Sushi und Spiele - Nippon Connection 2009


Zum 9. Mal lockte das Nippon Connection Filmfestival nach Frankfurt

von Dennis Vetter


Es ist wieder einmal Frühling geworden – Zeit, den alten, verrosteten Grill endlich wieder vor die Tür zu schleppen und sich auf der nächstbesten Wiese ein ungesundes, aber dafür besonders wohlschmeckend geräuchertes Mahl zuzubereiten. Dementsprechend sollte man annehmen, ein Filmfestival ausgerechnet jetzt auszurichten, hätte unabhängig von dessen Größe und Attraktivität Zuschauerzahlen im lediglich zweistelligen Bereich zur Folge. Doch weit gefehlt.
Der Festivalfrühling begann zwischen dem 15. und 19. April im Studierendenhaus auf dem Frankfurter Campus wieder mit einem Massenauflauf, denn unzählige Besucher waren bereit, ihren ersten Sonnenbrand noch ein wenig zu verschieben und sich scharenweise in die Kinosäle des japanischen Filmfestivals Nippon Connection zu verkriechen, um so ihren kulturellen Horizont zu erweitern. Die Nippon Connection hat sich seit ihrer Gründung zur Jahrtausendwende einen festen Platz in der internationalen Festivalszene erarbeitet, ist mittlerweile das weltweit größte Festival für japanischen Film überhaupt und lockte dieses Jahr zum mittlerweile neunten Mal wieder rund 16.000 Besucher sowie rund 30 Filmschaffende auf den Frankfurter Campus – und mich als begeisterten Mitarbeiter ins Team.


I. 10 Menschen – 10 Farben – 11 Filme

Dieses ungewöhnliche Motto, garniert mit einem faszinierenden Artwork (zu bestaunen im diesjährigen Trailer, waren dabei das Erste, mit dem der geneigte Cineast oder Japanfan auf dem Weg zum Festivalzentrum konfrontiert wurde. Beides irritierte und faszinierte, machte neugierig – und stand damit ganz im Zeichen dessen, was hinter den aufwändig designten, heiligen Mauern wartete. Denn dort fand sich nicht nur ein gewohnt umfangreiches Filmprogramm, das jenseits gängiger Klischees und auf sehr hohem Niveau ein authentisches Bild der vielfältigen und vitalen japanischen Kinolandschaft zu vermitteln suchte, sondern zudem eine dick gefüllte Wundertüte voller Kulturschätze, in der es fleißig zu wühlen galt. Das Markenzeichen des Festivals war bereits in den letzten Jahren vor allem die Vielfalt seines Angebots, und so konnten auch dieses Jahr wieder Workshops, Theaterperformances, Konzerte und Parties, eine spaßige Spielhölle und vieles mehr jegliche Zeitreserven zwischen den Filmen auffüllen.
Die Filme waren erneut auf drei üppig bestückte Programmschienen verteilt, Nippon Cinema umfasste vor allem Deutschland- und Europapremieren, welche im Wettbewerb um den Nippon Cinema-Award standen, und damit alle Langfilme, die auf echtem Filmmaterial gedreht wurden. Nippon Digital präsentierte wieder allerlei Video-Produktionen, genauer gesagt eine breite Palette kurzer und langer Arbeiten junger, innovativer Nachwuchsregisseure und zahlreicher Studenten, die mit geringerem Budget produziert, aber keineswegs von geringerer Qualität sind. Es ist also kaum verwunderlich, dass auch 2009 so mancher Grill angesichts der Konkurrenz von Sushi und Co. noch kalt bleiben musste.


II. Wärme

Und überhaupt: Wer hat schon das Bedürfnis, sich auf schmutzigen Wiesen in die Sonne zu setzen, wo es doch die ganze Schönheit der Welt auch auf Kinoleinwänden zu entdecken gilt – die dabei in der Regel auch noch vor bequemen, sauberen Sitzgelegenheiten und in angenehm klimatisierten Räumen positioniert sind. Einzig die Wärme der Sonnenstrahlen fehlt in den abgedunkelten Bildertempeln der Neuzeit, doch Wärme vermittelte das Nippon Connection Festival en masse, wenn auch zwischenmenschlicher und weniger UV-haltiger Art.

Einerseits durch die typische Nippon-Atmosphäre und das sympathische Team, das sich wieder aus einem bunten Haufen ehrenamtlicher Mitarbeiter rekrutierte, die das Festival jedes Jahr mit derartigem Herzblut auf die Beine stellen, dass es einem einfach warm ums Herz werden muss. Umso mehr, wenn man auch selbst mit angepackt, sich monatelang vorbereitet und dann nächtelang durchgearbeitet hat, um 5 Tage lang die Früchte seiner Arbeit zu bestaunen. Ein Festival aus dem Boden zu stampfen ist in der Tat echte Knochenarbeit, aber das Ergebnis übersteigt tatsächlich alle Erwartungen und entschädigt tausendfach für brutalsten Schlafmangel, Rückenschmerzen und Schwielen an den Händen. Als geneigter Zuschauer, zu denen ich mich bis vor einem Jahr selbst noch zählte, merkt man der Nippon Connection mehr als anderen Festivals einen gewissen Self-Made-Charakter an – und das ist auch gut so. Schlendert man durch das mit Angeboten prall gefüllte Festivalzentrum, spürt man förmlich eine gewisse Euphorie, die einfach in der Luft liegt und sich im Gesicht jedes einzelnen, vorbeihetzenden Teammitglieds spiegelt. Kleine Ecken und Kanten in den Abläufen machen das Festival stets menschlich und zeigen, dass Perfektion im Bereich der Kultur niemals so sympathisch sein kann wie Authentizität und Spontanität.

Die Atmosphäre des Festivals entsteht aber natürlich vor allem durch die Zuschauer; und die werden angelockt vom Filmprogramm. Auch in diesem Bereich spielte sich dieses Jahr Anrührendes und Bewegendes ab. Das japanische Kino der Gegenwart besticht oftmals durch einen überaus versierten, sehr präzisen bzw. subtilen Umgang mit Emotionen. Wo vor allem im US-Kino häufig der Holzhammer zum Einsatz kommt, scheinen in vielen japanischen Filmen kleine Gesten oder Andeutungen auszureichen, um damit eine genauso intensive, oft sogar noch größere Wirkung zu erzielen. Themen wie Verlust, Trauer, Tod, Depression und Einsamkeit, aber auch Liebe, Vergebung, Hoffnung und Freundschaft fanden sich nicht nur im Eröffnungsfilm TOKYO SONATA von Regiegröße Kiyoshi Kurosawa und dem Abschlussfilm ALL AROUND US (Gururi no koto) von Ryosuke Hashiguchi (die damit eine Art Rahmen um das Filmprogramm bildeten), sondern auch in einer Vielzahl weiterer, schwermütiger Dramen, die über alle Festivaltage verteilt überaus eindrucksvoll anzusehen waren.

Eine Liebesgeschichte der etwas anderen Art findet sich beispielsweise in THE KISS (Seppun) von Kunitoshi Manda. Der Film zeigt ohne Eile, wie eine junge Frau sich in einen Serienkiller verliebt, den sie lediglich aus TV-Berichten kennt, und sich fanatisch in dessen Geschichte bzw. Persönlichkeit hineinsteigert. Hirokazu Kore-Eda legte nach seinem hervorragenden NOBODY KNOWS von 2004 einen weiteren, mehrfach preisgekrönten Film vor: STILL WALKING beweist erneut das Gespür des Regisseurs für Melancholie und ist eine zutiefst anrührende Auseinandersetzung mit einer japanischen Familie.

Im Digitalprogramm fanden sich Raritäten, die hierzulande vermutlich nicht so schnell wieder zu sehen sein werden. So wussten unter anderem die stille Trennungsgeschichte GOODBYE (Hebano) von Nachwuchstalent Bunyo Kimura und die Dokumentation MENTAL (Seishin) von Kazuhiro Soda die grellen Frühlingsgefühle zärtlich zu unterdrücken und den Kinosaal zu einem schwermütigen Erlebnisraum zu machen. MENTAL dokumentiert Patienten einer kleinen, psychiatrischen Praxis, die zwischen Essensstörungen, Überarbeitung und Selbstmordwünschen eine ganz eigene Philosophie entwickelt haben. Indem sie vor der Kamera sich ganz offen mitteilen, weinen oder einfach nur schweigen, schaffen sie ein filmisches sowie emotionales Erlebnis, dass noch lange nachwirkt. Der eindrucksvolle Debütfilm GOODBYE ist ähnlich bewegend, allerdings keine Dokumentation, sondern eine präzise komponierte Ode an zwei wunderbar authentische Figuren, die sich in sorgsam ausgeleuchteten Bildkompositionen mit ihrer zerbrechenden Beziehung und scheiternden Zukunftsplänen auseinandersetzen müssen. Ohne ein Weichspüler-Happy End und völlig ohne Musikeinsatz entwickelt der Film mit seiner Digitalfilm-Optik und durch großartige Schauspieler realistisch anmutende Charaktere und kommt so den ganz großen Gefühlen weitaus näher, als man es von den meisten hier zu Lande populären Dramen gewohnt ist.


III. Humor & Spektakel punkten beim Publikum

Die herausragende Qualität der ernster angelegten Filme schien das Publikum bei der Abstimmung zum diesjährigen Publikumspreis, dem NIPPON CINEMA AWARD, nicht beeinflusst zu haben. So konnte sich der ‚Crowd-Pleaser’ DETROIT METAL CITY von Toshio Lee, der auch an japanischen Kinokassen Riesenhit war, souverän an die Spitze setzen. Der Film gehörte zwar nicht unbedingt zu den anspruchsvollsten Programmpunkten, war auf dem Festival aber zweifellos eines der skurrilsten und ideenreichsten Machwerke. Der Film erzählt die Geschichte eines etwas naiven, schrulligen Pop-Sängers, der mit seinen akustischen Balladen nur auf taube Ohren stößt, aber dafür mit seinem Alter-Ego ‚Sir Johannes Krauser II’ als Sänger einer Death-Metal Band widerwillig enorme Erfolge feiert. Natürlich bahnt sich neben dem ganzen Durcheinander nach kurzer Zeit auch noch eine Romanze an, welche alles noch ein wenig komplizierter – und natürlich unterhaltsam – macht. Auch auf Platz zwei und drei fanden sich mit OSAKA HAMLET (Osaka hamuretto) von Fujiro Mitsuishi und TALK, TALK, TALK (Shaberedomo shaberedomo) von Hideyuki Hirayama ausschließlich heiter gestimmte Streifen ein. Und auch abseits der Siegertreppe konnten neben den gelungenen Preisträgerfilmen weitere, großartige Komödien erlebt werden, die vor allem mit unkonventionellen Figuren und schrägen Kostümen punkteten.

Eine kleine Bemerkung am Rande: Die Preisverleihung wäre sicherlich anders ausgegangen, hätte sich Sion Sonos Meisterwerk LOVE EXPOSURE (Ai no mukidashi) im direkten Wettbewerb befunden. Der Ausnahmefilm, der vor allem von vielen der anwesenden Journalisten innig umarmt wurde, hatte bereits auf der Berlinale seine Deutschlandpremiere gefeiert, wurde dort mit dem CALIGARI- und dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet, und konnte am Festivalsonntag trotz seiner eindrucksvollen Länge von vier Stunden zahlreiche Besucher aus der Mittagssonne in den Kinosaal locken. Eine derart komplexe Geschichte um Perversion, Liebe, Sexualität und Gesellschaft ist in ihrer Länge und stilistischen Vielfalt kaum in Worte zu fassen, hat aber glücklicherweise den Weg in die Hände des hervorragenden Vertriebs Rapid Eye Movies gefunden und wird somit hierzulande sicherlich nicht zum letzten Mal zu sehen sein. Prädikat: besonders wertvoll.

Ähnlich bunt und abgedreht wie DETROIT METAL CITY gestaltete sich GS WONDERLAND von Nippon Connection-Dauergast Ryuichi Honda, der sich auch dieses Jahr wieder die Ehre gab. Hier kamen vor allem Musik-Fans und Anhänger von schrägem Humor auf ihre Kosten, denn der Film lässt die Zeit des japanischen Beatles-Fiebers wieder auferstehen und glänzt mit abgedrehten Outfits und einem grandiosen Soundtrack. THE TWO IN TRACKSUITS (Jaji no futari, R:Yoshihiro Nakamura) wirkt dagegen eher beschaulich, denn die alten, ausgewaschenen Trainingsanzüge, welche die Protagonisten fast den ganzen Film über tragen, können was ihren Schauwert anbelangt im direkten Vergleich mit den bunten Bühnenoutfits aus Hondas oder Lees Filmen nicht wirklich bestehen. Müssen sie aber auch nicht, denn der Film entwickelt ganz eigene Qualitäten. Hier wird vor allem Situationskomik groß geschrieben, oscarreife Dialogpassagen und konsequentes Understatement der beiden Hauptdarsteller ließen – zumindest bei mir – kein Auge trocken. Dabei begnügt sich Nakamuras Film allerdings nicht mit Oberflächlichkeiten, denn neben den zahlreichen Lachern werden hier durchaus sehr ernste Themen verhandelt, bloß eben auf erfrischend ungezwungene Art und Weise.
Last but not least sollte im Bereich der komischen Seite des diesjährigen Programms auch unbedingt PUSSY SOUP aus dem Digitalprogramm Erwähnung finden. Minoru Kawasaki, dessen Filme wohl am ehesten als eine Mischung als ‚Manga meets Monty Python’ beschrieben werden können, war in den letzten Jahren bereits mehrfach bei der Nippon Connection vertreten und hat einen enormen Filmoutput vorzuweisen, der vor Kreativität förmlich sprudelt. In seinem neusten Film erzählt er die Geschichte des Katers ‚Master’, der von seinem tyrannischen, superniedlichen Vater ‚Shogun’ in eine Karriere als Werbekater gezwungen wird und sich auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung verzweifelt gegen diesen auflehnt. Entgegen dem filmtypischen Trend zu aufwändigen Effekten verwendet Kawasaki zur Darstellung der Hauptfiguren abgedreht ausschauende, völlig bewegungsunfähige Plüschtiere, die mit trashigen Tricks zum Leben erweckt werden. Glauben kann man dies wohl nur, wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat.


IV. Geschmackssache: Animationsfilme

Während die bisher erwähnten Filme noch halbwegs kategorisierbar scheinen, ist eine klare Einordnung bei den diesjährigen Animationsfilmen weitaus schwieriger, denn sie stellten ein ganz eigene Kategorie dar. Häufig ist im japanischen Animationsfilm, der auf eine lange Geschichte zurückblicken kann und einen sehr hohen Standard entwickelt hat, eine besonders große Bilddynamik, kombiniert mit formaler und inhaltlicher Experimentierfreudigkeit zu beobachten, denn das technische Know How ist ausgereifter denn je und so sind den darstellerischen Möglichkeiten kaum Grenzen gesetzt. Bei aktuellen Vertretern des Genres kann es durchaus vorkommen, dass übersteigerte Actionexzesse und Gewaltausbrüche, philosophische Versatzstücke, hochkomplexe Handlungszusammenhänge, eine unüberschaubare Vielzahl von Charakteren und geradezu peinlich-pubertär anmutende Gags nebeneinander bestehen.

Obwohl die beiden Compilations GENIUS PARTY und GENIUS PARTY BEYOND der Goldschmiede Studio 4°C (u.a. bekannt für TEKKON KINKREET oder MINDGAME) jeweils gleich aus mehreren unzusammenhängenden Episoden bestehen, die auch noch von mehrere Regisseuren inszeniert wurden und deshalb umso weniger einen schlüssigen Gesamtzusammenhang vorweisen können, heben sie sich deutlich von manch willkürlichen Mixturen im Anime-Bereich ab. Sie versuchen erst gar nicht, Unvereinbares zu kombinieren, sondern konzentrieren sich auf das Wesentliche: beide Compilations präsentieren ein fachkundig ausgewähltes Gourmetmenü, bestehend aus mehreren kurzen Episoden, die virtuos inszeniert sowie präzise durchdacht daherkommen und somit jedem, der gute Speisen zu schätzen weiß, ein Erlebnis der besonderen Art bieten können. Hier wird visueller Exzess ohne Scheu mit überschwappendem Ideenreichtum kombiniert, und zwar derart virtuos, dass es einem schon beim Betrachten einzelner Screens das Wasser im Munde zusammentreibt. Doch wie es bei besonderen Mahlzeiten üblich ist, sind sie eben mehr als die Durchschnittskost reine Geschmackssache und werden somit entweder innig geliebt, oder nach dem ersten Kosten nicht mehr angerührt, entsprechend fielen hier auch die Publikumsreaktionen aus. Die beiden Compilations, die als Deutschlandpremieren im Wettbewerb starteten, konnten mit Mittelwerten aus großem Lob und großer Enttäuschung leider keinen der drei Top-Ränge erstürmen.
Den visuell überaus beeindruckenden Psychotrip HELLS von Yoshinobu Yamakawa ereilte ein ähnliches Schicksal, allerdings waren hier die negative Urteile ein wenig plausibler. Mit einer Laufzeit von rund zwei Stunden und einigen dramaturgischen Längen erzählt er die Geschichte des – Überraschung – Schulmädchens Rinne, das auf dem Weg zur Schule von einem Auto direkt in eine Art Höllendimension verfrachtet wird und sich nun zwischen Dämonenzicken und teuflischen Elvisimitatoren zurechtfinden muss. Der Film ist in jedem Fall einen Blick wert und stellt trotz kleiner Schwächen einen sehr erfrischenden und zum Teil grandios selbstreflexiven, atmosphärisch einzigartigen Genrebeitrag dar.


IV. Sex

Mit YARIMAN von Rei Sakamoto und PARTING PRESENT von Altmeister Mamoru Watanabe fanden sich im Hauptprogramm neben den eben genannten Beispielen auch zwei Vertreter des japanischen Erotikfilms, des Pink-Films (Pinku Eiga), dem die Nippon Connection zusammen mit dem Deutschen Filmmuseum ein aufwändige Retrospektive widmete. Das Genre ist eines der vitalsten und experimentellsten der japanischen Kinogeschichte und diente vielen heute hoch geschätzten Regisseuren wie Yojiron Takita (Oscar 2008 für DEPARTURES), Koji Wakamatsu (UNITED RED ARMY) oder Kiyoshi Kurosawa (LOFT, TOKYO SONATA) als Experimentierfeld für frühe Arbeiten und als Einstiegsmöglichkeit ins hart umkämpfte und ansonsten streng reglementierte Filmgeschäft der großen japanischen Studios. Dabei hat der Pink-Film kaum etwas mit der westlichen Vorstellung von Erotikfilmen gemein, denn bei den Filmen handelt es sich keineswegs um banale Aneinanderreihungen sinnfreier Szenen, die sich ausschließlich um halbnackte Haut drehen.
In diesem Bereich des japanischen Kinos besteht im Gegensatz zu Großproduktionen von Seiten der entsprechenden Studios her die Vorgabe lediglich darin, ein Minimum an sexuell eingefärbten Softcore-Szenen in den Filmen einzubringen – alles weitere bleibt den Regisseuren im Rahmen eines mäßigen, von Film zu Film immer gleichen Budgets völlig offen. Entsprechend dieser Freiheit wurde der seit den Sechzigern bestehende Pink-Film von zahlreichen talentierten Regisseuren sowohl als Plattform für radikale, politische Manifeste als auch für besonders kreative Experimente zu filmischen Darstellungsmöglichkeiten genutzt.
Die Retrospektive wurde moderiert und kommentiert von Jasper Sharp, Mitgründer des renommierten Internetportals Midnight Eye und Dr. Roland Domenig von der Universität Wien. Beide können als Nippon Connection-Dauergäste bezeichnet werden und machten mit ihren umfassenden Kenntnissen den Weg nach Frankfurt vor allem für Filmwissenschaftsstudenten überaus interessant.

Die ausgewählten acht Filme boten zusammen mit den routinierten und stets angenehm humorvollen Erläuterungen des dynamischen Duos, das unter anderem auch durch Insider Mamoru Watanabe ergänzt wurde, einen greifbaren Überblick über die verschiedenen Ausformungen des Genres. Es wurde anschaulich demonstriert, welche Ausprägungen sich im Pink-Film bis heute entwickelt haben und wie klassische und aktuelle Werke im enormen Output der Pink-Film-Industrie einzuordnen sind. Dabei zeigte allein die Vielfalt der Titel das breite Spektrum der gebotenen Inhalte: BLUE FILM WOMAN (1969, R:Kan Mukai), RAIGYO (1997, R: Takahisa Zeze), GUSHING PRAYER (1971, R:Masao Adachi), SECRET HOT SPRING RESORT: STARFISH AT NIGHT (1970, R: Mamoru Watanabe), ABNORMAL FAMILY: OLDER BROTHER’S BRIDE (1984, R: Masayuki Suo), S&M HUNTER (1989, R: Shuji Kataoka), NO LOVE JUICE: RUSTLING IN THE BED (1999, R: Yuji Tajiri) und TEARS OF ECSTASY (1995, R: Hiroyuki Oki). So fanden sich Ozu-Parodien, campige Geschmacklosigkeiten, experimentelles Kunstkino, linkspolitische Abhandlungen, bunte Farbexzesse, feinfühlige Dramen und vieles mehr, bloß eines kam zu kurz: Sex, den dieser interessierte die meisten Regisseure bei ihren Filmen am wenigsten.

Alles in allem ein äußerst gelungener Ausflug in die japanische Kinogeschichte. Neulingen wurde die Scheu vor einem zunächst sonderbar wirkenden, aber bei näherer Betrachtung enorm interessanten und vor allem vielschichtigen Bereich des japanischen Films genommen, und wer bereits mit dem Pink-Film vertraut war, erfuhr spannende Hintergrundinfos und hatte vor allem die seltene Gelegenheit, einige schwer zugängliche Filme auf der magischen Leinwand zu sehen. Zur weiterführenden Beschäftigung sei vor allem Jasper Sharps hervorragendes Buch „Behind the Pink Curtain“ empfohlen, das einen großartigen (und reich bebilderten!) Überblick über die Geschichte des Pinku Eiga vermitteln kann, sich dabei mit soliden Englischkenntnissen wunderbar liest und auch im Regal ein super Bild abgibt.


V. Kultur

Das Filmprogramm der Nippon Connection 2009 konnte jedem Japanbegeisterten wieder Freudentränen in die Augen treiben – und jedes Teammitglied, das aus Zeitmangel kaum Filme sehen konnte, zur Verzweiflung bringen. Doch es gab auch anderes zu entdecken.

Auf akademischer Seite fand sich neben der umfangreichen Retrospektive und verschiedenen Filmemachergesprächen vor allem wieder die alljährliche Podiumsdiskussion, diesmal ganz im Zeichen der neuen Generation weiblicher Filmemacherinnen in Japan, die mit innovativen Filmen im Programm stark vertreten waren und in Japan nach und nach das patriarchalische Regime der Filmindustrie zum Wackeln bringen. Sharon Kinsella von der University of Manchester gab – passend dazu – in einem Vortrag kluge Worte zur feministischen Filmtheorie zum Besten und betrachtete dazu Weiblichkeitsinszenierungen in der männerdominierten Kulturindustrie Japans. Der Filmwissenschaftler Marco Pellittieri reflektierte Fragen zur nationalen Identität Japans anhand von Darstellungsstrategien aktueller Animationsfilme und tat dies ebenfalls auf sehr inspirierende Art und Weise, vor allem mit üppigen Filmbeispielen.

Weniger akademisch, dafür aber nicht weniger fachkundig und dementsprechend sehr motiviert kommentierte Trashfilm-Experte, Regisseur und mittlerweile auch Hörspielmacher Jörg Buttgereit (NEKROMANTIK) mit journalistischer Verstärkung aus der Redaktion des Kultmagazins ‚Splatting Image’ einen recht eigenwilligen, japanischen Trashfilm. Zur Stärkung wurden Billigchips und Gerstensaft gereicht, ganz im Sinne von Roberto Cappellutis ehemaliger HR-Sendung ‚Late Lounge: Heimkino’, leider aber ohne dessen eigentlich geplante Anwesenheit. Auch eines der Hörspiele Buttgereits, namentlich „Sexplosion in Shinjuku“, war zusammen mit der RBB/RB-Produktion „Amaterasu in Shinjuku“ im Festivalprogramm zu hören: Ein Schwerpunkt ‚Sounds’ lud die Gäste ein, Japan akustisch zu erleben. Hier fand sich neben den Hörspielen beispielsweise auch ein Klangkonzert oder eine Performance mit japanischen Taiko-Trommeln.

Ein besonderes Erlebnis war sicherlich auch die erstmalige Live-Schaltung in eine japanische Bar, in der sich diverse Regisseure zum munteren Videochat einfanden und im Foyer des Festivalzentrums per Dolmetscher und Webcam vom Publikum befragt werden konnten. Das ganze wirkte noch ein wenig improvisiert, konnte aber als Gimmick sehr begeistern und wird nach dem diesjährigen Testlauf mit großer Wahrscheinlichkeit auch zukünftig ein Teil des Programms bleiben – dann aber mit verbesserter technischer Ausstattung.
Am Ende der langen Filmtage konnten neben der abends geöffneten und allseits beliebten Karaoke-Lounge vor allem am Freitag und Samstag fetzige Parties für zusätzliche Abwechslung sorgen. Hier gab zunächst das japanische Pop-Girlie Kumisolo begleitet von eigenen Elektrorhythmen eine Auswahl ihrer zuckersüßen, aber wohl nicht für jeden geeigneten Songs zum besten und Nippon-Routinier DJ Hito heitzte zum Höhepunkt des Festivalwochenendes zusammen mit Drag-Queen Masu, DJ Yogi und VJs von eyetrap.net eine begeisterte Menge zum Tanzen bis in den Morgengrauen an.

Selbst in dieser umfassenden Aufzählung über das diesjährigen Film- und Kulturprogramm fehlt noch einiges, was Nippon Connection zu bieten hatte. Aber keine Sorge: Für alle Neugierigen wird es auch nächstes Jahr wieder die Gelegenheit geben, zum 10. Geburtstag der Nippon Connection wieder auf einen Tee und eine Portion Sushi reinzuschauen – ich werde zumindest wieder mit von der Partie sein und freue mich schon auf ein Wiedersehen mit der ‚Nippon Connection-Familie’.

Wer noch nicht das Vergnügen hatte, kann sich online einen nicht ganz aktuellen, aber dafür wunderbar prägnanten Überblick über das alljährliche, bunte Treiben auf dem Festival verschaffen, denn unter http://www.youtube.com/watch?v=zAD4QtqjQ7c findet sich eine nette kleine Doku. Außerdem bietet natürlich die Nippon-Connection-Homepage nochmals alle Filminfos en detail und animiert zum Erforschen auf eigene Faust. Lust bekommen? Zukünftige Mitstreiter mögen sich die Adresse http://helfer.nipponconnection.de auf ihren Unterarm tätowieren, um nächstes Jahr frühzeitig erinnert zu werden und sich dann einfach bei unserer stets freundlichen Helferorganisatoren zu melden.

Terminator S.C.C.: The Sarah Connor Chronicles – Staffel 1 (Blu-ray)


von Bernd Perplies

Terminator S.C.C.: The Sarah Connor Chronicles – Staffel 1

USA 2008. Regie: David Nutter, Paul A. Edwards u. a. Darsteller: Lena Headey (Sarah Connor), Thomas Dekker (John Connor), Summer Glau (Cameron Phillips), Richard T. Jones (Agent James Ellison), Brian Austin Green (Derek Reese), Garret Dillahunt (Cromartie)
Vertrieb: Warner Home Video
Erscheinungsdatum: 27.03.2009
Länge: 392 min.

Bildformat: 1,78:1 (1080p HD)
Tonformat: Deutsch (Dolby Digital 2.0), Englisch (Dolby Digital 5.1), Französisch (Dolby Digital 5.1), Spanisch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch
Bonusmaterial: Audiokommentar zu 3 Episoden von Produzent Josh Friedman, den Schauspielern und der Crew, Die Entstehung der Chroniken: 3-teiliger Blick auf die Entstehungsgeschichte der Serie (in HD), Die 52-minütige ungeschnittene Version sowie nicht verwendete Szenen aus Episode 7 „Die Hand Gottes“, Castingbänder von Lena Headey, Thomas Dekker und Richard T. Jones, Nicht verwendete Szenen, Das Storyboard zu einer ausgewählten Szene, Die Tanzproben von Summer Glau, Verpatzte Szenen.


Die TV-Serie können Sie bequem über den Screenshot-Onlinestore bestellen: als Normal-DVD hier, als Blu-Ray hier.


Die Handlung beginnt unmittelbar dort, wo James Camerons Erfolgs-Sequel „Terminator 2: Tag der Abrechnung“ geendet hatte: auf einer Straße, die in eine ungewisse – und damit gute – Zukunft führt. Doch wie es in derlei Franchises üblich ist, waren der Sieg über den T-1000 und die Vernichtung des SkyNet entwickelnden Computerkonzerns CyberDyne Systems – beides Maßnahmen, um den zukünftigen Aufstand der Maschinen zu verhindern – natürlich letztlich furchtlos. Die Zukunft weiß sich selbst zu schützen. Und so währt das beschauliche Leben von Sarah Connor und ihrem Sohn John, die als gesuchte Verbrecher ein Dasein unter dem Radar führen, nicht lange. Denn ein neuer Terminator (nicht Arnold Schwarzenegger!) taucht auf der Bildfläche auf, mit dem Ziel, John Connor umzubringen. Glücklicherweise wird der Junge in letzter Sekunde von einem weiblichen Cyborg namens Cameron (eine Hommage an James C.) gerettet, der von seinem zukünftigen Ich umprogrammiert und zum Schutz in die Vergangenheit geschickt worden war – man kennt das ja (und beginnt sich zu fragen, wie viele „Bauern“ beide Kriegsparteien eigentlich insgesamt durch die Zeit geschickt haben, um jeweils den letzten Schachzug der Gegenseite zu kontern).

Nach diesem furiosen Action-Einstieg folgt ein buchstäblicher Zeitsprung ins Jahr 2007 (natürlich vor allem aus Budgetgründen, um im Hier und Heute drehen zu können). Doch auch diese Flucht durch die Zeit reicht nicht aus, um dem Trio Sarah, John und Cameron Ruhe vor seinen Verfolgern zu gewähren – einerseits sind nach wie vor die Maschinen hinter ihnen her, andererseits ein allzu neugieriger FBI-Agent. Und so beschließen sie wohl oder übel, einmal mehr selbst in die Offensive zu gehen und die Entwicklung der SkyNet-KI, die wieder mal droht, zu verhindern, während sie sich gleichzeitig dem Zugriff ihrer Feinde zu entziehen versuchen. Hilfe erhalten sie dabei von dem aus der Zukunft angereisten Derek Reese, dem Bruder von Sarahs Liebhaber und Johns Vater Kyle, der als letzter Überlebender eines Team aus Spezialisten übrig geblieben ist, die sich in Johns Namen eigentlich um SkyNet kümmern sollten (dummerweise trafen sie vorher auf einen der „neuen“ Triple-Eights, wie die T-888 genannt werden).

„Terminator: S.C.C.“ wurde von vielen Fans im Vorfeld sehr kritisch beäugt. Kann ein derartiges Effekte-Blockbuster-Franchise erfolgreich auf den kleinen Bildschirm übertragen werden? Und: Langweilt die stetige Wiederholung der versuchten Zerstörung SkyNets und der Kampf gegen Cyborgs nicht irgendwann? Diese Fragen können mit „Ja“ respektive „Nein“ beantwortet werden. Denn es gelingt den Machern erstaunlich gut, sich von den Explosionen auf der großen Leinwand zu emanzipieren und stattdessen die Figuren in den Vordergrund zu stellen. Lena Headey („300“) überzeugt als Frau, die zwischen dem Bemühen, einem Teenager ein normales Leben bieten zu können und eine gute Mutter zu sein, sowie dem unbeugsamen Willen, eine furchtbare Zukunft um jeden Preis aufzuhalten, ihren eigenen Weg zu finden versucht. Thomas Dekker („Heroes“) gewinnt die Sympathien der Zuschauer als ein Junge, der sein ganzes Leben auf der Flucht war und eigentlich absolut keine Lust mehr darauf hat, dass sein verdammtes Schicksal bereits vor seiner Geburt geschrieben wurde.

Den stärksten Eindruck aber hinterlässt überraschend Summer Glau, die in der Joss-Whedon-Serie „Firefly“ als debile River Tam noch eher eine Nebenrolle spielte, hier aber als Terminatrix zum Rückgrat der Serie wird. Man darf es als einen Casting-Coup sehen: Denn Glaus zu Ausdruckarmut neigendes Gesicht passt perfekt zu einer Maschine, die absolut gefühllos ihrer Programmierung folgt. Umso stärker wirken die kleinen Gesten – ein fragender Blick, ein winziges Lächeln –, diese Momente, in denen der weibliche Terminator Cameron versucht, zu verstehen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Es erzeugt eine eigenartige Atmosphäre, wenn sich eine Killermaschine jenseits allen „Onkel-Bob“-Humors des zweiten „Terminator“-Films in die Tradition eines Data aus „Star Trek The Next Generation“ stellt und für sich versucht, seine „Seele“ zu entdecken, gleichzeitig aber nach wie vor tötet, ohne nachzudenken. (Übrigens mag sich niemand wundern, warum Cameron in Episode 1 noch so menschlich wirkt, danach aber nicht mehr. Es war ein Experiment der Macher mit einem „Emotionschip“ für die nächste Generation der Terminatoren; ein Experiment, das nach Testvorführungen rasch wieder über Bord geworfen wurde.)

Die erste Staffel besteht aus schlanken neun Episoden auf drei Silberlingen, die lückenlos aneinander anschließen, sodass sich die Serie regelrecht dazu anbietet, im Heimkino in zeitnahen Blöcken genossen zu werden, anstatt im wöchentlichen Abstand im Fernsehen. Die Bildqualität der Blu-ray wirkt sehr gut und gibt sich keine Blöße, der Ton ist aus unerfindlichen Gründen auf Deutsch aber nur in Stereo abgemischt (in Englisch immerhin in 5.1 – wobei auch das für eine Blu-ray als veraltetes Tonformat gilt). Das Bonusmaterial sticht nicht durch seine Qualität hervor, ist aber ordentlich. Es gibt Audiokommentare zu drei Episoden sowie eine längere Version der Episode „Die Hand Gottes“ (wobei die eingefügten Teile unbearbeitet sind). Dazu kommt mit „Die Entstehung der Chroniken“ ein 3-teiliger Blick auf die Entstehungsgeschichte der Serie, in welchem die Macher ihren Ansatz einer „Terminator“-Serie darlegen, allerdings auch reichlich die Gelegenheit nutzen, sich und andere zu loben. Die Castingbänder von Lena Headey, Thomas Dekker und Richard T. Jones, nicht verwendete Szenen, ein kurzes Storyboard, die Tanzproben von Summer Glau und ein leider nicht wirklich lustiges Gag-Reel runden die „Specials“ der Blu-ray ab.

Fazit: Die Serie „Terminator S.C.C.“ bereichert das „Terminator“-Franchise eben dadurch, dass sie nicht versucht, die Action-Orgien der Filme schlecht (weil mit viel geringerem Budget) zu kopieren, sondern vielmehr den Fokus auf die Figuren legt. Wie weit darf man gehen, um den Untergang der Menschheit zu verhindern? Und inwieweit kann eine Maschine zum Menschen werden? Das sind die Fragen, welche die neun Folgen der ersten Serienstaffel unter anderem vorantreiben. Sehenswerte Schauspieler, clevere intermediale Querverweise und die eine oder andere augenzwinkernde Hommage vor allem an „Terminator 2“ machen „Terminator S.C.C.“ für Fans guter Science-Fiction-Unterhaltung zum (leider recht kurz währenden) Vergnügen.


Die TV-Serie können Sie bequem über den Screenshot-Onlinestore bestellen: als Normal-DVD hier, als Blu-Ray hier.

Freakstars 3000 - Christoph-Schlingensief-Edition #11

von Harald Mühlbeyer

Freakstars 3000

Deutschland 2003. Regie, Idee: Christoph Schlingensief. Kamera: Dirk Heuer und Meika Dresenkamp. Schnitt: Robert Kummer. Musik: Uwe Schenk. Produktion: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Royal Produktion und Filmgalerie 451.
Mit: Achim von Paczensky, Helga Stöwhase, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Werner Brecht, Horst Gelonneck, Axel Silber, Brigitte Kausch-Kuhlbrodt, Susanne Brederhöft, Irm Hermann, Christoph Schlingensief.
Länge: 75 Minuten.
Extras: Unveröffentlichte Szenen (30 Minuten), Biografie, Making of: Interview, Filmpremiere, Hofer Filmtage.
Sprachen: Deutsch, englische Untertitel
Code Free
PAL Farbe 4:3
Ton: Stereo
Anbieter: Filmgalerie 451.



Christoph Schlingensief bisher letzter Film „Freakstars 3000“ ist kein Spielfilm. Sondern eine filmisch ausgestaltete Dokumentation über ein Projekt Schlingensiefs an der Berliner Volksbühne. Und zugleich Teil dieses Projektes, das wahrhaft multimedial ist: eine Fernsehserie auf Viva und als Derivat ein Kinofilm, inszeniertes Theater und Beschäftigungstherapie für Behinderte. Diese mehrschienige Vermarktungsstrategie trifft genau aufs Ziel: Schlingensiefs ganz eigene Version eines TV-Castings, das statt eines deutschlandweiten Superstars den Superfreak finden soll. Selektion aus Behinderten: Dahinter scheint schon wieder Schlingensiefs Lieblingsthema, das Weiterleben nationalsozialistischer Umtriebe im bürgerlichen Gewand, auf.

Doch hauptsächlich ist Schlingensiefs Projekt eine Travestie auf Castingshows, die durch die einfache Substitution angehender hoffnungsvoller Superstars, die ja in die Elite des Prominentenhimmels gehoben werden wollen/sollen, durch die Ausgestoßenen, durch in Heimen untergebrachten Behinderten, funktioniert. Schlingensief setzt dem RTL-Superstar-Hype seine „Freakstars 3000“ entgegen. Der kalten Welt der Retortenmusik und des harten Wettbewerbs um einen Plattenvertrag, der zynischen Chuzpe, die Mechanismen künstlich geklonter Popmusik öffentlich im Fernsehen vorführen und durch multimedialen Hype zum Erfolg zu bringen, stellt Schlingensief das Casting in einem Behindertenheim gegenüber, in einem ebenfalls multimedialen Overkill. Nur mit umgekehrten Vorzeichen.

„Sehen Sie coole junge Menschen, die mit Talent und hundertprozentiger Hingabe ihren Traum von der großen Musikkarriere wahr machen“. Gemeint sind die Bewohner des Tiele-Winckler-Hauses in Berlin-Lichtenrade, „die so ganz im Vorbeisingen auf das große Problem der Nicht-Behinderten hinweisen.“ Eine Verkehrung der Umstände also: Statt Massenappeal von Bertelsmann und Springer, mit Fernsehen, Musik, „Bild“-Zeitung und Bohlens „Nichts als die Wahrheit“-Buch, der Blick auf die Minderheit, die in den Mittelpunkt gerückt wird und nun ihrerseits den Mainstream ausgrenzt. Alles Definitionssache.

Doch dabei belässt es Schlingensief nicht. Es wäre auch zu dünn, einfach den All-German-Superstars den Spiegel vorzuhalten, auf die RTL-Menschenverachtung mit verachteten Menschen zu reagieren. Eingeflochten in seinen Freakstars-Film werden auch Parodien anderer TV-Formate: Da ist „Freakmann“, der den Politikern des Landes wie Merkel oder Struck (ebenfalls von Behinderten in erstaunenswert authentischem Auftreten gespielt) auf den Leib rückt. Ähnlich im Presseclub, wo Schirrmacher- auf Uschi Glas- und Sigrid Löffler-Darsteller trifft (und ohne dass es auffallen würde spielt Brigitte Kausch eine Behinderte, die eine Nicht-Behinderte darstellt…); und immer wieder natürlich Werbung. Das heißt: Homeshopping für nützliche Haushaltsprodukte, von der Couch aus angepriesen, und Vorstellungen von CD-Compilationen berühmter Volksmusikinterpreten, die durch den Park des Behindertenheimes hampeln und deren Werke natürlich nicht im Handel erhältlich sind, sondern exklusiv per Anruf bestellt werden können, rufen Sie jetzt an!

Erstaunlich ist aber, wie Schlingensief auf einer ganz anderen, unerwarteten Ebene dem kalkulierten Erfolg der RTL-Superstar-Trommel entgegentritt. Hie die Maschinerie des TV-Events, die kalt berechnet auf eingeimpfte Hoffnungen der Kandidaten setzt und darauf, dass den Superstars keiner entkommen kann, Ehrgeiz und Ausbeutung, die zur Mainstream-Unterhaltung werden; und dort, bei Schlingensief: menschliche Wärme. Behinderte, die Freude daran haben, dass sie gefilmt werden, dass sie sich austoben dürfen, denen das Spiel Spaß macht. Und Schlingensief, der wirklich gerührt zu sein scheint: Sabrina, die es beim Casting in die zweite Runde geschafft hat, fängt an, vor übergroßer Freude zu weinen, und Schlingensief nimmt sie tröstend in den Arm und führt sie behutsam zur Pflegerin. Eine ausgesprochene Warmherzigkeit liegt in diesem Film, ein Charme, der von dem Spiel der Behinderten und von der Herzlichkeit Schlingensiefs ausgeht – das setzt den Film ab von Schlingensiefs harten Spielfilmen, aber auch vom RTL-Großkampf um die Quoten.

Und zu dieser Wärme gesellt sich die Tatsache, dass Schlingensiefs Projekt einer offensichtlich inszenierten Dramaturgie folgt. Schlingensief macht kein Hehl daraus, dass bei ihm sowieso zuerstmal alle Kandidaten in die zweite Runde kommen, dass dann aber doch ausgesiebt wird. Und dass dann die zum Zug kommen (und das heißt: zum großen Auftritt in der Volksbühne), die schon vorher mit Schlingensief in Theater- und Filmprojekten mitgewirkt haben: Kerstin Graßmann, die Merkelimitatorin und geoutete Nymphomanin, Mario Garzaner, der in „Die 120 Tage von Bottrop“ den Regisseur Sönke Buckmann gespielt hat, Achim von Paczensky, der unter anderem in Schlingensiefs „Talk 2000“-Talkshow als Heiner Müller aufgetreten ist.

Geht diese Absicht, die hinter dem Casting steckt, auf Kosten der abgewiesenen behinderten Aspiranten aus dem Tiele-Winckler-Haus? Werden die behinderten Sängerinnen und Sänger benachteiligt zugunsten von Schlingensief-Veteranen, weil sie von vornherein gar keine Chance haben auf den Auftritt, das Finale des Projekts?
Allerdings liegt die Herzlichkeit, mit der Schlingensief „seinen“ Behinderten begegnet, gar nicht im Widerspruch zu der vorgegebenen Dramaturgie seines Projektes. Denn letztere zielt vor allem auf den Inszenierungscharakter, der auch, freilich im Geheimen, offenbar RTLs „Deutschland sucht den Superstar“-Show anhaftet. Denn Schlingensief spricht offen aus, was bei RTL allenfalls heimlich vor sich geht. Waren nicht in der letzten „Superstar“-Staffel Vorwürfe laut geworden, dass die Live-Kamera auffällig häufig schon vor der Verkündung des TED-Ergebnisses den großen Verlierer / Gewinner zeigte, um sein enttäuschtes / glückliches Gesicht auch wirklich draufzuhaben? Und war nicht schon Stunden vor dem Finale und damit vor der Telefonabstimmung im RTL-Videotext der große Sieger verkündet worden? Alles Zufall, wiegelte RTL ab, ein Versehen eines kleinen Praktikanten, der eine Testseite reingestellt hat… Der große Skandal um Inszenierung und damit Täuschung der Öffentlichkeit ist weiteren „Superstar“-Staffeln vorbehalten, aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.


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Die 120 Tage von Bottrop - Christoph-Schlingensief-Edition #10

von Harald Mühlbeyer

Die 120 Tage von Bottrop - Der letzte Neue Deutsche Film
D 1997. Regie: Christoph Schlingensief. Buch: Christoph Schlingensief, Oskar Roehler. Kamera: Christoph Schlingensief. Musik: Helge Schneider. Produktion: Christoph Schlingensief, Henning Nass.
Darsteller: Irm Hermann (Irm Hermann), Mario Garzaner (Sönke Buckmann), Volker Spengler (Produzent), Margit Carstensen (Margit Carstensen), Martin Wuttke (Christoph Schlingensief), Dietrich Kuhlbrodt (Kritiker), Irmgard Freifau von Berswordt-Wallrabe (Leni Riefenstahl), Oskar Roehler (Riefenstahls Assistent), Udo Kier (Udo Kier), Christoph Schlingensief (Christoph), Helmut Berger (Helmut Berger).
Anbieter: Filmgalerie 451
Länge: 60 Minuten
Extras: Interview mit Christoph Schlingensief, Presseschau
Sprache: Deutsch, englische Untertitel
FSK: ab 12 Jahren
Codefree
PAL/Farbe und S/W
Bildformat: 4:3
Tonformat: Dolby 2.0


In Oberhausen hat alles angefangen. Hier wurde 1960 Christoph Schlingensief geboren, und hier wurde auf den Kurzfilmtagen 1962 das Manifest verfasst, das den Neuen Deutschen Film begründete. 1997 war dann alles vorbei: Christoph Schlingensief trug den kinematografischen Aufbruch selbst zu Grabe – in „Die 120 Tage von Bottrop – Der letzte Neue Deutsche Film“.

Im Fernsehen läuft die Verleihung des deutschen Filmpreises 1996, Motto: Die Nacht der Komödianten. Katja Riemann zeigt ihr Kleidchen, Veronika Ferres hält eine Rede, Götz George ballt seine Faust, und im Publikum sitzt Manfred Kanther und findet sich gut. Eine masturbatorische Gala des deutschen Films, Selbstbeweihräucherung, die nach Eigenlob stinkt, angestrengter Glamour, um die Fassade des deutschen Films schön zu schminken. Schlingensief lässt, hineingeschnitten in die Fernsehaufzeichnung der Preisverleihung, einen behinderten Regisseur namens ausgerechnet Sönke Buckmann auftreten, der einen Preis erhält für „Die Supermänner beim Totmacher“, und der mit Fassbinder-Veteranen nun ein Remake von Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ drehen darf. Der letzte Neue Deutsche Film wird das, wie der Produzent, gespielt von Volker Spengler, verkündet. Der letzte, tatsächlich: Aus kommerziellem Interesse wird ein „heißer“ Regisseur engagiert, um einen Autorenfilm zu drehen. Schon diese Tatsache beschreibt den Ausverkauf der Kunst, aus dem auteur wird wieder der réalisateur.
Film als Antikunst

Schlingensief will Film als Antikunst etablieren; zumindest agitiert er gegen die Kunst, die sich ins Kommerzielle erstreckt, und setzt dem seine Ästhetik des Hässlichen, seine Kunstfertigkeit des Dilettantischen, seine Polemik der Provokation entgegen. Er stellt gegen die Selbstbespiegelung des deutschen Kinos sich selbst in den Mittelpunkt, mit inszenierten Skandalen und demonstrativ schlechtem Geschmack. Diese Haltung ist durchaus eitel, aber sicherlich auch ironisch: In seinen „120 Tagen“ lässt er Martin Wuttke als Christoph Schlingensief auftreten, während der echte Schlingensief in Hollywood zusammen mit Udo Kier versucht, Helmut Berger für das Projekt zu gewinnen – und in manchen Szenen ist Schlingensief, der Regisseur außerhalb der Spielhandlung, mit Anweisungen an seine Schauspieler zu hören.

Wuttke als Schlingensief ist komplett wahnsinnig – aber das ist im Grunde kein Kriterium, weil die Kategorie des Normalen ohnehin nichts zählt bei Schlingensief, und in den „120 Tagen“ schon gar nicht. Alles gerät zum Absurden: Wuttkes Schlingensief läuft als Messias herum, mit weißem Gewand, Stigmata und Dornenkrone. Cast und Crew warten auf den großen Star Helmut Berger, der vielleicht wie Godot nie auftauchen wird. Margit Carstensen, die wie ein gealtertes Schulmädchen durch die Dreharbeiten stolpert, fällt mehr und mehr dem Wahnsinn anheim, der um sie her gährt. Sie stürzt sich mit angeklebtem Fassbinderschnurrbart mehrmals aus dem Fenster wie Polanski in seinem „Der Mieter“(1976).
Am Telefon hat sie vom Tod von Rainer Werner Fassbinder erfahren, und plötzlich setzt eine Art Ehrenhommage ein. Bei einem Abendessen im pasoliniesken Set wird für ihn „Ich hatt einen Kameraden gespielt“, ein musikalisches Zitat aus Schlingensiefs „100 Jahre Adolf Hitler“. Und weil man gleich dabei ist, wird auch gleich für Fassbinder- (und Schlingensief-)Veteran Alfred Edel (gestorben 1993) mitgesungen. Einerseits also eine Art Klassentreffen: Irm Herrmann, Margit Carstensen und Volker Spengler treffen am Set des Films im Film aufeinander, „die letzten Überlebenden der Fassbinderzeit“, die inzwischen auch zu den Veteranen des schlingenschiefschen Kinos gehören. Sie spielen sich selbst, wie sie einen Pasolini-Film nachinszenieren als Hommage an Fassbinder. Das ist die andere Seite: Schlingensief zeigt, im Verbund mit Co-Autor Oskar Roehler, wie diese ehrende Wiederverfilmung in kommerziellen Erwägungen gründet – und gibt allem ironischerweise den dicken Anstrich schlingensiefscher Ästhetik, schlingensiefscher Dramaturgie, schlingensiefscher Groteske.

Im Grunde sind Schlingensiefs Filme Auseinandersetzungen mit dem Zusammenspiel zwischen Kunst und Wirklichkeit; und beide Ebenen versetzt er in seinen Filmen in einen anderen, überpegelten Zustand: Das ist eines von Schlingensiefs großen Themen, die strukturelle Funktionsweise von Film, die er dann wieder lustvoll zerstört. Seine Bezugnahmen sind dabei durchaus konkret: „Mutters Maske“ (1987) ist ein parodierendes Remake von Veit Harlans Melodram „Opfergang“ (1944), im „Deutschen Kettensägenmassaker“ (1990) findet das Blutgericht nicht in Texas, sondern in Deutschlands Westen statt, wo ahnungslose Ossis verwurstet werden. „Menu total“ (1987) verwendet Versatzstücke der Ikonographie verschiedener Genres, um eine wilde Familiengeschichte von Inzest, Kannibalismus, Rache und Krieg zu erzählen.

Überpegelte Wirklichkeit


„Die 120 Tage von Bottrop“ freilich gehen einen Schritt weiter als die anderen Schlingensief-Filme. Der Titel spielt an auf die Warner Movie World in Bottrop, den Vergnügungspark rund um den Film: Film wird hier zum bloßen Entertainment-Spektakel reduziert, eine simple Simulation von Hollywood-Glamour. Ganz explizit zeigt Schlingensief in seinem Film die Entstehung eines Filmes. Und vermeidet dabei zugleich jede Eindeutigkeit: Alles sieht aus wie ein Schlingensief-Film, doch in der Fiktion führt nicht Schlingensief, sondern Sönke Buckmann Regie, der behindert ist und in österreichisch-hitlerischem Sprachduktus seinen Unsinn von sich gibt. Das Filmemachen selbst wird immer wieder als militaristisch-faschistoider Prozess beschrieben. Das Casting ist ein Morgenappell nackter männlicher Komparsen, die herumkommandiert werden; und dann nimmt Volker Spengler einen der Schwänze in den Mund. Ebenso wie in Pasolinis an de Sade angelehnter Version des Faschismus führt auch Schlingensief den Konnex zwischen Totalitarismus und Sexualität vor – heruntergebrochen auf das Filmemachen. Die Kamera in seinem fiktiven Film führt Leni Riefenstahl, die Ästhetikerin des dritten Reiches – ihr Assistent, gespielt von Oskar Roehler, ist gekleidet im Habitus von Helge Schneider, der wiederum die Musik zum Film komponiert hat.

So heißt Film im Film bei Christoph Schlingensief nicht einfach Verschachtelung der Ebenen, sondern eine Verknüpfung aller möglichen Assoziationen. Film im Film heißt auch nicht einfach selbstreferentielle Spiegelung im Film, eine (meta)thematische Beschäftigung mit einem Film in einem anderen oder mit dem Wesen des Kinos. Vielmehr begreift er die Doppelung des Films als eine weitere Drehung des Strudels, den seine Filme erzeugen, ein Strudel weit hinunter in die rudimentären Grundlagen von Kino, von Kunst an sich, die ergründet, bloßgelegt, entstellt werden.

Bei Schlingensief, und hier vor allem im „Bottrop“-Film, sind die Ebenen untrennbar ineinander verbunden, verwoben, verschweißt. In seinen Filmen nimmt er verschiedene Elemente, fügt sie unter hohem Druck zusammen, bis sie verschmelzen: Eine filmische Kernfusion, die eine Menge ungerichteter Energie und allumfassende Zerstörungskraft freisetzt. Die „größte Baustelle Europas“ am Potsdamer Platz dient als Drehort für seinen Pasolini-Film im „Bottrop“-Film, eine passende, ironisch gebrauchte Metapher: Unfertig liegt alles zerstört da, Lärm und Ödnis; und irgendwann wird daraus etwas Neues entstehen, ausgerechnet ein Musicalpalast, ein Einkaufszentrum, zwei Kino-Multiplexe. Hat Schlingensief das geahnt? Hat er auch geahnt, dass Oskar Roehler knappe zehn Jahre nach „Bottrop“ mit ausgerechnet Eichinger drehen und dass „Elementarteilchen“ im Berlinale-Wettbewerb eben am Potsdamer Platz uraufgeführt würde – der kaum mehr ist als ein Remake (oder vielleicht eine Fortschreibung) des vorherigen „Agnes und seine Brüder“ –also ebenfalls ein Ausverkauf der Kunst? So absurd, bizarr und grotesk überzeichnet Schlingensiefs Filme sind: Immer wieder werden sie doch von der Wirklichkeit eingeholt. Vielleicht also ist die Welt tatsächlich so, wie Schlingensief sie in seinen Filmen darstellt, und seine Kunst stellt sie nur da, überhöht, aber wahrheitsgemäß.


Dieser Artikel ist auch erschienen in der letzten Printausgabe von Screenshot - Texte zum Film mit dem Schwerpunktthema "Film im Film". Die Zeitung kann bestellt werden unter redaktion(a)screenshot-online.com.

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United Trash - Christoph-Schlingensief-Edition #9

von Harald Mühlbeyer

United Trash

Deutschland 1996. Regie, Kamera: Christoph Schlingensief. Buch: Christoph Schlingensief, Oskar Roehler. Schnitt: Andrea Schumacher. Musik: Levias Ruzive, Wiseman Shambare, Biber Gullatz, Eckes Maltz. Produktion: Ian Robert White.
Darsteller: Udo Kier (General Werner Brenner), Kitten Natividad (Martha Brenner), Joachim Tomaschewsky (Pater Pierre), Johnny Pfeiffer (Bodybuilder des Generals), Jones Muguse (Diktator Hassan), Thomas Chibwe (Jesus Peter Panne).
Länge: 72 Minuten.
Anbieter: Filmgalerie 451.
Extras: Interview, Kinotrailer
Superbonusprogramm: „Udo Kier – Tod eines Weltstars“ (45 Minuten)
Sprachen: Deutsch und Englisch (ohne Untertitel)
FSK: Ab 18 Jahren
Code Free
PAL Farbe
4:3
Ton: Dolby Digital 2.0


„United Trash“ ist ein Film, den Schlingensief anscheinend für sein Publikum gemacht hat. In 35mm gedreht, versehen mit erläuternden, witzigen Voice-Over-Kommentaren, enthält der Film eine (für Schlingensief-Verhältnisse) nachvollziehbare Geschichte. Vollkommener Trash, ganz klar. Genau deshalb wird im Filmtitel darauf hingewiesen, damit jeder weiß und damit jeder lustvoll erwarten kann, was auf ihn zukommt. Das ist der Unterschied zu anderen Schlingensief-Filmen: „United Trash“ ist nicht konsequent und mit voller Absicht gegen das Publikum konzipiert, sondern er richtet sich gezielt an eine bestimmte Zuschauerschicht. Der Regisseur schmeißt nicht eine geballte Ladung ins Gesicht des Zuschauers, sondern serviert seine Geschmacklosigkeiten in mundgerechten Häppchen für den, der den schlechten Geschmack goutiert.

Kurz nach dem absoluten Versagen der Vereinten Nationen bei ihrer Friedensmission in Ruanda, wo schließlich ein paar tausend Leutchen in Machetenmassakern getötet wurden, dreht Schlingensief seine Sicht der afrikanischen Verhältnisse; und der Verhältnisse in der ganzen Welt. Locker hangelt er sich an einer biblischen Erlösergeschichte um „Jesus“ Peter Panne entlang, der von seiner vollbusigen Mutter Martha (Russ-Meyer-Superhexe Kitten Natividad) zwar nicht jungfräulich, sicherlich aber außerehelich geboren wurde – ihr Mann Brenner (Udo Kier) ist UN-General in einem afrikanischen Land, und er ist stockschwul. Peterchen ist folglich schwarz, aber vielleicht ist sein Vater auch der antipäpstliche Priester Pierre, der schon lange exkommuniziert wurde und nun Peter als neuen Heiland in einer neuen Religion installieren möchte (erinnert ein bisschen an „Life of Brian“, oder?). Peter ist ein Kleinwüchsiger und hat eine ejakulierende Vagina auf dem Kopf: Die Mutter hatte ihm eine Stricknadel durch die Nase gerammt, nach der Operation entstand eine fürchterliche Spalte quer über Peters Schädel (Vater Brenner macht ein schönes Gestammel aus den Wörtern „Fratze“ und „Fotze“). Weil Peters Fotze so schön raucht und spuckt, will ihn der Diktator Hassan für sich haben: Ihm hat Brenner eine alte deutsche V2-Rakete geschenkt, mit der Hassan das weiße Haus in die Luft sprengen will. Als Antrieb nimmt er brennende Neger, aber das funktioniert nicht richtig, und deshalb kommt ihm Peter mit seiner spuckenden Spalte gerade recht, denn da ist Druck dahinter. Nur: Pater Pierre will die Rakete mit dem Peterantrieb gegen den Vatikan einsetzen.
Das ist die Geschichte, und damit alles nun vollends überhaupt nicht kompliziert wird, ist alles in einer Schrifttafel schon am Anfang des Films vorweggenommen. Denn eigentlich geht es natürlich darum, wie Schlingensief die Puppen zum Tanzen bringt. Versagen von UN-Missionen, Kolonialvergangenheit, Evangeliumsgeschichte und christliche Missionierung, Amerikahass, Schwule, Neger und Freaks in einem grotesken Reigen, angereichert durch Anspielungen unter anderem auf Oskar Matzerath und Reich-Ranitzky, Effi Briest und Tanja Blixen, und alles wird schön erklärt durch witzig-ironische Kommentare („Wer UNO heißt, der niemals auf den Teller scheißt“ – sollten diese Kommentare nachträglich auf Anweisung von Hanno Huth hinzugefügt worden sein, der als Produzent von Senator Film 100.000 Mark zugeschossen hat – und auf dessen Kappe auch die alberne Kommentarstimme in Helge Schneiders „Texas“-Film geht?).

Tatsächlich hat es bisher bei Schlingensief noch keine derartige Masse an Körperflüssigkeiten gegeben: Blut, Schweiß, Sperma, Scheiße, Schleim, Kotze und dergleichen mehr. Und erstmals nimmt Schlingensief tatsächlich Freaks zur Darstellung einer absolut verzerrten Welt: der kleinwüchsige Peter, die großbusige Kitten Natividad, ein gemischtrassiges Liliputaner-Ehepaar (er weiß, sie schwarz) mit bayrischem Dialekt, und schließlich hat er tatsächlich auch einen Albino-Neger gefunden.
Vielleicht ist es die gewollte Trashigkeit, die stilisierte Obszönität, die auf bestimmte Publikumsbedürfnisse für camp zielen, die Schlingensief im der DVD beigefügten Interview bekennen lassen, dass er den Film nicht richtig mag. Denn natürlich stimmt, was Susan Sontag zu camp anmerkt: „Reines Camp ist immer naiv. Camp, das weiß, dass es Camp ist, überzeugt in der Regel weniger.“ Unterhaltsam, wenn auch wenig erkenntnisfördernd, ist es freilich dennoch. Wobei der ganze Irrwitz des Films fast noch übertroffen wird von dem Drumherum bei den Dreharbeiten, die vom Geheimdienst von Simbabwe bedroht waren und vom deutschen Botschafter heldenhaft gerettet wurden. Schlingensief lässt sich darüber aus im Interview wie ein guter Märchenonkel, der keine bösen Gedanken kennt.

Anders hingegen kommt Schlingensiefs 45-Minuten-Film „Udo Kier – Tod eines Weltstars“ von 1994 daher, der der DVD ebenfalls als Extra beigegeben wurde. Im Auftrag des WDR sollte Schlingensief Udo Kier porträtieren, der ja in fast all seinen Filmen mitspielt. Schlingensief scheint das öffentlich-rechtliche Geld genommen zu haben, um mit all seinen Freunden einen schönen Toscana-Urlaub zu machen. Alfred Edel ist dabei, Susanne Bredehöft, Brigitte Kausch und Dietrich Kulbrodt, Freifrau Irmgard Baronin von Berswordt-Wallrabe, an der Kamera Voxi Bärenklau, und natürlich Udo Kier, um den sich alles dreht. Alle nehmen sie Teil an einem schön unsinnigen fiktionalen Dokubericht über Kiers angeblicher Todeskrankheit, der Alfred Edel als Fernsehreporter nachspüren soll, nur um festzustellen, dass Kier seine Krankheit inszeniert hat, um – ja, eigentlich ist alles nur inszeniert, um ein bisschen Spaß vor der Kamera zu haben. Und zugleich natürlich, um Udo Kier zu würdigen, der so gekonnt immer schon Trash mit Kunst verbunden hat et vice versa. Das ist Albernheit pur, zur Freude des Publikums natürlich, aber vor allem auch zum Spaß aller Beteiligten. Unsinn ohne Dreck, ohne Nazis, ohne Inzest und Ekel. Und das ist doch auch mal was Entspannendes bei Schlingensief.

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Terror 2000 - Christoph-Schlingensief-Edition #8

von Harald Mühlbeyer

Terror 2000 – Intensivstation Deutschland

Deutschland 1992. Regie: Christoph Schlingensief. Buch: Christoph Schlingensief, Oskar Roehler, Uli Hanisch. Kamera: Reinhard Köcher. Musik: Kambiz Giahi, Jacques Arr. Produktion: Christian Fürst.
Darsteller: Peter Kern (Inspektor Körn), Margit Carstensen (Margret), Susanne Bredehöft (Martina), Alfred Edel (Bössler), Artur Albrecht (Klausi), Brigitte Kausch (Pupilla), Dietrich Kuhlbrodt (Nazi-Führer), Udo Kier (Jablo).
Länge: 72 Minuten.
Anbieter: Filmgalerie 451.
Extras: Interview mit Christoph Schlingensief, Interview mit Oskar Roehler, Presseschau, Kinotrailer
Sprachen: Deutsch, englische Untertitel
FSK: Ab 18 Jahren
Code Free
PAL Farbe
4:3
Ton: Dolby Digital 2.0


Ein Sozialarbeiter und eine ganze polnische Familie sind auf dem Weg ins Asylantenheim Rassau verschwunden. Inspektor Körn und seine Assistentin Margret greifen ein: Sie fahren nach Rassau, irgendwo im Osten der frisch vereinigten Republik, um den Fall aufzuklären. Dort regieren die Neonazis: Unter der Protektion des Möbelgroßhändlers Bössler treiben sie ihr Unwesen, so dass sich Körn bald mehr als einem einfachen Entführungsfall ausgesetzt sieht…
Das hört sich an wie ein „Tatort“, der seinen hocherhobenen Zeigefinger auf die neonazistische Wunde in der ehemaligen DDR legt – und ist in Wirklichkeit ein notorischer Schlingensief-Film, das heißt: Der Film selbst ist der eiternde Entzündungsherd. Die Leinwand, auf der ein Film von Schlingensief flimmert, ist eine weitklaffende Verletzung, die all das offenbart, was im Inneren des Systems Deutschland vor sich geht.
„Terror 2000“ ist der dritte Teil von Schlingensief Deutschland-Trilogie, neben „100 Jahre Adolf Hitler“ und „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Und er blickt tief hinein in die Eingeweide dieser Republik, ja, gewährt sogar einen Blick auf ihren Antrieb, auf den Meinungspluralismus der deutschen Demokratie. Nicht nur nämlich vermischt Schlingensief in diesem Film die grassierende Ausländerfeindlichkeit in der ehemaligen DDR, die sich nach der Wiedervereinigung Bahn brach, mit einer Story der TV-Kriminalunterhaltung. Er lässt auch das Gladbecker Geiseldrama mit hineinspielen, das eine Art späte Feuertaufe der Medienrepublik Deutschland war.

Am 16. August 1988 überfielen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski in Gladbeck, Kreis Recklinghausen, eine Bank. In der Folge nahmen sie Geiseln, kaperten Fahrzeuge, fuhren auf einer irren Irrfahrt durch Deutschland: Immer begleitet nicht etwa nur von der Polizei, sondern vor allem von verschiedenen Journalisten, die live und in Farbe während der Tat von der Tat berichteten. Die Geiselnehmer verhandelten nur über die Medien, und jeder hörte zu; sie gaben Interviews, ließen Kameraleute das Innere ihres entführten Busses filmen. Ein Journalist stieg gar in ihr Fluchtauto und lotste sie aus der Kölner Innenstadt heraus (wo sie sich von einer Masse von Zuschauern hatten bewundern lassen), gegen den Preis eines Exklusivinterinterviews. Im Laufe der Geiselnahme kamen zwei Geiseln durch Schüsse der Verbrecher und ein Polizist durch einen Unfall um, eine weitere Geisel überlebte schwerverletzt.
Dieses Trauma der späten westdeutschen Republik flicht Schlingensief ein in seine Mär von Rassismus, Kampf, Gewalt, Hilflosigkeit, Vergewaltigung und deutscher Realpolitik. „Der nun folgende Film schildert einen authentischen Fall aus dem Jahre 1992. Deutschland hat sich verändert. Die Asylantenheime sind überfüllt. Die Regierung befindet sich auf dem Rückzug. Die Polizei vor Ort ist alleingelassen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist außer Kontrolle geraten und leistet offen Widerstand. […] Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen, genießen Sie mit uns in den nächsten Minuten eine Welt voller Liebe, Angst, Sexualität und Tod. Genießen Sie mit uns die Welt, in der wir leben. Gute Unterhaltung.“ So stimmt ein Sprecher auf den Film ein, unterlegt von schwarz-weißen Bildern aus Asylantenheimen.
Schlingensiefs Blick auf die Welt, in der wir leben, ist ein hochkonzentriertes Destillat. Und entsprechend überzogen, überdreht, überspannt sind seine Filme. Doch seine Analyse der Verhältnisse ist scharf und exakt: Wenige Monate nach den Dreharbeiten zu „Terror 2000“ brannte im August 1992 medienwirksam ein Asylantenheim in Rostock-Lichtenhagen, Skinheads attackierten mit Molotowcocktails, die Polizei schaute weg, und im belagerten, brennenden Asylantenheim filmte ein ZDF-Fernsehteam alles mit: Eine schlingensiefeske Situation, die in der Wirklichkeit stattfand.

In Rassau herrscht der Rassenwahn. Die Stadt ist in der Hand der Neonazis. Doch das Böse ist immer und überall: In Rassau wie in Gladbeck; in den Köpfen der Nazis, die den Hass predigen wie im Schwanz von Körn, der auf alles geil ist, was blond ist; in den Polizisten, die dem Gladbecker Geiselauto freudig hinterherwinken; im Pfarrer, der damals einer der Gangster war und jetzt seine Sexgespielinnen Wibke nennt, wie die Geisel, die er erschossen hat; in den Asylanten, die den Aufstand wagen und vergewaltigend und massakrierend durch Rassau ziehen; und in den Medien, die ohne moralischen Standpunkt ihr Mikrophon nach dem Winde drehen und mal die Nazis, mal die Asylanten feiern, je nach dem, was die Quote fordert.
Bürgermeister und Möbelgroßhändler Bössler (in amerikanischem Südstaaten-Outfit: Alfred Edel) und Priester Jablo (Udo Kier) waren die Gladbecker Geiselgangster, sind untergetaucht und haben in Rassau ein neues, rechtsnationales Leben begonnen. Doch mehr schlecht als recht können sie das Trauma ihres Verbrechens verdrängen, Wibke, immer wieder Wibke, die Geisel, die sie begehrten und die sie töteten. Phallisch stopft Jablo Pistolen in Münder (bevorzugt den eigenen), Liebe, Hass, Sex und Tod sind zu einer untrennbaren Melange geworden. Das damalige Verbrechen kehrt wieder in der allgegenwärtigen Gewalt, die in Rassau herrscht. Und die von Medien und von Polizei nur noch verstärkt wird: die Medien haben damals, im Gladbeck-Fall, ihre Unschuld verloren– oder besser: haben offenbart, dass sie nie unschuldig waren –, und sollen nun über die Lage berichten. Und Körn war damals der ermittelnde Einsatzleiter gewesen, hat versagt und steht nun wieder hilflos den Verhältnissen gegenüber.

Die Suche nach dem vermissten Sozialarbeiter und nach der Polenfamilie wird mit obskuren Mitteln angegangen. Lady Pupilla, das spiritistische Medium, findet sie zerstückelt im Sumpf, gefeiert von der Bevölkerung: Sie ist natürlich angelehnt an Uriella, die Gründerin der Sekte Fiat Lux, die vom Weltuntergang und der heilenden Wirkung ihres linksgerührten Badewassers lebt. In Müllsäcken werden die toten Polen beerdigt vom bigotten Priester, in Anwesenheit des verkrüppelten Innenministers. Der geht auf Krücken und trägt den Zyankali-Ring von Goebbels; 1992 war schon einmal Wolfgang Schäuble, auch damals im Rollstuhl, Innenminister von Deutschland… Mit seinen Krücken stößt der Minister einen Rollstuhlfahrer zur Seite, wirft einen schäbigen Kranz in das Erdloch, das als Grab fungiert, und verweigert der Polizei jegliche Unterstützung im Kampf gegen die Neonazis.

„Terror 2000“ ist die erste Zusammenarbeit zwischen Christoph Schlingensief und Oskar Roehler, eine Zusammenarbeit, die Schlingensief im Interview auf der „United Trash“-DVD als Koprolalie bezeichnete, als das zwanghafte Ausstoßen unanständiger Wörter. Die die beiden dann zu einem Film zusammenklamüsern. Im Interview zu „Terror 2000“ schildert Schlingensief, wie der Film als Konglomerat von Themen und Ansichten (die sich gerne auch widersprechen dürfen) dazu führte, dass verschiedene Interessengruppen diesen Hass-Film ächteten: Er sei faschistisch, frauenfeindlich, staatsfeindlich, schwulenfeindlich, behindertenfeindlich – es gab sogar einen Säureanschlag auf die Filmrolle in einem Berliner Kino. Dabei bildet „Terror 2000“ nur gerecht nach dem Gießkannenprinzip den Hass und das moralische Vakuum ab, die die Gesellschaftsschichten durchdringen. Er lässt keine Instanz ungeschoren, schon gar nicht die Medien, die als „vierte Gewalt“ eigentlich das System zu korrigieren hätten.
Neben der ablehnenden Rezeptionshaltung gegen den Film dokumentiert das Interview auch offen Schlingensiefs Eitelkeit, wenn er sich darüber mokiert, dass „Terror 2000“ nicht wie seine anderen Filme im Forum der Berlinale hat laufen dürfen, weil plötzlich er, so Schlingensief, für alles Böse in der Welt verantwortlich war. „Der Film kann aber auch Spaß machen“, meint er, „nicht im Sinne von Ablachen, aber der kann Spaß machen im Sinne von – er gibt einem mal irgendwie das Gefühl von einer Verunsicherung, dass das tatsächlich auch stimmen könnte, was man da in einer überhöhten Form sieht.“

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Das deutsche Kettensägen-Massaker - Christoph-Schlingensief-Edition #7

von Harald Mühlbeyer

Das deutsche Kettensägenmassaker – Die erste Stunde der Wiedervereinigung

Deutschland 1990. Regie, Buch, Produktion: Christoph Schlingensief. Kamera: Christoph Schlingensief, Voxi Bärenklau. Musik: Jacques Arr.
Darsteller: Karina Fallenstein (Clara), Susanne Bredehöft (ihr Mann / Margit), Brigitte Kausch (Brigitte), Alfred Edel (Alfred), Dietrich Kuhlbrodt (Dietrich), Volker Spengler (Hank), Artur Albrecht (Artur), Udo Kier (Jonny).
Länge: 60 Minuten.
Anbieter: Filmgalerie 451.
Extras: Interview, Kinotrailer
Untertitel: Englisch
FSK: Ab 16 Jahren
Code Free
PAL Farbe
4:3
Ton: lautes Mono


Am Anfang ist da das Archivmaterial vom Rausch der deutschen Wiedervereinigung, all die Granden der Bonner Republik stehen auf einem Podium, die wirklichen Heavies: Kohl, Brandt, Genscher, Lafontaine. Und Richard von Weizsäcker, der eine flammende Rede hält – und dann, abgewandt, aber noch immer ins Mikrophon ein „Jetzt muss die Nationalhymne kommen“ murmelt. Ein Satz, der das ganze Pathos, die ganze hochgeschichtliche Atmosphäre als gestellt, als falsch, als vollkommen künstlich entlarvt. Ein ganzes Volk im Taumel, Fahnen, das Brandenburger Tor, das Lied der Deutschen: Ein Fall für Schlingensief. Und Schlingensief greift ein.

Er arrangiert eine Zwangsheirat zwischen dem politischen Einheitsspektakel und Tobe Hoopers „The Texas Chain Saw Massacre“, dem Horror-Klassiker von 1974. Er erzählt von Clara, die in den Westen kommt und dort, wie so viele andere Ossis vor ihr, zu Wurst verarbeitet werden soll. Der Schauplatz ist ein verlassenes Industriegelände bei Duisburg: Der Verfall des Kapitalismus, der hier ins Extreme verzerrt wird, ist damit schon angedeutet. Ein Kapitalismus, der die Menschen durch den Wolf dreht, ein schlingender Moloch, für den der Einzelne nur Kanonenfutter ist.
Während bei Hooper normale Teenager mit dem unbegreiflichem Horror konfrontiert werden, mit mörderischem Wahnsinn, sind bei Schlingensief alle einheitlich verrückt: irre, rasende, delirierende Typen, die aufeinandertreffen: Nicht Normalität und Wahnsinn, sondern Wahnsinn und Wahnsinn. So hintergeht Schlingensief trotz Splatter-Effekte jeden Horror, jede Spannung, jede Dramaturgie. Er lässt seine Figuren (gespielt von den üblichen Verdächtigen) grölen und schreien und sich als Geistesgestörte gebärden; jeder Identifikation mit einem der Charaktere ist somit von vornherein der Wind aus den Segeln genommen.

Hoopers Hillbilly-Kannibalen haben bei Schlingensief mit Wahn und Blutrausch die ganze Welt infiziert. Und sie haben auch das Medium Film nicht ungeschoren gelassen.
Bewusst dilettantisch legt Schlingensief seine Kinematographie an, lässt alles um zwei Grad schlechter aussehen als nötig, lässt alles um fünf Grad irrsinniger werden als möglich. Und schafft damit nicht zuletzt durch die Verweigerung von konventioneller filmischer Form und Stringenz – wie sie ja gerade im spannungsheischenden Horrorthriller geradezu unumgänglich ist – die Parodie eines ganzen Filmgenres. Sequenzen aus dem „Texas Chain Saw Massacre“ stellt er in vollkommen verzerrter Weise nach, übernimmt einiges aus Hitchcocks „Psycho“ – und verwurstet alles zu einer seltsamen Sülze mit einer Menge Restestückchen.

Aber im Vordergrund steht natürlich der politische Einheitsprozess, dem Schlingensief hier filmisch den Garaus macht. Auf dem Dachboden hockt das Skelett vom Opa inkl. Stahlhelm, und Alfred Edel hält ihn á la Norman Bates lebendig, nicht nur in der Erinnerung, sondern auch, indem er ihn mit Fistelstimme Befehle erteilen lässt. Susanne Bredehöft ist eine Kampflesbe, die es auf Claras Ossi-Fleisch auf ganze andere Weise abgesehen hat als der Rest der Kannibalenbande. Claras Geliebter Artur, der schon eine Weile im Westen ist, ist bereits vom Softie zum geilen Hengst mutiert. Offene Grenzen bedeuten offene Moral, eine Vergewaltigung Claras unter Betonstelen wird nur durch Volker Spengler (in Regenmantel und Stahlhelm) verhindert, der ihm mit einem Stein den Schädel einschlägt. Spengler als Hank ist Leatherface nachempfunden, seine hirnlose Gewalttätigkeit ist die Frucht einer inzestuösen Liebe. Seine Blutsverwandten (und teilweise eben auch Eltern), die den Schlachthof betreiben, sind auf ihre wahnsinnige Art planvoller zu Gange, sie locken die Trabis in die Falle, treiben die Insassen vor die Kettensäge, in die Wurstküche. Und Udo Kier als Jonny taucht auch mal auf, zündet sich die Haare an und hackt sich die Hand ab, um sich mit dem blutigen Stumpf zu bekreuzigen. „Jonny brehennt, Jonny brehennt!“ – „Mensch, jetzt mach nicht so nen Scheiß.“ Wenn der Wahnsinn allgegenwärtig ist, wird er zur Normalität. Und jede Zurechnungsfähigkeit ist verloren im Chaos der Welt.
Einer Gesellschaft der Degenerierten, der Pervertierten setzt Schlingensief sein filmisches Denkmal, oder besser: Mahnmal. Ein Mahnmal der Wiedervereinigung, kurz nach dem 3. Oktober 1990 gedreht, schrill und laut – und von heute aus betrachtet durchaus wahr, denn Schlingensiefs blühende Landschaften bestehen aus fleischfressenden Pflanzen.

Doch es ist auch nicht einfach eine kritisch-persiflierende Parabel auf den Kapitalismus. Am Anfang in Leipzig bringt Clara ihren Mann um, der nach Hause kommt und geil ist, weil er vom neuen Westchef drei Mark Gehalt bekommt. Er pinkelt in die Wanne und will sie besteigen, und sie sticht ihn ab. Chauvinismus gibt es auch in der DDR, ebenso wie blutige Rache: Nicht der Westen macht aus dem Menschen einen Wolf unter Wölfen. Das ist vielmehr in seiner Natur grundsätzlich angelegt. Clara killt ihren Mann – nicht etwa einfach wegen dessen männlicher Gewalt, sondern auch, das wird sich später erweisen, weil im Westen ihr Liebhaber Artur auf sie wartet. Und dass es Schlingensief nicht um einfache Genderproblematik geht, zeigt sich schon darin, dass Claras Mann von einer Frau gespielt wird, von Susanne Bredehöft, die später in einer anderen Rolle als Margit mit Clara einen tödlichen Lesbenfick durchzieht.
Ein pervertierter Freiheitsbegriff durchzieht den Film, Claras Freiheit von der Ehe erficht sie mit dem Messer, sie fährt in den freien Westen, wo die Metzger warten. Dazwischen, an der ehemaligen Grenze, halten ein paar durchgeknallte Vopos (darunter eine ganz ausgeflippte Irm Hermann, eine weitere Fassbinder-Veteranin in Schlingensiefs Sammlung) die Schranken nieder: Zwar wissen sie, dass die Mauer gefallen ist, aber sie haben ja sonst nichts zu tun. Am Ende des Films singt eine zerstückelte Brigitte Kausch, in ihrem eigenen Gedärm liegend, „Die Gedanken sind frei“.

Im Grunde ist der Film, wie fast alles, was Schlingensief macht, Nonsens, der nicht als Witz erzählt wird. Gegen Ende wird der mehrmals zerschlagene und zerstückelte Artur sich die Make-Up-Fetzen vom Gesicht reißen und meckern: Ich mach nicht mehr mit! Ein solcher Bruch mit dem Film ist der offenste Gag im Film, ein Witz, den der Zuschauer als Witz erkennt. Aber andererseits: Brigitte laut schreiend ins Telefon: „Margit? Wir haben zu tun, mach deine Scheißarbeit alleine!“ Alfred, der neben ihr steht, auch laut: „Wer war’s?“ Brigitte, noch immer laut: „Margit! Sie soll ihre Scheißarbeit alleine machen!“ Derartige Dialoge über völlig fehllaufende Kommunikation gibt es einige im „Kettensägenmassaker“, übernommen vielleicht aus der Fernseh-Dutzendware, völlig sinnfrei, völlig überdreht. Nur, dass Schlingensief sie nicht pointiert vorsetzt, keine witzige Spannung zwischen den Film und den Zuschauer bringt, vielmehr den Wahnsinn direkt und unverstellt auf die Leinwand loslässt. „Wenn alles möglich ist, ist es unwichtig, ob etwas richtig oder falsch ist“, heißt es im Film, beziehungsweise abgewandelt: „In einer Zeit, in der alles wurscht ist, ist es egal, ob etwas gut oder schlecht ist.“
Im (interessanterweise mit Bibelverweisen gespickten) Interview, das auf der DVD dem Film beigegeben ist, vergleicht Schlingensief seinen Film mit einer Zwiebel. Hinter der schreienden Oberfläche fänden sich andere Bedeutungen, andere Ebenen, die man eine nach der anderen abschälen könne, bis am Ende die Angst als innerer Kern herauskomme.
Vielleicht hat Schlingensief recht mit seiner Zwiebelmetapher, und vielleicht ist sie richtiger, als er ahnt: Wenn man eine Zwiebel immer weiter schält, wenn man immer tiefer dringt: Dann muss man erstens immer mehr heulen; und zweitens findet man innen keinen Kern, es bleibt einfach nichts übrig außer Zwiebelschalen.
Und ich meine, dass Schlingensief mit seinem Kino genau in diese Leerstelle im Inneren der Zwiebel, des Kinos, der Gesellschaft vordringen will.


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100 Jahre Adolf Hitler - Christoph-Schlingensief-Edition #6

von Harald Mühlbeyer

100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker
Deutschland 1989. Regie, Buch: Christoph Schlingensief. Kamera: Voxi Bärenklau. Musik: Tom Dokoupil. Produktion: Christoph Schlingensief, Christian Fürst, Ruth Bamberg
Darsteller: Udo Kier (Hitler), Alfred Edel (Göring), Brigitte Kausch (Eva Braun), Dietrich Kuhlbrodt (Goebbels), Andreas Kunze (Bormann), Volker Spengler (Fegelein), Marie-Lou Sellem (Tochter Goebbels). Länge: 55 Minuten. Anbieter: Filmgalerie 451.
Extras: Interview.
Untertitel: Englisch
Code Free
PAL s/w
4:3
Ton: lautes Mono

Ich hatt' einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
|: In gleichem Schritt und Tritt. :|


Alte Kameraden finden sich im Führerbunker wieder, eingesperrt für die Ewigkeit, die nur noch eine Stunde dauern wird. Schlingensief blickt in das Herz des untergehenden Dritten Reiches, und er findet dort nur Verrückte vor. Eine besondere Art der Frontkameradschaft, alte Weggefährten, die sich nach immerhin fast tausend Jahren gehörig auf den Sack gehen.

In sechzehn Stunden hat Schlingensief den Film gedreht, eine Kamera, ein Handscheinwerfer, ein Bunker, dessen Dunkelheit kaum ausgeleuchtet ist. Inszeniertes Chaos in beengtem Raum, Witz und Horror vereinigen sich zu einem absurden Mikrokosmos, eine Blase, die ganz abgeschlossen ist von Außen. Doch immer wieder auch zerstückelt Schlingensief diese Blase, zeigt einen Fernsehbildschirm, auf dem Wim Wenders bei der Preisverleihung in Cannes verkündet, die Bilder der Welt verbessern zu wollen, um damit die Welt zu verbessern. Und Franz Josef Strauß erklärt, warum die Deutschen so toll sind, gerade auch vor 1945, als sie all das aushalten mussten.

Jedes Einfinden in die Filmwelt wird verhindert, wenn Schlingensief die Filmklappe nicht wegschneidet oder wenn immer wieder das Mikrophon zu sehen ist. So wird im Formalen die Befremdung verstärk, wo sich doch schon inhaltlich eine irre Farce entwickelt. Im ersten Bild, nach der ersten Klappe, spielt Hitler mit einer Agfa-Videokassettenhülle, um sich dann an die Wand zu werfen, wo er eine Europakarte umarmt: eine erbärmliche Geste, die Chaplins Globus-Tanz ad absurdum führt: Hitler ist kein Ästhet, der Ballett tanzt, sondern einer, der seinen Arsch in die Farbschüssel hängt und einen Abdruck an die Wand produziert: Das ist die Kunst der Postkartenmalers Hitler.

Eine Kugel kam geflogen:
Gilt's mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt vor meinen Füßen
|: Als wär's ein Stück von mir:|


Neun Menschen sind eingeschlossen in einer klaustrophobischen WG, auf Gedeih und Verderb – eher auf Verderb. Im dumpfen Bunker sieht man das Ende einer dekadenten Gesellschaft, vollkommen degeneriert und pervertiert. Zurückgeführt auf die einfachsten Triebe: Fressen, Ficken, Intrigieren. Und dabei wird auch am 30. April noch Weihnachten gefeiert, gerne erklingt „Leise rieselt der Schnee“. „Ich hatt einen Kameraden“ bläst das Orchester auf dem Soundtrack, Stöhnen und Schreien und unartikulierte Geräusche kommen aus dem Mündern der Eingeschlossenen.

Das Fest von Liebe und Familie und Gemeinschaft wird beschworen in einer aussichtslos über dem Abgrund schwebenden Gesellschaft, die sich selbst zersetzt. Das Außen, das untergehende Deutschland, das Schicksal der Opfer, die heranrückenden Russen sind aus dem Film ausgeschlossen. Wie durch eine Lupe wird auf die lächerliche, verrückte Naziführungselite geblickt, nur, dass die zuvor schon vom Brennglas verbrutzelt wurde. Schlingensief lässt das Tabu der künstlerischen Hitler-Darstellung platzen, indem er den Führer mit heruntergelassenen Hosen dastehen lässt, indem er die Nazi-Elite sprichwörtlich nackt und bloß darstellt und sie als erbärmliche Würstchen zeigt, die in ihrem eigenen Sud kochen. (Der Metaphernsalat in diesen Sätzen mag einen Eindruck von Schlingensiefs Methode geben, die darauf abzielt, möglichst viele Referenzpunkte auf kleinstem Raum zusammenzupressen, um daraus eine Gemengelage von (scheinbarer) Bedeutung zu erhalten.)

Keine ästhetischen Bilder, keine Nachvollziehbarkeit von Handlung und Psychologie wie bei Eichingers/Hirschbiegels „Untergang“ . Keine Vermenschlichung der Nazis, die wenn auch keine Sympathie, dann doch Verständnis heischt. Sondern eine groteske Darbietung grotesker Gestalten. Interessanterweise scheint nun Dani Levy, der Regisseur anspruchsvollen Erzählkinos, als Gegenschlag zum „Untergang“ auf das Schlingensief-Konzept zurückzukommen, indem er in seinem „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“ den alten Schlingensief-Weggefährten Helge Schneider den Gröfaz mimen lässt.
Vollkommen verzerrt und entstellt sind Schlingensiefs Figuren keine historischen Personen mehr, sondern nur noch Karikaturen von Karikaturen, die nichts mehr mit der geschichtlichen Wirklichkeit zu tun haben. Bei Schlingensief herrscht reiner Exzess, der eher nominell mit den Nazigranden zu tun hat.


Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad'.
"Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew'gen Leben
|: Mein guter Kamerad!" :|


Vielmehr zeigt er beispielhaft eine Gesellschaft, die sich selbst zerstört, die an sich selbst zugrunde geht. Göring als Ehrgeizling will unbedingt Reichskanzler werden, Goebbels vertreibt sich die Zeit mit seiner Tochter, beide zusammen mit Bormann hassen Fegelein, den Verräter mit Tourette-Syndrom („Ficken!“), der mit einer Prostituierten gesehen worden sein soll – der in Wirklichkeit eine Affäre mit Eva Braun hat. Die wiederum klebt sich nach Hitlers Tod ein Bärtchen an und heiratet Frau Goebbels; wer den Bart hat, hat die Führungsmacht.

Ein für allemal macht Schlingensief Schluss mit jeder beschönigenden Darstellung irgendeines Aspektes des Dritten Reiches – und seien es eingängige Bilder wie in Eichingers Kino. Und er spricht dabei keine Moral aus: Die Botschaft steckt im Nihilismus des Films.
Gleichzeitig abstrahiert Schlingensief seine Figuren, nimmt ihnen alles Menschliche und macht sie damit zu Chiffren von Verfall und Verkommenheit.

Er zitiert Wim Wenders’ naiven Traum von einer besseren Welt und zeigt, wie Franz Josef Strauß zwar nicht vom Herrenmenschen redet, ihn aber ziemlich laut denkt, während gleichzeitig eine von der sterbenden Frau Goebbels geborene Stoffpuppe als Moses im Fluss ausgesetzt wird. Damit beschreibt Schlingensief eine falsche Idylle im Schrecken, verbindet Gutmenschentum mit geistigem Durchfall und impliziert: Der Schoß ist furchtbar, aus dem das kroch.


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Mutters Maske - Christoph-Schlingensief-Edition #5

von Harald Mühlbeyer

Mutters Maske
Deutschland 1987/88. Regie, Produktion, Kamera: Christoph Schlingensief. Drehbuch: Matthias Colli, Christoph Schlingensief. Musik: Helge Schneider & Menu Total. Darsteller: Karl-Friedrich Mews (Willy von Mühlenbeck), Helge Schneider (Martin von Mühlenbeck), Brigitte Kausch (Mutter), Susanne Bredehöft (Els), Dieter Lersch (Julien, der Diener), Volker Bertzky (Sanitätsrat), Udo Kier (Seidler). Länge: 85 Minuten. Anbieter: Filmgalerie 451.

Extras: Interview, Presseschau.
Code Free
PAL Farbe
4:3
Dolby Digital 2.0


Es gibt ein 20minütiges Interview über „Mutters Maske“, das Alexander Kluge einmal mit Schlingensief geführt hat, in sorgfältig Veit Harlans „Opfergang“ (1944) mit Schlingensiefs Remake von 1987 verglichen wird, in dem auf die Figurenkonstellationen der beiden Filme, auf die Atmosphäre und die Stimmung eingegangen wird. In dem Schlingensief bemerkenswerte Imitationen von Helge Schneiders schneidend abgehackter Sprache liefert, in dem Schlingensief selbst einmal sprachlos ist, als sich Kluge über die ideologischen Implikationen von Veit Harlans Melodram im Kontext der Endzeit des Dritten Reiches auslässt.
Leider wurde versäumt, dieses Interview (das einmal auf dem dctp-Sendeplatz nach Mitternacht auf Vox gesendet wurde) ins Bonusmaterial der DVD aufzunehmen, dabei wäre es eine schöne Beigabe zu dem Monolog, den Schlingensief in dem enthaltenen Interview zu „Mutters Maske“ hält, ein erweiterter Ausschnitt aus dem schon auf einer anderen DVD herausgegebenen Interviewfilm. Die beiden Interviews würden sich gut ergänzen: einmal, mit Kluge, als kluge Aufarbeitung im gegenseitigen Gespräch, das andere Mal als Deutungsversuch aus Schlingensiefs Sicht, versetzt mit Anekdoten und mit einer Aufzählung von Einflüssen auf seinen Film: Harlan, Fassbinder, TV-Soaps.

Das Fehlen des Kluge-Interviews ist aber freilich der einzige Mangel an der DVD und dem Film. Die Attraktion ist natürlich Helge Schneider, der den bösen Bruder spielt in wirklich widerwärtiger Weise. Neben Nihil Baxter, dem Verbrecher aus Einsamkeit, ist Martin von Mühlenbeck Schneiders wahrscheinlich beste Rolle bisher; und „Mutters Maske“ hätte das Zeug zu einem ähnlichen Status wie Werner Nekes’ in Helges Fankreisen verehrtem „Johnny Flash“. In knapper, kantiger Sprache beherrscht Schneider seine Figur, und die Figur beherrscht den Film. Martin von Mühlenbeck, von einer undurchsichtigen Bosheit durchdrungen, lässt die Puppen tanzen, er ist das Herz der Handlung und, obwohl nur Nebendarsteller, der Mittelpunkt des Films.
Vermutlich hat Schneider aus diesem Film – ebenso wie von Nekes – viel gelernt für das eigene Filmschaffen. Wie sich allein aus Dialogen und der Art, wie sie vorgetragen werden, groteske Brechungen erzielen lassen, die, von den Figuren völlig ernstgemeint, den Film in künstliche, abstrakte Sphären aufsteigen lassen, um durch die Hintertür einen ganz anderen Diskurs zu eröffnen: Über das Verhältnis von künstlerischer Sprache zur Wirklichkeit, über die (fehlende) Bereitschaft Sprechender, etwas zu sagen, über die Problematik menschlicher Kommunikationsfähigkeit. Aber auch: Wie sich ein Film selbst aufbrechen lässt, um sein Inneres, sein Skelett freizulegen (das oft genug nur von einer Hohlform umschlossen ist).
Im Fall von „Mutters Maske“ wird der Film erzählt von Julien, dem Diener der von Mühlenbecks, der sich immer wieder dazwischenschaltet mit Kommentaren, mal an einem türkischen Imbiss stehend, mal in der Badewanne liegend – ist hier nicht ein Zusammenhang erkennbar zu den Einschüben von Szenen mit Kommissar 00Schneider in Schneiders „Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem“ aus der, wie er es nennt, „Twilight Zone“, einem anderen Ort zu einer anderen Zeit im Universum, die eine Parallelwelt öffnen, die rein gar nichts mit der eigentlichen Handlung um Doc Snyder zu tun hat – Szenen, die die Westernparodie auflösen und zersetzen – und die im Übrigen unter Co-Regie und Kameraführung von Christoph Schlingensief im Nachdreh entstanden sind.

Schlingensief arbeitet sich ab an Veit Harlans „Opfergang“, einem Melodram von 1944, das eine durchgängig morbide Atmosphäre aufweist, in dem Tod als Erlösung, nicht als Qual, sondern nachgerade als Symbol für die überirdische Liebe erscheint. Schlingensief erweitert die Dreierkonstellation des Originalfilmes aus Albrecht Froben (Carl Raddatz), seiner Ehefrau und der todkranken Nachbarin Äls (Kristina Söderbaum), in die er sich verliebt, zu einem Quartett. Nun sind es zwei Brüder, Willy, der von einer weiten Reise zurückkommt, und Martin, der inzwischen die Familie führt, die Mutter, die ziemlich verrückt ist (und von Martin verrückt gemacht wird) und die kranke Nachbarin Els (deren Name wie Aids ausgesprochen wird, das war eine Regieanweisung Schlingensiefs).
Wieder also arbeiten sich in einem Schlingensief-Film die Kinder an den Eltern ab – Willy verehrt die Mutter und will sie vor Martin beschützen, Martin, der „Nachgeborene“, spielt ihr gerne einmal als Theaterszene mit den Hausangestellten zusammen den Tod ihres Ehemannes vor.
Els, die Kranke, wird von Willy umworben; Martin, gerade durch das Verbot, treibt ihn in ihre Arme, er hat, wie Schlingensief es interpretiert, ein Kind mit ihr und will, dass sich auch sein Bruder an ihrer tödlichen Seuche ansteckt. Andererseits wäre es aber auch möglich – und weitaus abgründiger – wenn Martin und der Sanitätsrat, der auf seiner Seite steht, recht hätten mit ihren Warnungen Martin gegenüber vor der Seuche der Els und Els gegenüber davor, ihre Gesundheit restlos aufs Spiel zu setzen. Auch diese Sichtweise steckt im Film, und sie lässt Willy, den „Guten“, als einen Verblendeten erscheinen, der die Realität nicht sehen will, während Martin, der „Böse“, nur das Beste für alle will. Ist es Bosheit, Eifersucht oder einfach nur die Vernunft, die Martin so böse erscheinen lässt?

„Mutters Maske“ ist Schlingensiefs publikumsaffinester Film, denn hinter den Brechungen ist natürlich noch das Erzählkino Veit Harlans sichtbar. Ganze Szenen, komplette Dialoge wurden übernommen und dann ins parodistische übersteigert – ein Nietzsche-Gedicht wird zur Rezitation eines Poems über den „frohen Toten“, wenn Willy das Fenster aufreißt, um Lebensfreude in die todeslastige Stimmung zu bringen, herrscht draußen trübes und windiges Wetter statt strahlender Sonnenschein, und wenn Els mit Willy ausreitet, dann nicht auf stolzen Pferden, sondern auf mickrigen Ponys; und Els spricht ihren Schimmel mit „Brauner“ an.
Es ist dies der Film von Schlingensief, der am ehesten zu Helge Schneiders Filmen hin tendiert – die freilich erst Jahre später, wiederum unter Mitwirkung Schlingensiefs, entstehen werden. „Mutters Maske“ ist der künstlerische Knotenpunkt zwischen den beiden Filmemachern, eine Hinwendung Schlingensiefs zur Nonsens-Groteske späterer schneiderscher Machart; und zugleich eine Abrechnung mit dem Erzählkino, indem es überstrapaziert wird, und ein Drama um Bruderrivalität und inzestuöse Mutterbindung.

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Egomania - Christoph-Schlingensief-Edition #4

von Harald Mühlbeyer

Egomania – Insel ohne Hoffung
Deutschland 1986. Regie, Buch: Christoph Schlingensief. Kamera: Dominikus Probst. Musik: Helge Schneider, Tom Dokoupil, Christoph Schlingensief. Produktion: Wolfgang Schulte. Darsteller: Udo Kier (Baron), Tilda Swinton (Sally), Udo Fellensiek (William), Anna Fechter (Ria), Volker Bertzky (Anatol), Dietrich Kuhlbrodt (Rechtsgelehrter). Extras: Interview, Presseschau. Länge: 84 Minuten. Anbieter: Filmgalerie 451

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PAL Farbe
4:3
Dolby Digital 2.0

Schlingensief muss mit seinen Filmen nicht in der Darstellung von Ekel verbleiben: Nach „Menu Total“ drehte er auf der Nordsee-Hallig Langeneß einen stilisierten, mythischen, durchkomponierten, apokalyptischen Aphorismenfilm, ein Eifersuchtsdrama, die Zustandsbeschreibung einer von Egoismen geprägten Gesellschaft. Hexen wie aus „Macbeth“, Bilder wie von Caspar David Friedrich, dazwischen Udo Kier als Baron und Tilda Swinton als die Schöne. Und eine Menge symbolischer Bilder, die Kier mit dem Teufel konnotieren, wo Menschen von Ziegelsteinen erschlagen werden und ein Schiffwrack auf dem Trockenen liegt, eine Orgie wird darauf gefeiert. Volker Bertzky, mit langem zauseligem Bart, wird durch Eisschollen getragen, als wäre er ein Opfer – dabei ist er der Assistent des dämonischen Prinzips, das Udo Kier darstellt.

„Nagt an dir ein Gedanke – denk ihn weg“ mahnt eine Schrifttafel, Max Stirner zitierend, und die nächste: „… oder leide“. Und: „Zerstören wir nicht den Gedanken, so zerstört der Gedanke uns“, auch: „Der Vater verließ den Ort und ließ den Sohn im Stich, um dessen Glück zu treffen und jenen Kuss zu spüren, den man den Kuss der Freiheit nennt, der das Leben löscht, die Seele aber niederbrennt“: Gesprochen von einer bedeutungsvoll hallenden Erzählerstimme, die allein durch ihren Klang jedem Satz, jedem Wort den Anfangsverdacht von Sinn zuweist.
Oder der Rat des Rechtsgelehrten: „Daher bin ich der festen Überzeugung, dass jeder Kindermord, jede Vergewaltigung und jede Art von Nekrophilie zur Stabilisierung von Gesellschaftsformen führt, deren Ziel es ist, die Wirklichkeit zu erkämpfen oder notfalls dafür zu sterben.“
Oder die abrupt aufscheinenden Kapitelüberschriften: „Der Versuch, die Ordnung zu finden“, „Der Versuch, die Realität zu vergessen“, „Der Versuch zu kämpfen“, „Das Recht zu siegen“, „Der Wunsch nach Versöhnung“. Unterteilungen, die nur sporadisch vom Inhalt verifiziert werden können, denn eine Handlung gibt es kaum, nur assoziativ aufgebaute Bilder und Bilderfolgen, Töne, Geräusche, Worte und Dialog, die sich so anhören, als hätten sie etwas zu sagen. Der hier verkündete kategorische Imperativ zum Beispiel: „Handle, wie dir dein Dämon vorschreibt“. Hier mischen sich Immanuel Kant und Aleister Crowley zu einem Befehl, der die Individualität vorschreibt, an sich schon ein Paradox – und offenbar pure Ironie, wendet sich doch demgegenüber der Titel des Films in seiner Aussage gegen die Egomanie der Menschheit. Nach diesem kategorischen Imperativ schlingensiefscher Art frisst Udo Kier ein Baby, während Hexen kreischen und auf dem Soundtrack Helge Schneider singt.

Es ist dies eines der Grundprinzipien der Filme von Schlingensief: Dinge zeigen, die man auch so meinen könnte – die aber genausogut Ironie oder ganz und gar niederer Blödsinn sein können. Die Aphorismen, die das Grundskelett des Films ausmachen, sind allesamt volltönend – und vielleicht innerlich vollkommen leer. Manchmal wird der Film zu purem Kitsch, um dann wieder die orgiastische Degeneriertheit seiner Figuren herauszustellen und wieder in die symbolischen (oder zumindest pseudosymbolischen) Manierismen des bedeutungsvollen Experimentalfilmes zu verfallen.
Und doch schält sich hinter der glänzenden, bedeutungsvoll erscheinenden und doch wie eine falsche Fährte wirkenden Oberflächenschicht auch in „Egomania“ eine Thematik des Generationenkonfliktes heraus, in dem die Liebe der Jungen die Eifersucht der Alten auslöst, in denen das Prinzip Mutter und das Prinzip Vater zu Hexe und Teufel werden, die die jungen Liebenden wieder vereinnahmen in ihre Gesellschaftsordnung – oder verstoßen. Verführung und Gewalt sind die Mittel, die eigenen Denkstrukturen anderen aufzudrücken, ein Liebespaar zu trennen und damit den Status Quo des kontinuierlichen Niedergangs aufrechtzuerhalten. Am Ende gehen Udo Kier und Tilda Swinton, der Vereinnahmende und die Ausgebrochene, gemeinsam auf den rotgetränkten Sonnenuntergang zu: „Ein anderes Weltende wird es nicht geben.“


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