkrieg annimmt (wie auch Afghanistan) ist begrüßenswert. Viel mehr sollte es geben, die sich dem widmen, der Berichterstattung, den Soldaten dort, viel mehr gäbe es da zu erzählen, viel viel mehr, moralisch wie hinsichtlich des Stoffpotentials.



Auch WAFFENSTILLSTAND hat ein gute Idee und bisweilen eindringliche Bilder von zerstörten Häusern, einem Krisengebiet, das man über die TV-Aufnahmen nur unzureichend „bereist“ (gedreht wurde in Marokko). Um die Medien selbst geht es ein Stückweit auch: Ein Krisenreporter (Max von Pufendorf) und sein Kameramann (Hannes Jaenicke) begleiten eine Ärztin (Thekla Reuten) und ihren älteren befreundeten Kollegen (Matthias Habicht) auf ihrer Reise mit dem Minibus in die „Terroristenhochburg“ Fallutscha. Ein Waffenstillstand macht ihnen den Weg frei, um die nötigen Medikamente in die Kriegshölle hineinzubringen und seltene Bilder herauszuholen. John Fords STAGECOACH stand mit Pate, laut des Regisseur (so wurde dem Autoren zugetragen, der den Film nur in der Akkrediertenvorführung sah), und daraus ergibt sich eine dichte Situation, eine der Reise und der Belagerung.

Doch letztlich bleibt WAFFENSTILLSTAND zu nahe am Ufer der Fernsehunterhaltung: Die Botschaft, das Krieg schrecklich ist, wird zwar noch angereichert von dem Hinweis, dass und wie die US-Truppen heucherlisch sind, wenn sie Frieden und Demokratie bringen. Doch wie dies daherkommt, ist so wenig originell wie das Wissen um die Selbstaufgabe von Kriegsärzten, fast so banal wie die Botschaft, dass Zivilisten schlussendlich immer die Leittragenden sind etc. Nicht unbedingt schlecht, aber reißbrettartig sind oft die Dialoge; abgehangen die Rollen: Habicht als zynischer, gebrochener Doc, die mit seinen Kommentaren erhellt, wie beschissen sich so alles im Irak allgemein und im Speziellen entwickelt hat. Jaenicke ist einmal mehr der Taffe, der doch ein gutes Herz hat, und schließlich lässt auch sein Kollege, der engagierte Reporter das Reportieren und hilft, wenn es um die Versorgung der Kranken geht.

Iraker sind tatsächlich wie Indianer; sie dürfen den Busfahrer stellen, interviewt werden, die klagenden und blutenden Opfer geben, oder aber die Gastfreundlichen, die – man hat die Botschaft verstanden – auch böse auf die Amis sind und dafür die Kalaschnikow schwenken (fiese Indianer-Iraker gibt’s natürlich am Ende auch noch, abern nur kurz). Das ist alles ja gut gemeint, aber eben auch etwas altbacken und mit zu wenig Kanten, vor allem weil es sich aus der friedliebenden Position Dritter leicht gutmenscheln, urteilen und über alle Pein und Ungerechtigkeit grimmig die Faust ballen lässt.

Auch was die wohlfeile Medienschelte betrifft: Das Thema ist denn auch spannend, bleibt aber in/m WAFFENSTILLSTAND auf halbem Weg stecken, besonders in der Medienkritik. Dass die Kamera draufgehalten wird, wo es nur geht, dass Elend ausgenutzt wird (oder zumindest ignoriert) – all das ist schon wenig fein, und die Ethik des Fernsehen steht hier auch zwischen den Figuren hin und wieder zur Diskussion, z.B. die Geilheit auf Bombenattacken, die Bilder liefern; das Desinteresse darüberhinaus - das der Journalisten, der Zuschauer daheim. Doch indem die Mittel des Fernsehens und all ihre Unzulänglichkeiten mit denen des TV-Dramas kritisiert werden und die beiden Helden hier doch eben „nur“ solche sind, wird die eine „Verlogenheit“ nur durch eine andere ersetzt und ein klapperiges Ross der Rechtschaffenheit vor den Minibus der Schicksalsgemeinschaft gespannt.


Bernd Zywietz


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Bruce in the Shell: Rebellion der Menschen - „Surrogates – Mein zweites Ich“

von Maximilian Miguletz

„Surrogates – Mein zweites Ich“ („Surrogates“)

USA 2009, Regie: Jonathan Mostow; Buch: Michael Ferris, John D. Brancato (Graphic Novel: Robert Venditti, Brett Weldele); Kamera: Oliver Wood; Musik: Richard Marvin; Produktion: Max Handelman, David Hoberman, Todd Lieberman.
Darsteller: Bruce Willis (Greer), Radha Mitchell (Peters), Rosamund Pike (Maggie), Boris Kodjoe (Stone), James Francis Ginty (Canter), James Cromwell (Canter, älter), Ving Rhames (Prophet), Jack Noseworthy (Strickland).
Verleih: Walt Disney
Laufzeit: 88 Minuten
Kinostart Dtl.: 21.01.2010


Zeit für ein Geständnis. Die Screenshot-Redaktion besteht aus einer einzigen Person – mir, einem 12-jährigen peruanischen Wunderkind, das sich hoch oben in den Anden an seinem 486er-PC wirre Texte über Film ausdenkt. Wie bitte? Klingt unglaubwürdig? Wer weiß das schon? In Zeiten von Internetanonymität und beliebig wählbaren Stellvertreteridentitäten! Hollywood scheint zur Zeit ganz vernarrt in dieses Phänomen und kreiert eine Allegorie nach der anderen. Erst die blauen „Avatare“ auf Pandora, dann die willenlose Sträflingsgladiatoren in „Gamer“, und jetzt folgen die „Surrogates“: Androiden, die von ihren Besitzern ferngesteuert werden.

Die virtuelle Realität ist in der realen Welt angekommen. Menschen verlassen ihre Wohnungen nur noch mithilfe von Surrogates. Über einen speziellen Sessel steuert man den Roboter-Avatar allein durch Gedankenkraft, geht mit ihm den Alltag an, zur Arbeit, zum Einkauf, in den Club, wird dabei stimuliert, empfindet jedoch keinen Schmerz und setzt sich keinerlei körperlicher Gefahr aus. Virtual Self Industries – hier Name des aus zahlreichen SciFi-Filmen bekannten zwielichtigen Großkonzerns – haben inzwischen über 98% der Weltbevölkerung mit Surrogates beliefert, machen aber trotzdem fleißig Dauerwerbung für ihre künstlichen Menschen; soll wohl das Vertrauen der Kunden in das bereits erstandene Produkt stärken.

Ist ja auch eine tolle Erfindung. Dazu eine famose Prämisse für einen Science-Fiction-Film. Wenn jeder über maschinelle Platzhalter lebt, wie kann ich dann sicher sein, wen ich vor mir habe? Zu Beginn des Films wird ein attraktiver, blonder, weiblicher Surrogate gezeigt. Gesteuert wird er von, sagen wir, Jabba the Hutt. Ein Ansatz, der ähnliche Phänomene im Internet widerspiegelt, und herrlich neugierig macht. Zumal sich der dicke Mann „im“ Blondinenroboter mit einem jungen Mann vergnügt. Ist er jetzt schwul? Oder labt er sich an dem Verwirrspiel, das er treibt? Wäre dem jungen Mann die Wahrheit egal?

Die Grundidee des Films wirft viele solcher interessanter Fragen auf. Wie funktioniert die Arbeitswelt, wenn jeder dank Surrogate die gleichen physischen Leistungen einbringen kann? In der Anfangsmontage wird ein Liebespaar im Bett gezeigt: Wie funktioniert Liebe, sowohl körperlich als auch emotional, wenn sich in der Welt da draußen nur perfekt aussehende Stellvertretermaschinen begegnen? Sind die Menschen, die den ganzen Tag im Surrogate-Stuhl verbringen, fett und kaum noch zu Bewegung möglich? Die Surrogates haben für das Verschwinden von Kriminalität gesorgt, heißt es. Könnten Unverletzlichkeit und Anonymität des Avatars nicht eher für mehr unrechte Taten sorgen, zumal weiterhin sozial interagiert wird? Wird Gewalt gegen Surrogates nicht als Verbrechen gewertet? Was ist mit armen Menschen, die sich keine oder nur unzureichende Androiden leisten können? Und wenn es keine Verbrechen gibt, warum gibt es ein gut besetztes Morddezernat? Wohl damit Bruce Willis‘ Rolle einen Arbeitsplatz hat.

15 Jahre lang kein Mord und dann sowas: Mit einer speziellen Waffe wird der Sohn des Surrogate-Erfinders Canter (James Cromwell) angegriffen. Dabei schmort seine Robo-Puppe durch – und dem Jungen zuhause kocht das Hirn über. Die Agenten Greer (Willis) und Peters (Radha Mitchell) nehmen sich des skandalösen Falls an, der sie einer komplexen Intrige auf die Schliche und an die eigenen Grenzen führt. Als Greers Surrogate zerstört wird, wagt er das Undenkbare. Er geht selbst, in Fleisch und Blut, auf die Straße und ermittelt...

Was für ein toller Moment hätte das sein können. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten benutzt der Protagonist seinen leiblichen Körper, aber sein Erstaunen, das Wunder dieser Erfahrung, wird ausgespart. Schade. Das ist überhaupt das Schlagwort: schade. Denn es gibt Gutes: Jonathan Mostow weiß, wie er Action zu inszenieren hat. Dass er Maschinen aufeinander prallen lassen kann, hat er schon in „Terminator 3 – Rebellion der Maschinen“ gezeigt. Die etablierte Stimmung ist ansprechend. Insbesondere das Verhältnis von Greer zu seiner traumatisierten Frau (Rosamund Pike) erhält viel Raum und sorgt für mehrere atmosphärisch dichte Szenen. Einige Ideen, wie der Schönheitssalon für Surrogates, sind toll. Aber es bleibt bei Ideen und Ansätzen. Schade. Der Wunsch nach mehr Tiefe und Aspekten des faszinierenden Zukunftsszenarios hält sich bis zum Ende des Films. Fragen wie die obigen spielen keine Rolle im Skript von Michael Ferris und John D. Brancato, das auf dem gleichnamigen Comic basiert. Die Handlung beschränkt sich auf ein fades Whodunnit. Schade. Obendrein kann der Fall nur wenig Interesse wecken. Zu oberflächlich werden die Figuren skizziert, zu nebulös bleiben Hintergrund, Drahtzieher und potentielle Folgen der Intrige. Schade. Irgendwo war da mehr als solide SciFi-Action versteckt, aber die Macher haben nichts gefunden.

Fragen ohne Antworten: „A Serious Man“ von den Coen-Brüdern

von Harald Mühlbeyer

„A Serious Man“
USA 2009. Regie, Drehbuch, Produktion: Joel und Ethan Coen. Kamera: Roger Deakins. Musik: Carter Burwell.
Darsteller: Michael Stuhlbarg (Larry Gopnik), Sari Lennick (Judith Gobnik), Richard Kind (Onkel Arthur), Fred Melamed (Sy Ableman). Aaron Wolff (Danny Gopnik), Jessica McManus (Sarah Gobnik).
Verleih: Tobis.
Länge: 105 Minuten.
Kinostart: 21.01.2010



Reinstes Jiddisch reden sie, das Ehepaar im kleinen Häuschen irgendwo in Osteuropa, der Mann war mit dem Pferdewagen unterwegs, hat einen mitgebracht, Traitel Groschkower, ein entfernter Bekannter seiner Frau. Doch die weiß: Traitel Groschkower ist tot. Und sie weiß, wie man mit einem Dibbuk, einem bösen Geist, umgehen muss.
Dann folgt der Vorspann.

Hat diese Vorgeschichte irgendwas mit dem Rest des Films zu tun? Gut, dass Sie fragen. Erwarten Sie eine Antwort?

Es hat genausoviel damit zu tun wie der Parkplatz vor dem Büro des Hilfsrabbiners, große Fläche, ein paar Autos. Aber manchmal hilft es, ihn aus anderer, neuer Perspektive zu sehen. Wem der neue Blickwinkel auf das Gewohnte hilft? Auf jeden Fall dem Hilfsrabbi, dem der Parkplatz so schön als Gleichnis dienen kann, aus dem er Befriedigung zieht. Hat aber eher weniger zu tun mit den Problemen von Larry Gopnik.

Oder die Sache mit den Zähnen: Einem Goj sind auf seine Zähne, hintendran, hebräische Schriftzeichen eingraviert, der Zahnarzt stutzt: „Hilf mir!“ steht da, aber das wirft zu viele Fragen auf, Tora, Kabbala können nicht helfen, der Rabbi auch nicht; aber der hat eine Story für seine Seelsorgestunde. Und Larry ist wieder um einen guten Rat reicher. Und noch immer ratlos.

Denn irgendwas stimmt nicht mit seinem Leben, er versteht nicht, was los ist: Plötzlich steht die Ehe vor dem Aus, einer seiner Studenten will ihn bestechen, während dessen Vater ihm mit Rufmordklage droht, der Nachbar will ein Stück von seinem Grundstück abzwacken, und just jetzt, kurz vor seiner Verbeamtung, erreichen verleumderische anonyme Briefe die zuständige Kommission; überhaupt geht alles keinen geordneten Gang mehr. Warum nur?

Als Jude hat man’s eigentlich gut: Man ist mit Sorgen und Problemen nicht auf sich allein gestellt, weil man in langer Tradition steht, weil es viele Geschichten gibt von anderen, die ähnliches durchlitten haben, deren Schicksale eine Art Ratgeber fürs eigene Leben sind. Das bekommt Larry mal gesagt, und er tut auch alles, um Hilfe zu finden. Aber leider, da trifft dann Hiob auf Kafka, kommt er nie an den großen weisen Rabbi Marshak ran.

Immerhin weiß er eines, an das er sich halten kann; nein, nicht die Physik, die er als Professor lehrt, die sich verliert in Unschärferelation und Schrödinger-Katzen – aber die Mathematik, die gibt exakte, beweisbare Grundlagen. Oder ist sie vielleicht doch nur eine Manifestation der Wahrscheinlichkeiten? Larrys hat’s nicht leicht, doch warum nur! Er hat doch nichts getan.

Hat überhaupt jemand irgendetwas getan? Kurz: Gibt es einen Gott? Und will der ihm etwas antun?

Beziehungsweise anders gefragt: Wenn die Wahrheit sich als Lüge herausstellt, und wenn alle Freude stirbt, was dann? Dann braucht man, das weiß Jefferson-Airplane-Frontphilosophin Grace Slick in ihrem surrealistischen Kissen, somebody to love. Ist das der Weisheit letzter Schluss? Und wo liegt das Olam Haba, der Ort jenseits des Lebens? In Kanada wohl kaum.

Sohn Danny will „F-Troop“ sehen, aber die Fernsehantenne ist falsch eingestellt. Tochter Sarah will allabendlich ins „Hole“, muss sich vorher die Haare waschen, aber Onkel Arthur blockiert das Badezimmer. Klar: Er muss ja seine Talgzyste entleeren.

Hätte man je gedacht, einmal diesen Satz in einem Film zu hören: Er muss seine Talgzyste entleeren?

Larrys Frau jedenfalls will die Scheidung, noch besser: eine Gett, den jüdischen Eheauflösungsritus, um danach im Glauben nochmals eine Ehe schließen zu können. Sy Ableman ist halt in ihr Leben getreten, und die Ehe mit Larry lief ohnehin nicht so gut, sagt sie, und Sy kann Larry so gut trösten, was soll man machen, am besten sollte Larry ins „Jolly Roger“ ziehen, bis alles ausgestanden ist.

Im übrigen ist da auch noch der Schallplattenclub, dem Larry nicht entkommt; da werden monatlich die neuesten Platten geschickt, und er hat Santanas „Abraxas“ noch nicht mal angehört; soll aber trotzdem bezahlen. Naja: die können ihn ja nicht zwingen, Probe zu hören, aber ganz klar ist: wenn man nichts tut, bekommt man die Platte des Monats, als nächstes wird es „Cosmo’s Factory“ sein; die Rechnung wird einem trotzdem serviert. Und Larry hat nun mal nichts getan, also ist er was schuldig.

Keine Chance, rauszukommen aus dem Leben. Funktioniert das eigentlich, das Mentaculus, an dem Onkel Arthur arbeitet, dieses wirre Gekritzel, das eine universale Landkarte der Wahrscheinlichkeit darstellen soll?
Hat die Handlung eigentlich irgendwas mit dem Film zu tun?
Und diese Kritik: Wovon handelt sie? Doch nicht etwa vom besten Film der Coen-Brüder seit Menschengedenken?

Argentinier in Berlin - "Die Tränen meiner Mutter" auf DVD

von Ciprian David

"Die Tränen meiner Mutter"
Deutschland 2008. Regie: Alejandro Cardenas Amelio. Drehbuch: Cuini Amelio-Ortiz und Alejandro Cardenas Amelio. Kamera: Florian Schilling. Musik: ZORT. Produktion: Nicolas Grupe
Darsteller: Adrian Gössel, Rafael Ferro, Erica Rivas, Alice Dwyer
Länge: 93 Min
Verleih: Eye See Movies
DVD-Start: 27.11.2009


Alex ist auf dem Weg zum Krankenhaus, wo sein Vater auf dem Sterbebett liegt. Zum ersten Mal fährt er durch Buenos Aires. Er ist enttäuscht, er will seinen Vater nicht sehen.

Der erste Spielfilm des Regisseurs Alejandro Cardenas Amelio bringt die Geschichte der in den Achtzigern aus politischen Gründen emigrierten Argentinier auf die Leinwand und jetzt auf DVD. Mit der in Berlin wohnenden Familie von Alex als Exponent entfaltet sich vor dem Zuschauer eine durch Kinderaugen erzählte Geschichte der Migration. Sich anpassen oder versagen wird für Alex Eltern zum Entscheidenden und für Alex zum Kindheitsdrama. Während seine Mutter erfolgreich als freie Journalistin die Welt bereist, sieht Alex zu, wie sein Vater, der durch Straßenverkauf von eigenen Gemälden und Fabrikarbeit ein bisschen Geld verdient, sich immer mehr als Bild des Versagens sieht.

Kulisse für den Großteil der Handlung des Films ist eine im Stil und Farbigkeit der deutschen Filme der letzten Jahre gestaltete Fabrikhalle, wo Alex’ Familie zusammen mit anderen „Dazugestoßenen“ wohnt. Die Gemeinschaft, die eine große Familie, aber genausogut eine Filmcrew sein könnte (Kameramann, Tonfrau, Fotograf, Köchin, Maler, Regisseurin und Hauptdarsteller), nimmt durch die immer existenzialistischere Stimmung um Alex’ Vater die Konturen eines Minisystems an, in dem sich Beziehungen und Probleme verwickeln, die schließlich zur Scheidung von Alex Eltern führen.

Zwar gefällt sich der Film ein wenig in seinen Wirrungen und Verirrungen, um sich selbst einen künstlerischen Touch zu verleihen. Bestimmend aber ist einerseits die sehr leichte und dynamische Kameraführung, die eine stimmungsvolle Welt erschafft, und andererseits Alex, der Hauptcharakter (in einer besonders qualitativen und stimmungsvollen Verkörperung durch Adrian Gössel), der als Kind die Welt um sich herum erzählt. Es entsteht so eine Mischung von Märchen und Alltagsrealismus. Die Erlebnisse zu Hause, in der Schule, beim Judotraining sowie die erste Liebe sind alle umwoben von leichter Tragik und Mystik zur gleichen Zeit, die um jede Ecke lauernde Heimatlosigkeit wird durch die ad hoc erschaffene Mikroheimat in einer Fabrikhalle ersetzt. Die Heimat, die man für diese Fabrikhalle eingetauscht hat, wird durch selbstgedrehte, teils fantastische Filme kompensiert, wo man zum Beispiel als „hungernde Fliege“ sein Schicksal verarbeitet. Das Leben wird zum Spiel, die Regeln schafft man nicht selber, sondern die Umstände erzeugen sie. Das wird dem Vater zum Verhängnis, er ist nicht fähig, das Spiel mitzuspielen, er verstrickt sich stattdessen in seiner egozentrierten Heimatssucht und verlässt seine Familie.

So werden Versprechen nicht eingehalten, so wird das Märchen von Buenos Aires für Alex nie vollkommen gestaltet, so kann und will er seinem Vater nicht verzeihen. Doch das Erwachsensein ändert alles, Vater und Sohn versöhnen sich, und die Polemik des Films wird nochmal am Ende aufgenommen, diesmal als Buenos Aires ohne Vater. Die Lücke wird ergänzt, die Wunden geheilt.


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